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Mehr Anthroposophie! Die Wissenschaftsform der Anthroposophie stärken

Welche Beziehung hat die Anthroposophie zu ihren Lebens- und Arbeitsfeldern, insbesondere zur Waldorfpädagogik? Wie kann sie mit wissenschaftlichem Anspruch gepflegt, weiterentwickelt und gestärkt werden, damit sie in die Praxis belebend einfließen kann? Bezogen auf diese Fragestellungen führte Louis Defèche ein Gespräch mit dem Waldorfpädagogen und Erziehungswissenschaftler Jost Schieren.


Rudolf Steiner sagt explizit, dass in der Waldorfschule keine Weltanschauung gelehrt werden soll. Kritiker der Waldorfpädagogik bezweifeln dies. Wie lässt sich die Beziehung zwischen Anthroposophie und Waldorfpädagogik beschreiben?

Jost Schieren Rudolf Steiner hat 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, einen großen Schritt vollzogen. Man kann sich fragen: Was wäre gewesen, wenn Steiner nur bis 1918 gelebt und gewirkt hätte? Dann läge das reiche Werk der Anthroposophie vor, aber Rudolf Steiner wäre in der Gegenwart nur als Literat und Esoteriker – beispielsweise wie Helena Blavatksy – wahrnehmbar. Der Schritt, den Steiner um 1918 herum vollzogen hat, besteht nicht nur in der Entwicklung der Lebensfelder (Waldorfpädagogik, Medizin, Landwirtschaft), sondern auch darin, dass fortan die Anthroposophie selbst anders behandelt worden ist.

Die Kritiker der Waldorfpädagogik werfen Rudolf Steiner vor, er habe Waldorfpädagogik als eine Art Missionsinstrument der Anthroposophie betrieben. Aus diesem missionarischen Eifer heraus hat ja auch die katholische Kirche Schulen gegründet, um das Christentum zu verbreiten. Darin wird im Prinzip nichts Negatives gesehen, sondern es ist ein selbstverständliches Vorgehen eines Missionsgeistes. Konfessionsgebundene Schulen dienen dem Zweck der religiösen Erziehung, demokratische Schulen dem Zweck der Demokratieerziehung usw. Ebenso geht man davon aus, dass Waldorfschulen dem Zweck der anthroposophischen Erziehung dienen. Rudolf Steiner hat aber jegliche anthroposophisch-weltanschauliche Beeinflussung der Waldorfpädagogik ausschließen wollen. Er wollte keine ‹Anthroposophenschule› gründen. Ihm ging es nicht darum, Anthroposophie in die Schule zu tragen, sondern es ist eher umgekehrt. Anthroposophie soll helfen, eine gute Pädagogik zu schaffen. Sie muss sich dabei bewähren, sie muss zeigen, ob sie fruchtbar ist. Anthroposophie hat dabei keinen Selbstwert. Erst wenn Anthroposophie hilft, eine gute Schule zu schaffen, erst dann hat sie einen Wert. Sie wird damit also zu einer Art Werkzeug, um eine gute Schule zu machen. Das Werkzeug hat keinen Selbstzweck, sondern ist Mittel zum Zweck. Nun hat jeder Handwerker im Prinzip Vertrauen in sein Werkzeug. Aber wenn die Anthroposophie nicht dazu taugt, eine gute Schule zu schaffen, dann hat sie in dieser Hinsicht keinen Wert. Das ist die neue Herausforderung, die Rudolf Steiner geschaffen hat: Anthroposophie als Werkzeug (Methode) zu begreifen und nicht als Selbstzweck. Ähnlich hat es ja auch Lessing in der ‹Ringparabel› mit Bezug auf die Religionsfrage dargelegt.

Spiritualität des Denkprozesses

Inwiefern kann dieses Werkzeug wissenschaftlich ernst genommen und nicht bloß als Dogma aufgefasst werden? Die Anthroposophie wird von außen ja öfter als dogmatisch oder unwissenschaftlich angesehen. Wie kommen diese Beurteilungen zustande?

