Meister Eckhart unseres Jahrhunderts

Zum 150. Geburtstag von Michael Bauer (1871–1929)


In seinen Erinnerungen an Rudolf Steiner schrieb der russische Symbolist und Anthroposoph Andrej Belyj an einer Stelle: «Seit 1915 wurde mir das Glück zuteil, Michael Bauer näher kennenzulernen, ihn besuchen und ihn um Rat fragen zu dürfen; und obwohl ich damals den Doktor aufsuchen konnte, muss ich gestehen: die Ratschläge Bauers, die Gespräche mit ihm, sein weisheitsvolles, unauslotbar tiefes Wort, das manchmal die Form des fast derben, ‹gepfefferten› Volksspruchs annahm, aber innere Wärme und Güte ausstrahlte – das alles war unersetzlich; das, was ich von Bauer empfing, konnte selbst der Doktor mir nicht geben: ich meine die typische, individuelle Bauer’sche ‹Tonalität›; sie könnte etwa so charakterisiert werden: Wenn Meister Eckhart dem Doktor begegnen würde und sich von ihm überzeugen ließe, dass der Rhythmus der Zeit nach anthroposophischer Ausgestaltung des Eckhart’schen Anliegens verlange, dann würde Eckhart, ohne sich selbst aufzugeben, Michael Bauer sein.»1

Meister Eckhart unseres Jahrhunderts –
Ich erinnere mich, wie du von Arlesheim nach Dornach
An uns vorbei: in einer Zeit der Erschütterungen
Kamst, verneigend dich in Blumen und in Dornen […]2

Andrej Belyjs bemerkenswertes Zeugnis über den Volksschullehrer, Anthroposophie- und Hegelkenner, den gelehrten Esoteriker Michael Bauer steht keinesfalls allein; Bauer, der heute – bis auf seine Geschichten für Kinder – wenig genannt und zitiert wird, war einer der herausragenden Mitarbeiter Rudolf Steiners und der wahrscheinlich spirituell reifste und eigenständigste unter ihnen.3 Friedrich Rittelmeyer, der durch Bauer zur Anthroposophie fand und später erster Erzoberlenker der Christengemeinschaft wurde, schrieb über seine ersten Eindrücke von ihm im Jahre 1911: «Eine hohe, schlanke Erscheinung mit einem länglichen, dunkelbärtigen, überraschend durchgeistigten Gesicht, konnte er für einen indischen Meister gelten, der mitten in den europäischen Großstädten umherwandelte. Ich habe von Menschen gehört, denen es ein Lebensereignis war, wenn sie nur, an seinem Garten vorübergehend, den unbekannten hohen Mann zwischen seinen Blumen sich bewegen sahen. Der stärkste Eindruck aber ging von seinen Augen aus. […] Da leuchtete das Christuslicht in die Welt hinein.»4 Nach Rudolf Steiner habe ihn kein Mensch mehr «einfach durch seine Existenz so sehr von der Realität der geistigen Welt überzeugt» wie Michael Bauer, bekannte auch Rittelmeyers tiefgründiger Kollege Eduard Lenz.

Dabei erlebten die meisten Anthroposophen und Anthroposophinnen Michael Bauer als einen von einer schweren Tuberkuloseerkrankung gezeichneten Menschen. Er musste seine geliebte pädagogische Arbeit aufgeben, gehörte jedoch noch bis 1921 dem Zentralvorstand der Anthroposophischen Gesellschaft an. Bei seiner Verabschiedung wurde er im Rollstuhl in den Stuttgarter Saal hereingefahren und von Rudolf Steiner mit ‹ehrfürchtiger Verneigung› begrüßt. Bauers kaum mehr vernehmbare Ansprache war um das Vertrauen zwischen den Menschen in der Anthroposophischen Gesellschaft zentriert, und das «gemeinsame Geistige, das in die Herzen der Menschen gelegt ist» – gerade auch angesichts des ‹harten Kampfes›, in dem diese Gesellschaft Anfang der 1920er-Jahre stand, nach der Eröffnung der Freien Waldorfschule und des Goetheanum als einer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, den Attacken von Hitler und Rosenberg, von rechtsradikal-völkischen, rassistischen und antisemitischen, aber auch klerikalen Kreisen.5 «Glauben Sie doch, dass wir in einem ebenso harten Kampf darinnen stehen, wie ihn die Tempelritter vielfach zu bestehen hatten! Und wir sollten uns mit derselben Treue und mit vollem Bewusstsein in den Kampf stellen.» (Bauer6)