Schieren Rudolf Steiner spricht von der Anthroposophie als einer Geistes-‹Wissenschaft› und erachtet den Wissenschaftsimpuls als den tragfähigen Impuls der Gegenwart. Er wollte nicht hinter die wissenschaftliche Bewusstseinsform der Gegenwart zurückfallen, sondern darauf aufbauend seine Geisteswissenschaft entwickeln. Was das Konzept Steiners heute so schwierig macht, ist, dass die Bewusstseinsform der Gegenwart in der Schärfe, wie wir sie heute haben, in der Aufklärung entwickelt wurde. Damals wurde der Mensch als ‹animal rationale›, als vernunftbegabtes Tier betrachtet. Der Mensch wurde mit seiner Rationalität identifiziert. Und mit diesem rational begründeten Wissenschaftsbegriff ist zugleich eine Säkularisierung der Spiritualität vorgenommen worden. Man hat die Freiheit und Autonomie der Vernunft gegen die Spiritualität gesetzt, die in ihren damaligen Repräsentanten, den Kirchen, immer in Verbindung mit Unterdrückung und Macht gesehen worden ist. Damit hat man ein Freiheitsbewusstsein, ein Individualbewusstsein emanzipiert und entwickelt, was bis heute das Idealbild gegenwärtiger Wissenschaft ist. Der Mensch wurde dadurch allerdings zugleich isoliert und sozusagen subjektiviert und in eine dualistische Position gegenüber der Umwelt gebracht. Man schuf einen Bildungsbegriff, der den Menschen von der Natur, von der Welt, vom Kosmos isoliert begreift. Jetzt kommt Steiner, der diese zwei Pole, Freiheit und Spiritualität, die in der Aufklärung auseinandergefallen sind, wiederum miteinander verbindet, allerdings auf Basis eines rationalen Bewusstseins, ohne vor die Zeit der Aufklärung zurückzufallen. Das ist der Wissenschaftsansatz der Anthroposophie, der in der Gegenwart so wenig begriffen wird.

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Steiners zentrale Entdeckung ist die Geistfähigkeit, die esoterische Dimension und Spiritualität des Denkprozesses. Da knüpft er an Novalis an. Ein Denken, das in die Tiefe der Rationalität hineinleuchtet, kommt selbst zu etwas geistig Tragfähigem.

Steiners zentrale Entdeckung ist die Geistfähigkeit, die esoterische Dimension und Spiritualität des Denkprozesses. Da knüpft er an Novalis an. Ein Denken, das in die Tiefe der Rationalität hineinleuchtet, kommt selbst zu etwas geistig Tragfähigem. Diese Selbstbetrachtung des Denkens, die Steiner in der ‹Philosophie der Freiheit› seelische Beobachtung nennt, eröffnet eine neue Spiritualität, die eben nicht die Freiheit des Individuums negiert. Er entwickelt einen Freiheitsbegriff, bei dem Menschliches und Geistiges in ein freies Austauschverhältnis treten. Diese Art Wissenschaftlichkeit, die aus der Individualität hervorgeht und diese nicht negiert, ist weder bei Anthroposophen noch bei Kritikern genügend sichtbar gemacht worden in den letzten 100 Jahren. Der tiefe Humanismus der Anthroposophie ist in die Lebensfelder eingebunden worden: in die Waldorfpädagogik, in die Landwirtschaft, in die Medizin. Dies ist ein großer zivilisatorischer Wert. Aber die Ursprünge der Anthroposophie, dass sie einen Wissenschaftsursprung hat, der in einer spirituell verstandenen Epistemologie ruht, dies ist nicht genügend sichtbar gemacht und ergriffen worden. Vielleicht liegt es daran, dass zu viele persönliche Gemütsbedürfnisse oder auch religiöse Bedürfnisse mit der Anthroposophie identifiziert worden sind. Wenn die Kritiker dies nun als Problem sehen, so müssen wir sagen: Ja, es ist ein Problem, weil wir uns bisher zu wenig um eine wissenschaftliche Vertretung der Anthroposophie bemüht haben.

Meinen Sie damit das ‹Akademische›?