Gegenwartsbewusstsein

Michael Bauer war ein genuiner Esoteriker. Er war jedoch alles andere als ‹weltfern›, sondern verfügte über ein erstaunliches Gegenwarts- und Krisenbewusstsein, unterstützte mit allem Nachdruck die jungen Anthroposophen, die sich 1919 für die soziale Dreigliederung engagierten, und erhoffte sich viel mehr zivilisatorische Aktivitäten und weniger Binnenorientierung von der Anthroposophischen Gesellschaft, mehr soziale Einsatzbereitschaft. «Immer klarer wird mir, dass der Mystiker leicht der Versuchung erliegt, den Zeitprozess zu gering zu achten […]. Christi Eintritt in die Zeit ist von den wenigsten genug gewürdigt.»7 Die spirituelle Selbsterziehung, die Bauer als eine Schulung durch das Selbst verstand («Das Selbst bildet seine Organe, um wahrzunehmen, um tätig zu sein.»8), sah er als Aufwachprozess für die menschliche Gesamtsituation, für das menschliche Eigenwesen und seine Verantwortung für die Um- und Mitwelt, damit auch für die Schöpfung. Bauer wollte wirken, konnte jedoch nur noch sehr eingeschränkt äußerlich tätig sein, was ihn bedrückte. «Ich geniere mich manchmal, meinen Vornamen auszuschreiben», teilte er Friedrich Rittelmeyer mit9 – und war doch ‹michaelischer› gestimmt als viele seiner Freude in den anthroposophischen Zusammenhängen. «Es ist geradezu ein Wunder, dass Michael Bauer bei dieser schweren organischen Erkrankung überhaupt noch am Leben ist. Dies ist nur seiner starken geistigen Kraft zuzuschreiben», betonte Rudolf Steiner.10 Am Ende sollte Bauer Steiner um mehr als vier Jahre überleben. Die Begegnung mit seiner besonderen Gestalt, seinem Wesen und seiner Lebenshaltung war noch für seinen letztbehandelnden Arzt, den berühmten Schriftsteller und Mediziner Hans Carossa, ein Erlebnis. Carossa, der stets aus München zu dem bettlägerigen Bauer nach Breitbrunn am Ammersee anreiste, hatte Mühe mit Anthroposophen, mit Menschen, die seiner Erfahrung nach «einzig auf Rudolf Steiner schwuren, alles andere mit grenzenloser Verachtung ablehnten, stets von Konzentrationsübungen sprachen, im Übrigen aber sich in ihrem Verhalten und Handeln nicht von den übrigen Leuten unterschieden»11. Seinen Patienten aber nahm Carossa von diesem Gruppe aus – «Nie ist mir ein gütigerer weiserer Mann begegnet als Michael Bauer, der im höchsten Sinn des Wortes zerfallend Strahlen aussandte.»12 Bauer sei ein ‹Heilender› gewesen, «der, ohne es zu wissen, seinen Arzt behandelte und ihm half»13. Wenig spricht dafür, dass Hans Carossa seine unguten Erfahrungen mit schwierigen Anthroposophen mit dem schon schwerkranken Bauer besprach, der bereits 1905 im Vorstand der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft mitgearbeitet hatte und von Beginn an (ab Februar 1913) in dem der Anthroposophischen Gesellschaft, zusammen mit Marie von Sivers und Carl Unger. Vielleicht hätte er Carossa auf eine entsprechende Kritik wie in einem frühen Brief geantwortet: «Sie [die Theosophen] haben Eigenheiten, das ist wahr. Aber seien Sie gerecht. Sie waren die einzigen Menschen, die anfangs Rudolf Steiner überhaupt anhören wollten.»14