Schieren Nein, das meine ich nicht, und auch keine Anpassung an den Zeitgeist, sondern ich meine eine Bewusstseinsform, die der Bewusstseinsform der Gegenwart entspricht, auf die Steiner sich selbst bezieht. Wenn er von etwas Michaelischem spricht, meint er eine Intelligenz, die sich spirituell verortet. Wir haben demgegenüber eine Intelligenz, die heimatlos geworden ist im akademischen Kontext.

Sie sagen, Steiner knüpft an Novalis an. Wie ist es mit Goethe? Können Sie dazu etwas sagen?

Schieren Goethe und Novalis sind wie zwei Säulen dieser neuen Spiritualität. Goethe ist derjenige, der eine Phänomenologie entwickelt hat, die im Blick auf die Sinneserscheinung, auf die Natur, auf die Weltbegegnung eine spirituelle Tiefendimension eröffnet. Novalis hat eine Phänomenologie nach innen entwickelt. Als ich über die spirituelle Dimension des Denkens sprach, habe ich mich auf Novalis bezogen. Wenn ich umgekehrt auf die spirituelle Dimension der Welt blicke, auf der Seite der Wahrnehmung, der Sinneserscheinung, so ist Goethe der Gewährsmann. Insofern ist die Verbindung beider Formen – einer Sinnesphänomenologie und einer Bewusstseinsphänomenologie – Steiners Entwurf der Anthroposophie. Aber dass das Denken eine magische Dimension hat, also Kraft und Inhalt zugleich ist, das ist durch Novalis sichtbar geworden und daran knüpft Steiner in der ‹Philosophie der Freiheit› systematisch an.

Ein bewusst etablierter Dialog

Die Anthroposophische Gesellschaft und die anthroposophische Bewegung werden immer wieder als Glaubensgemeinschaft wahrgenommen. Inwiefern stimmt das und wenn es stimmt, kann man da noch von Wissenschaftlichkeit sprechen?

Schieren Soziologisch betrachtet ist da vieles dran. Die Art, wie Anthroposophie vertreten wird, hatte zuweilen eher den Charakter einer Glaubensgemeinschaft. Da können wir froh sein, wenn wir von Kritikern immer wieder den Spiegel vorgehalten bekommen. Das hat sich allerdings meines Erachtens in den letzten 20 Jahren geändert. Das Wissenschaftsbewusstsein ist gestiegen. Es gibt Hochschulen, die mit Anthroposophie befasst sind. Es gibt Bachelor- und Masterstudiengänge, Promotionen, die mit Anthroposophie beschäftigt sind. Dadurch ist in der Öffentlichkeit die Wissenschaftsform der Anthroposophie sichtbarer geworden. Aber es muss in diesem Sinne noch einiges geleistet werden. Eine wissenschaftliche Vertretung der Anthroposophie ist in den letzten 100 Jahren im Kernkonzept des Goetheanum nicht verfolgt worden. Das Goetheanum ist nicht als Ort eines Wissenschaftsbewusstseins weiterentwickelt worden, weil man zum einen sehr mit den Lebensfeldern beschäftigt gewesen ist und die Praxis der Anthroposophie in der Welt sichtbar gemacht hat. Und auch, weil zum anderen mit der Freien Hochschule und den Klassenstunden das Goetheanum eher ein Ort der anthroposophisch-meditativen Vertiefung und natürlich mit der Bühne auch ein Ort der Kunst geworden ist. Dies hat alles eine große Berechtigung und einen hohen Wert, insofern ist das nicht kritisch gemeint. Aber das andere, die Wissenschaftsform der Anthroposophie, ist nicht genügend weiterentwickelt worden. Und ich glaube, das wird von der Außenwelt gespiegelt. Das kann man als positive Kritik aufnehmen, dass auch die Wissenschaftsform der Anthroposophie weiterentwickelt werden muss.

Dies betrifft die Beziehung des Einzelnen zum Werk Rudolf Steiners und zu seiner Forschung. Zudem gilt, dass es sich bei der Anthroposophie um eine Art ‹Ein-Mann-Wissenschaft› handelt, die ganz und gar an die Person Rudolf Steiners geknüpft ist. Dies erscheint aus der Sicht der gegenwärtigen Wissenschaft problematisch. Wie lässt sich für die Zukunft eine wissenschaftlich fundierte Anthroposophie denken?