Michael Bauer in München, 1907, Quelle: Rudolf-Steiner-Archiv Dornach

Zauberschlüssel

Bauer hatte sich seit 1902 mit seiner Nürnberger Arbeitsgruppe am Aufbau der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft beteiligt. Auf Bitten Rudolf Steiners hielt er auch früh überregionale Vorträge und setzte sich für das Bekanntwerden der anthroposophischen Geisteswissenschaft ein, auch in der Schweiz – lange Jahre vor dem Bau des Goetheanum. Verschiedene Schilderungen der besonderen Qualität seiner Vorträge sind erhalten, so von Friedrich Rittelmeyer, Albert Steffen und Andrej Belyj. «Eine Taufe zum Menschen erlebte man, noch ganz abgesehen von dem, was als Inhalt durch die Seele zog. Lange wirkte es wohltätig nach im Leben, dass man in einem rein menschlichen Element gelebt hatte. Wie mit einem Zauberschlüssel wurde man aufgeschlossen für alles, was Menschsein ist.» (Rittelmeyer15) «Er sprach nur das aus, was er sich durch innere Arbeit selbst zu eigen gemacht hatte. Er war am Ende seiner Rede ein anderer als am Anfang, und demgemäß wurden auch die Zuhörer verwandelt. Sie sahen sich vor eine Entscheidung gestellt. Entweder nahmen sie sich selbst in die Hand oder sie ließen sich fallen. Michael Bauer sprach immer dergestalt, dass die Freiheit der Zuhörer bewahrt blieb. Er wirkte durch sein reines Vorbild.» (Steffen16) «Mancher seiner Vorträge lebt in meinem Gedächtnis neben den besten, den stärksten Vorträgen Steiners.» (Belyj17). Bauer blieb jedoch stets selbstkritisch: «Wo uns die Demut verlässt, sind wir von Gott verlassen. Man darf sich freuen, wenn andere sagen, es sei gut gewesen – vorausgesetzt, dass man diesen andern ein Urteil zutrauen darf; manches Lob ist ein Tadel in Wahrheit –, aber man muss sich nicht einbilden, es angesichts der ungeheuren Not ringsum gut genug und angesichts der unabsehbaren Tiefe der Welt klug genug gemacht zu haben.»18 Er engagierte sich bereits 1914 für die Verbreitung der Schrift von Eugène Lévy ‹Rudolf Steiners Weltanschauung und ihre Gegner› und sorgte sich um das Ansehen der Anthroposophie in der Öffentlichkeit.19 Er konnte auch selbst hervorragend schreiben. 1921 steuerte er nicht nur den zentralen Beitrag ‹Rudolf Steiner und die Pädagogik› in einem Sammelband zum 60. Geburtstag des Anthroposophie-Begründers bei, sondern veröffentlichte seinen großen Aufsatz ‹Geheimschulung nach Rudolf Steiner› in Eugen Diederichs weit verbreiteter ‹Tat›-Zeitschrift. Wer außer ihm wäre zu einer solchen, überaus eigenständigen und spirituell profunden Darstellung damals in der Lage gewesen? In seiner Vorbemerkung formulierte er: «Steiner hat innerhalb seiner überlegen planvollen Lebensarbeit den Weg zu den übersinnlichen Welten wiederholt eingehend beschrieben; vor allem in den Büchern ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› und ‹Die Geheimwissenschaft im Umriss›. Es kann dem Schüler nicht einfallen, die Mitteilungen des Lehrers darüber irgendwie ergänzen zu wollen. Da die Wirkungen der Schulung aber vielfach wenn nicht gar bezweifelt, so doch verkannt werden, mag es wohl hingehen, wenn ich, der ich ein Stück des inneren Weges überschauen gelernt habe, das Wort ergreife. Ich stütze mich in den nachfolgenden Ausführungen bewusst nur auf meine eigenen Erlebnisse und werde dadurch vielleicht etwas einseitig darstellen. Aber wenigstens werde ich nicht aus Vorurteil, sondern aus langjähriger Erfahrung reden.»20