Schieren Das Werk Rudolf Steiners ist historisch betrachtet tatsächlich singulär. Das muss man auch aus gewöhnlicher Wissenschaftsperspektive zugestehen. Es gibt kein vergleichbares Werk und es hat keine Persönlichkeit gegeben, die in so vielen verschiedenen Lebensfeldern so authentische Leistungen hervorgebracht hat. Universalgenies gab es öfters, Leonardo und Goethe zum Beispiel, aber dass jemand Medizin und Landwirtschaft und Pädagogik in einem solchen Umfang weiter entwickelt hat mit tragfähigen Impulsen, die auch 100 Jahre danach noch bedeutsam sind, allein dies ist menschheitsgeschichtlich ein Event. Man muss die Singularität des Werkes Rudolf Steiners anerkennen, daran kommt man nicht vorbei. Das ist die eine Seite, die andere Seite besteht in der persönlichen Verbindung zu dem Werk und der Person Rudolf Steiners. Ich kann verstehen, wenn man als Anthroposoph in einer persönlichen Verbindung mit dem Werk und der Person Rudolf Steiners eine innere Bedeutsamkeit erfährt und dies für sich als biografisch tragfähig erlebt. Das geht mir auch so. Aber das Erfordernis eines wissenschaftlichen Bewusstseins ist es, jede Aussage Rudolf Steiners erst einmal nur als ‹These› unter verschiedenen hinzunehmen, sie kritisch zu betrachten und sie in einen breiten Reflexionskontext zu stellen. Dies ist der Schritt einer bewussten Verabständigung und Distanznahme, der auf der Basis eines wissenschaftlichen Bewusstseins, das nichts ungeprüft hinnehmen will, notwendig ist. Hinzu kommt die Herausforderung einer Reformulierung, das heißt, eine Sprache zu finden, die für die Gegenwart nachvollziehbar und verständlich ist. All diese Dinge sind zu wenig getan worden. Man hat zu häufig eine ehrfürchtige Haltung vor dem Monumentalwerk Steiners angenommen. So kann Wissenschaft nicht funktionieren. Wissenschaft bedeutet kleine Schritte und sicherlich auch Teamarbeit. Das heißt, es ist ein demokratischer Prozess, der da hineinkommt. Und es würde bedeuten, Steiner in einen Kontext mit anderen Denkmodellen zu stellen. Das hat Steiner selbst sehr proaktiv gemacht. Er hat seine philosophischen Werke und seine Ausarbeitungen immer auf seine Zeitgenossen und die relevante Forschung bezogen. Auch als er die Waldorfschule begründet hat, hat er zur Kenntnis genommen, welche anderen alternativen Schulversuche existierten. Er hat das, was er getan hat, zeitlich kontextualisiert und profiliert. Das müssen wir für unsere Zeit jetzt ebenso leisten. Für den Umgang mit der Waldorfpädagogik bedeutet dies, sich folgende Fragen zu stellen: Was sind die Kernkonzepte der Waldorfpädagogik? Wie kann ich sie formulieren? Wie stehen diese Konzepte im Verhältnis zur wissenschaftlichen Entwicklung der Gegenwart? Wie steht die Waldorfpädagogik als pädagogische Praxis im Verhältnis zu anderen Alternativschulmodellen oder -praktiken? Das heißt, ein bewusst etablierter Dialog gehört zum wissenschaftlichen Verständnis.

Gibt es nur Steiner als Geistesforscher oder gibt es viele Geistesforscher im Sinne der Anthroposophie?

Schieren Wenn man Anthroposophie als Methode nimmt und auf Basis dieser Methode arbeitet, kann man zu Ergebnissen kommen, die voll im Einklang mit dem Werk Steiners stehen, auch wenn sie vielleicht nicht in die Tiefendimension des steinerschen Erkennens hineinreichen. Dafür gibt es viele Beispiele: Weiterentwicklungen, Adaptionen, Neuentwicklungen, die ich durchaus als gültig erlebe. Die Waldorfpädagogik steht zum Beispiel heute an einer anderen Stelle, als sie vor 50 Jahren stand.