Tor zur Anthroposophie

Michael Bauer liebte die anthroposophische Geisteswissenschaft und Spiritualität, die er solchermaßen öffentlich vertrat, und wurde für viele Menschen zum Tor der Anthroposophie, aber auch zu einem fortwährenden geistigen Begleiter. Nicht nur Friedrich Rittelmeyer, Christian Morgenstern und Andrej Belyj half er entscheidend weiter mit seinem Rat und seiner Unterstützung, sondern auch zahlreichen anderen bekannten und unbekannten Anthroposophen oder Anthroposophie-suchenden Menschen. «Der Geisteston seiner Aussagen war so, dass das Schämen vor Hegel und Fichte aufhörte», schrieb Rittelmeyer, dem die Theosophen verdächtig gewesen waren.21 «An der Stelle, wo ich die ersten schweren Anstöße an der Geisteswissenschaft zu überwinden hatte, stand, vom Schicksal vorgesehen, Michael Bauer wie ein an einer Unfallstelle aufgestellter guter Engel.»22 Wie kundig Bauer in Fragen der meditativen Praxis war, beleuchtet eine Erinnerung des russischen Schauspielers Michail Tschechov: «Einst gab er mir eine Meditation. Dann schloss er auf eine halbe Minute die Augen, um das mir gegebene Bild nachzuprüfen. Und in diesem Augenblicke – beim Anschauen seines Antlitzes – ging mir etwas auf von den Möglichkeiten des Meditierens, etwas, was ich vor diesem glücklichen Augenblick noch nicht hatte verstehen können. – Einmal, als ich Schwierigkeiten hatte mit den Übungen, die er mir gegeben – da erhielt ich ganz unerwartet und so zur rechten Zeit von ihm ein Zettelchen, das gerade auf diese Schwierigkeiten erklärend und ratend einging. – Und wie ich eines Morgens zu ihm komme und ihm meinen Traum erzähle, da sagte er zu mir: ‹Das ist ja genau dasselbe, was ich für Sie ausgedacht hatte, was ich Ihnen habe geben wollen.› – Ein andermal, gleichfalls im Hinblick auf ein Traumerlebnis von mir, äußerte er: ‹Ja, aber das Bild muss noch verstärkt werden›, und dann fügte er das hinzu, was meinem Traum noch gefehlt hatte. – Wo, wo sind die Grenzen der Liebe und der Sorge für die Menschen bei Michael Bauer?»23

Grenzenlosigkeit

Von ‹Grenzen der Liebe› wollte Bauer ebenso wenig etwas wissen wie Rudolf Steiner; vielmehr suchte er die Quelle der Liebeskräfte und fand sie nicht zuletzt im esoterischen Leben: «Wenn der Esoteriker den rechten Pfad geht, der ihn erst innerlich aufrichtet, selbständig macht, fortschreitend macht – dann wird er bald erfahren, dass ihm die Kraft zu diesem Wachstum zufloss als Liebe. Ströme der Liebe rinnen durch die Hierarchien herab in die Herzen der Menschen. Und bald wird zu dieser Erfahrung der Wunsch und Wille kommen, weiterzuleiten diesen segnenden Strom. In anderen Worten: Der Esoteriker erfährt, dass seine Fähigkeit, zu lieben, rein selbstlos zu lieben, größer und größer wird. Seine Selbständigkeit hat ihn nicht heraus-, nicht abseitsgestellt, nicht getrennt von den übrigen Menschen, sondern in neuer Art verbunden durch göttliche Liebe. Und das ist das Wunderbare seines Lebens; Gott ist nicht an einem bestimmten abgegrenzten Ort der Welt.»24 Hierin – und in manchem anderen – hätte sich Michael Bauer glänzend mit Martin Buber verstanden, wenn sie sich begegnet wären; Bubers ablehnendes Urteil über die Anthroposophie wäre danach sehr wahrscheinlich anders ausgefallen.25 Nicht an allen »Unfallstellen» (Rittelmeyer) konnte Bauer wie ein guter Engel stehen; aber er begleitete die Priester der Christengemeinschaft und die Lehrer der Waldorfschule auf ihrem schwierigen Weg in den ersten Jahren nach der Gründung. «Rudolf Steiner selbst wies uns an ihn und ihn an uns», betonte Rittelmeyer für die Priesterschaft.26 Ihr vorbereitendes Treffen vor der Gründung in Dornach hatten sie im Sommer 1922 drei Wochen lang in Breitbrunn abgehalten. Bauer führte Einzelgespräche mit allen Teilnehmenden, bekam jeden Tag einen Bericht über die Ereignisse und Gespräche und sprach zu ihnen über Meditation. «Der weltbesiegende Friede eines Menschen, der nur noch aus Gnade lebt, war um ihn.» (Alfred Heidenreich27) Aber auch die Lehrer der gerade gegründeten Waldorfschule in Stuttgart kamen zu Bauer und erbaten seinen Rat. Er, der wohl begabteste Pädagoge in den Reihen der Anthroposophischen Gesellschaft, interessierte sich für alle Einzelheiten der Schule – und er nahm diese Aufgabe der Lehrerbegleitung nach dem Tod Rudolf Steiners in gewisser Weise stellvertretend für diesen wahr. Bereits in Nürnberg hatten Kinder am Morgen auf der Straße auf ihn gewartet, dass er ihnen eine Geschichte erzählte. «Wie sollte das Neue, das den Fortschritt bedeutet, zur Wirklichkeit werden ohne die Fantasie? Sie ist es, die die Wege zeigt, welche noch niemand gegangen. Aus der Erinnerung kann der Weg zum Neuen nicht kommen. Und das reine Denken entbehrt der Sinnlichkeit. Die Fantasie schlägt da ihre Regenbogenbrücke vom Himmel des reinsten Erkennens zum Erdboden der Verwirklichung. Wer aber wüsste für die Übung der Fantasie etwas Besseres als das Erzählen von dem, ‹das sich nie und nirgends hat begeben›.»28

Die Not als Maß

Sehr gerne hätte Michael Bauer auch der Anthroposophischen Gesellschaft und ihrem Dornacher Zentrum nach dem Tod Rudolf Steiners weitergeholfen. Ihre internen Streitigkeiten hielt er für eine Katastrophe und eine folgenreiche Abirrung von den eigentlichen Aufgaben – in der Welt und im Innern des Goetheanum und seiner Gesellschaft. Er, der, so Rittelmeyer, nie bereit war, «sich von irgendeinem Menschen überwältigen zu lassen, und wäre es der Größte», und selbst Rudolf Steiner gegenüber «in schöner Freiheit» lebte,29 sah die Anthroposophische Gesellschaft im April 1925 vor neuen Aufgaben stehend. «Unser Lehrer hinterließ uns sein Werk. Wie verhalten wir uns, dass es besteht und weiter wächst?»30 Bauer sprach von einem ‹unerworbenen Erbe› und versuchte, durch eine Aufsatzreihe, die er im Nachrichtenblatt der Wochenschrift in rascher Folge publizieren wollte (was ihm redaktionell nicht gelang), Anregungen für eine aktive anthroposophische Rezeption zu liefern, die noch nahezu 100 Jahre später wenig von ihrer Relevanz verloren haben.31 Bauer wollte das ‹Schülerverhältnis› zu Rudolf Steiner und der Anthroposophie lebendig halten und zugleich dafür Sorge tragen, dass das Werk des Lehrers nicht durch Dogmatismus geschädigt werde, «es rein und unverfälscht zu bewahren und wirken zu lassen»32. Er beschrieb die Aufgabe, «das Werk in unserem Bewusstsein ständig zu konfrontieren mit der furchtbaren Not der Zeit»; dadurch bleibe es lebendig und wandle sich nach den jeweiligen Bedürfnissen. Auch der Rezipient bleibe dabei lebendig: «So aber erhält es auch uns selbst lebendig und im Fluss und stärkt und vertieft unsern Ernst und unser Verantwortungsgefühl im Hinblick auf die Aufgaben, die der Zeitgeist an uns stellt.»33 Zu den notwendigen Gesellschaftsaufgaben rechnete Bauer 1925 auch die Beseitigung ‹entmutigender Vorurteile› und des ‹Aberglaubens über den Menschen Steiner› in der Öffentlichkeit, der suchenden Seelen im Wege stehe und die Zukunft der Anthroposophie und ihrer Gesellschaft verhindere. Dem wollte Bauer rechtzeitig entgegentreten: «Mochten viele der älteren Generation das Werk Steiners gesucht haben, weil sie selbst mit der Last ihres Lebens nicht fertig zu werden vermochten oder auf anderen Wegen keine Befriedigung fanden –: jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, sein Werk in freiem Entschluss für andere Suchende, Sehnende im Hinblick auf die große Not unserer Zeit fortzuführen und hinauszutragen.»34