 


Léonard Veuthey, Ouverture et Agitation, Tusche auf Papier, 2018

Léonard Veuthey, Ouverture et Agitation, Tusche auf Papier, 2018

 

Nur individuell erfahrbar

Es gibt Landwirte, Pädagogen, Menschen, die durch diese Methode ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten entwickeln und deshalb auch Geistesforschungen an vielen Orten der Welt betreiben. Wie ist da Anthroposophie überprüfbar?

Schieren Der Begriff der Überprüfbarkeit ist ein wissenschaftliches Paradigma: Man benötigt für alles empirische Beweise und empirische Überprüfbarkeiten. Zum Teil entzieht sich Anthroposophie diesem Erkenntnismodus. Evidenz ist etwas, das da sein kann, ohne eine direkte empirische Überprüfbarkeit, und das trotzdem keine Glaubenssache ist. Manche Dinge sind beweisbar. Das ist in Naturwissenschaften sicherlich üblich und richtig. Aber es ist nicht für alles notwendig und richtig, von Beweisen zu sprechen. Wissenschaft ist auch die Etablierung einer wissenschaftlichen Bewusstseinsform, die nicht immer nur mit Beweisen arbeitet. In der akademischen Erziehungswissenschaft greifen die vorrangig ‹quantitativ› empirischen Methoden der Naturwissenschaft nur bedingt. Hier kommt eher eine ‹qualitativ› ausgerichtete Sozialforschung zum Tragen. Da merkt man, dass der gebräuchliche Wissenschaftsbegriff zu kurz gefasst wurde und daher infrage gestellt werden muss. Daher würde ich mich nicht dem Diktum unterwerfen, Anthroposophie müsse wissenschaftlich überprüft und bewiesen werden. Das wird nur bedingt gelingen. Man wird beispielsweise nicht ‹beweisen› können, dass der Mensch ein Ich hat, aber jeder Pädagoge rechnet und arbeitet mit der Authentiziät eines Ich-Begriffes.

Inwiefern ist das dann nicht ein Dogma?

Schieren Weil es ein soziales Ereignis im pädagogischen Prozess ist. Und es betrifft nicht nur Anthroposophen, die damit arbeiten. Ich gehe davon aus, dass jeder pädagogisch handelnde und empfindende Mensch in der pädagogischen Begegnung mit Kindern den Eindruck eines Ich und einer Individualität hat. Das ist ein Krafterlebnis, das den pädagogischen Prozess impulsiert. Da kann man sich auf Buber oder viele andere Autoren beziehen, die mit einem solchen substanziellen Ich-Begriff arbeiten.

Das ist also ein Erlebnis, eine Erfahrung. Hat das den Charakter einer experimentalen Wissenschaft, aber auf einer anderen Ebene?

Schieren So kann man es sehen. Aber man wird keinen, der dies nicht erlebt und erfährt, davon überzeugen können. Man kann keine Beweise dafür geben. Es ist nur individuell erfahrbar. Allerdings wird die Pädagogik davon geprägt, wenn von einem solchen substanziellen Ich-Begriff ausgegangen wird. Das Kind wird anders wahrgenommen und zugleich erhält es auch einen anderen Enwicklungsraum, der förderlich ist.

Mehr Anthroposophie

Die Anthroposophie hätte an Tiefe verloren, ist eine der Wahrnehmungen, die man am Goetheanum hören kann oder auch in Bezug auf die Wochenschrift. Wie sehen Sie das?

Schieren Ich weiß nicht, ob dies nicht ‹nostalgisch› ist. In jeder Zeit sagen Menschen: «Früher war es besser, tiefer usw. …» Ich denke aber, dass es so ist, dass zu jeder Zeit Menschen substanziell, ernsthaft und tief arbeiten, aber die Wahrnehmung dessen sich vielleicht nicht direkt dem Gegenwartsbewusstsein erschließt. Insofern würde ich gelassen bleiben.

Dennoch könnten Wissenschaftlichkeit und Forschung am Goetheanum stärker praktiziert werden, nicht wahr? Also mehr Anthroposophie? Haben Sie da Bilder, eine Imagination, wie eine Hochschule für Geisteswissenschaft aussehen kann in der Zukunft?