Der Weg ist das Ziel

Vieles werde, so Bauer, davon abhängen, ob nachfragenden Menschen die Anthroposophie «ohne jede seichte Lehrhaftigkeit» vermittelt werde. «Durch die Worte eines jeden, der ihnen Anthroposophie bringt, sollten sie hindurchhören, dass einer spricht, der selber als neuer Mensch ein Stück unterwegs ist.»35 Das Höchste und Innerlichste von Steiners Werk bleibe der gewiesene Weg, der weiter begangen werde müsse. Michael Bauer war ein Kenner und Apologet dieser spirituellen Schulung, der ‹esoterischen Schule des Goetheanum› – und er plädierte nach Rudolf Steiners Tod auch für ein innerliches, esoterisches Verhältnis zu den anthroposophischen Erkenntnissen selbst («seine [Steiners] Gedanken sind wie Samenkörner, die aufgehen wollen»36), ein esoterisches Verhältnis, das von großer Wahrhaftigkeit und einer elementaren Erkenntnissehnsucht bestimmt werden müsse. «Man kann natürlich einwenden, niemand unterziehe sich der Anstrengung, Anthroposophie zu studieren, ohne Fragestellung in sich. Wahr ist aber, dass es verschiedene Grade des Verstehens gibt und dass ein esoterisches Verhältnis zu den Erkenntnissen nur aufkommt, wenn etwas wie eine Erkenntnissehnsucht, ein Erkenntnisfernweh aus Herzensnot unsere Studien betreibt.»37

Michael Bauer konnte sich damit nach dem 30. März 1925, inmitten der Dornacher Großkrisen und der zeitgenössischen Umstände, nur bedingt verständlich und geltend machen. Heute jedoch können seine Worte erneut gehört und wirksam werden – seine Worte, Gedanken und seine gesamte geistige Gestalt. «Jeder Zuwachs im Leben der Seele ist ein Abbruch im Lager des Materialismus.»38 Über seinen geistigen Lehrer Rudolf Steiner schrieb Bauer einmal: «Was ihn von allen Menschen unserer Zeit unterschied, war die Art, wie er zu Leben und Welt stand. Er hatte nicht bloß eine andere Auffassung vom Menschen und seiner Bestimmung, er war ein anderer Mensch. Er war in fortwährender Verwandlung begriffen insofern, als der immer größer werdende Umkreis seiner Erkenntnisse wie ein werdendes Licht das Wirkensfeld erweiterte. Immer klarer sah er den Menschen auf einem Entwicklungspunkt, wo nur sein Wille noch eine günstige Wendung schaffen konnte. Auch die Erkenntnis sah er von diesem Willen abhängig. Sein Werk wurde schließlich eine einzigartige Anstrengung zur Ermutigung des Menschen.»39


Buch Peter Selg, Michael Bauer, Ein Mitarbeiter Rudolf Steiner. Verlag am Goetheanum. Dornach 2021.

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Footnotes

  1. Andrej Belyj, Verwandeln des Lebens. Basel 1977, S. 170.
  2. Zit. n. Christoph Rau, Michael Bauer. Sein Leben und seine Begegnung mit Friedrich Rittelmeyer. Dornach 1995, S. 69.
  3. Vgl. Peter Selg, Michael Bauer. Ein Mitarbeiter Rudolf Steiners. Dornach 2021.
  4. Friedrich Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner. Stuttgart 1983, S. 15 f.
  5. Vgl. Peter Selg, Die Eröffnung des Goetheanum und die Diffamierung der Anthroposophie. Dornach und Arlesheim 2021.
  6. Zit. n. Christoph Rau, a. a. O., S. 55 f.
  7. Michael Bauer an Helga Geelmuyden, 24.1.1921. In: Michael Bauer, Gesammelte Werke. Hg. v. Christoph Rau. Stuttgart 1985–1997, Band 5, S. 81.
  8. Michael Bauer, a. a. O., Band 4, S. 43.
  9. Michael Bauer, a. a. O., Band 5, S. 168.
  10. Zit. n. Margareta Morgenstern, Michael Bauer. Ein Bürger beider Welten. Stuttgart 1950, S. 151.
  11. Zit. n. Christoph Rau, a. a. O., S. 102.
  12. Zit. n. Margareta Morgenstern, a. a. O., S. 171.
  13. Zit. n. Christoph Rau, a. a. O., S. 106.
  14. Ebd., S. 206.
  15.  Friedrich Rittelmeyer, Aus meinem Leben. Stuttgart 1937, S. 330.
  16. Zit. n. Margareta Morgenstern, a. a. O., S. 116.
  17. Andrej Belyj, a. a. O., S. 232.
  18. Michael Bauer, a. a. O., Band 5, S. 90 f.
  19. Vgl. Peter Selg, Michael Bauer, a. a. O., S. 183 f.
  20. Michael Bauer, a. a. O., Band 2, S. 303.
  21. Friedrich Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung …, a. a. O., S. 21.
  22. Friedrich Rittelmeyer, Aus meinem Leben, a. a. O., S. 338.
  23.  In: Kurt von Wistinghausen (Hg.), Michael Bauer. Menschentum und Freiheit. Stuttgart 1971, S. 219.
  24. Michael Bauer, a. a. O., Band 2, S. 333.
  25. Vgl. Gerhard Wehr, ‹Was sollen uns, wenn sie es gibt, die oberen Welten?› Martin Bubers Missverstehen der Anthroposophie – aus der Sicht Hugo Bergmanns und Albert Steffens. In: Ralf Sonnenberg (Hg.), Anthroposophie und Judentum. Frankfurt a. M. 2009, S. 129–139.
  26.  Friedrich Rittelmeyer, Michael Bauer als Mensch. In: Die Christengemeinschaft. 1929, S. 107.
  27. Zit. n. Christoph Rau, a. a. O., S. 87.
  28. Michael Bauer, a. a. O., Band 2, S. 49 f.
  29. Friedrich Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung …, a. a. O., S. 16.
  30. Michael Bauer, a. a. O., Band 2, S. 324.
  31. Vgl. Peter Selg, Michael Bauer, a. a. O., S. 115 ff.
  32. Michael Bauer, a. a. O., Band 2, S. 325.
  33. Michael Bauer, a. a. O., Band 4, S. 179.
  34. Ebd., S. 180.
  35. Michael Bauer, a. a. O., Band 2, S. 315.
  36. Ebd., S. 326.
  37. Michael Bauer, a. a. O., Band 4, S. 201.
  38. Ebd., S. 204.
  39. Ebd., S. 178.

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