Schieren Ich würde eine wissenschaftliche Arbeit am Goetheanum stärker profilieren und systematisieren. Wenn man sich dazu entscheidet, sollte man ganz konkret Forschungsfragen, Forschungsmotive und eine entsprechende Forschungsinfrastruktur entwickeln und die Menschen versammeln, die das leisten können, und dafür die notwendigen Gelder einwerben. Weil das Wissenschaftsbewusstsein der Anthroposophie bzw. die Anthroposophie als Geisteswissenschaft nicht genügend ernst genommen worden sind, sondern vielmehr die Gemütsseite und die Lebensformen der Anthroposophie berücksichtigt worden sind, ist eine Art Vakuum entstanden. Die Lebensfelder sind stark geworden und die Anthroposophie selbst ist schwach geworden. Das ist eine große Herausforderung, wenn man sagt: Neben den starken Lebensfeldern braucht es auch eine starke Anthroposophie. Und für diese Anthroposophie müssen wir Infrastrukturen schaffen, müssen wir Themen schaffen und ein Programm haben, das wir für die nächsten zehn Jahre glaubwürdig verfolgen.

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Neben den starken Lebensfeldern braucht es auch eine starke Anthroposophie. Und für diese Anthroposophie müssen wir Infrastrukturen schaffen, müssen wir Themen schaffen und ein Programm haben, das wir für die nächsten zehn Jahre glaubwürdig verfolgen.

Aber es kann nicht wie die akademische Forschung laufen. Das wird etwas anderes sein müssen bei der Anthroposophie.

Schieren Die Formen, die angemessen sind, werden sich schon finden. Man hat den Freiraum, dass man sich am Goetheanum nicht an der Bologna-Bürokratie des Hochschulwesens orientieren muss. Man muss ja keine Universität werden. Das kann man beiseite lassen. Aber man kann so eine Art Max-Planck-Gesellschaft sein, also ein Zentrum einer anthroposophischen Wissenschaftskultur.

Es wird oft beklagt, dass es zu wenig Anthroposophie in den Lebensfeldern gäbe. Wie sehen Sie dieses Problem?

Schieren Das ist zunächst einmal so geworden, das stimmt. Ich sehe aber weniger das Problem, dass da Menschen sind, die wenig mit Anthroposophie zu tun haben. Die werden ihren Grund haben, dort zu arbeiten, und ihre Arbeit gut leisten. Aber ich sehe eine Schwäche darin, dass die Wissenschaftsformen der Anthroposophie gestärkt werden müssen. Wenn das gestärkt wird, glaube ich, dass auch viel mehr Menschen einen Zugang zur Anthroposophie finden. Wenn bemerkt wird, dass das Gegenwartsbewusstsein an die Anthroposophie relativ nahtlos anknüpfen kann, weil Anthroposophie eben kein dogmatisches Lehrgebäude ist, und wenn bestimmte Sprachformen überwunden werden, die heute nicht mehr unmittelbar verständlich sind, ohne dass man den Kontext bestimmter Begriffe richtig einzuschätzen weiß, dann sind damit aus meiner Sicht entscheidende Hürden genommen. Ich kann mir denken, dass die Fruchtbarkeit der Anthroposophie dann viel unmittelbarer wahrgenommen werden kann.

Hat nicht die wissenschaftliche Forschung, die verstärkt werden könnte, auch mit der Frage der Meditation zu tun?

Schieren Selbstverständlich. Das ist ein Schulungsweg. Eine spirituelle Wissenschaft muss auf einer Selbstschulung basieren. Anders geht es nicht.


Titelbild: Léonard Veuthey, Affirmation, Tusche auf Papier, 2018

Mit seine Serie ‹Psychische Porträts› versucht der Künstler Léornard Veuthey seine inneren, psychischen Erfahrungen zu zeichnen. «Eingefrorene Momente einer psychischen Erfahrung führen den Blick dazu, zu erkennen, was ständig über die Erscheinung hinaus lebt und handelt.» 23. Juli 2017, Notizbuch

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