Am 3. Februar 2022 starb Dr. med. Friedwart Husemann. Er lebte seit mehr als 18 Jahren mit einem Schilddrüsenkarzinom, das wiederholte, riskante chirurgische Eingriffe erforderte. Er verstarb während einer solchen Operation.
Friedwart Husemann wurde am Mittwoch, den 7. März 1945 als drittes von sechs Kindern der Ärzte Maria und Gisbert Husemann geboren, die sich in der Studentengruppe Ita Wegmans kennengelernt hatten. Sein ältester Bruder Michael war am 7. Januar 1941 an diphteriebedingter Kehlkopfentzündung mit Blockade der Atemwege gestorben. In einer biografischen Skizze im Nachwort seines letzten Buches1 schreibt Friedwart Husemann: «Die ersten fünf Jahre meiner Schulzeit besuchte ich die Waldorfschule Uhlandshöhe, später das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart. Den dortigen Griechisch-Unterricht liebte ich. […] Das Höhlengleichnis von Platon […] begeisterte mich. Mein Vater wies mich auf den Text des Höhlengleichnisses von Aristoteles hin. Daraufhin beschäftigte ich mich wochenlang mit dem Unterschied zwischen Platon und Aristoteles. Damals war ich 17 Jahre alt. 30 Jahre später erschien darüber ein Aufsatz2.» (l.c. 294) So traumatisierend Friedwart Husemann zunächst den Wechsel von der Waldorfschule ans Gymnasium erlebte, so blühte er doch in der griechischen Gedankenwelt auf, die noch in seinem letzten Vortrag in der Polarität des Apollinischen und des Dionysischen lebhaft gegenwärtig war. Dabei blieb sein Studium viele Jahre eng dem familiären Forschungsnetzwerk verbunden, das sein Vater begründet hatte und in dem dieser und Friedwart Husemanns Geschwister in enger Korrespondenz ihre Forschung zur Anthroposophie betrieben. Ein Schwerpunkt lag dabei auf dem Impuls Rudolf Steiners zum Studium im vierten Lebensjahrsiebt, die plastisch-musikalisch-sprachliche Menschenkunde. Was Friedwart Husemann selbst in diesem Kreis besonders auszeichnete, war seine intensive Beziehung zum Evangelium, zur Verbindung von Wissenschaft und Religion. Als Student war es ihm ein Bedürfnis, zwischen den Kapiteln des Medizinstudiums im Neuen Testament zu lesen. «Christus ist der Inbegriff der Liebe», formulierte er gegen Lebensende.3 Charakteristisch für seine an Goethe geschulte Methode war es auch, wie er die Dinge bis zur vollendeten, meist knapp gefassten Darstellung in langer Zeitspanne reifen ließ. Sein letztes Buch war die Frucht von 50 Jahren Studium aller Schriftwerke Rudolf Steiners.
Schwerpunkt seines Schaffens war die Anthroposophische Medizin. Nach seiner Heirat 1976 – er wurde Vater von zwei Töchtern – übernahm er 1977 in Gräfelfing bei München die Praxis von Frau Dr. med. Heidester, bei der er als Student gewohnt hatte. Er verwirklichte vorbildlich, was wir heute ‹integrative Medizin› nennen, als erfahrener Internist, geschulter Homöopath und profund schöpferischer anthroposophischer Arzt. Langjährig war er im Vorstand der deutschen Anthroposophischen Ärztegesellschaft GAÄD tätig. Mit gleicher Hingabe wirkte er im Arbeitszentrum München für die Anthroposophische Gesellschaft und ihre Hochschule. Sein Vater hatte im Juni 1946 den Ärzte-Rundbrief, später die ‹Beiträge zu einer Erweiterung der Heilkunst› begründet, deren Redaktion er 1985 an Friedwart Husemann übergab. Dieser gab der Zeitschrift 1988 den Titel ‹Der Merkurstab› und gestaltete ihr Format neu. Die direkte Beziehung von innerster Esoterik und öffentlichem, wissenschaftlichem Dialog blieb ihm stets wesentlich. Sein Buch ‹Anthroposophische Medizin. Ein Weg zu den heilenden Kräften›4 legt davon vielfältig Zeugnis ab.
Anpassung an den Mainstream war seine Sache nicht. Legendär sind seine Rundbriefe zur Anthroposophie, die von sehr vielen Leserinnen und Lesern abonniert wurden. Sie alle schätzten sein eigenständiges Denken und seine freie Rede. In der geistigen Auseinandersetzung, insbesondere um Rudolf Steiner, galt ihm das Novalis-Wort, mit dem er sein letztes Buch beschloss: «Freiheit und Liebe ist eins.»5 Als Arzt und authentischer Repräsentant der Anthroposophie hat Friedwart Husemann Maßstäbe gesetzt.
Seinen letzten Vortrag hielt er am 6. März 2020, am Tag vor seinem 75. Geburtstag, in der Schreinerei des Goetheanum anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Rudolf Steiners erstem Ärztekurs. Friedwart Husemann verfolgte darin die Komposition dieses 20 Vorträge umfassenden Zyklus. Dieser beginnt mit der sinnlich fassbaren Polarität vom ‹oberen› und ‹unteren› Menschen und verwandelt sie in zeitlich-dynamischen Metamorphosen bis hin zur ‹Vernichtung› und Neubelebung der Substanz im menschlichen Organismus als Urbild der homöopathischen Potenzierung. Diese dritte Stufe setzte Friedwart Husemann parallel zum ‹Schauen der Sonne um Mitternacht› – im Tod und der Wiederbelebung der Materie wird ihre innere Lichtnatur offenbar. Das Geheimnis der Transsubstantiation enthüllt sich als innerstes Geheimnis menschlicher Physiologie. Schließlich mündete die Betrachtung in der Polarität der oberen und unteren Götter. «Christus war einer der oberen Götter und ist durch das Mysterium von Golgatha bis zu den unteren Göttern im Innern der Erde hinabgestiegen. Bei seinem Wiederaufstieg konnte er die oberen Götter darüber belehren, was der Tod ist […].» Friedwart Husemann gelang es überzeugend, darzustellen, wie Rudolf Steiner von Anfang an mit der Anthroposophischen Medizin die Mysterien erneuern wollte, indem er die Struktur des ersten Ärztekurses in Beziehung brachte zu den Worten des Apuleius zu den ägyptischen Mysterien: «1. Ich ging bis zur Grenze des Todes / Ich betrat Proserpinens Schwelle. 2. Und nachdem ich durch alle Elemente gefahren / Kehrte ich wiederum zurück. 3. Um Mitternacht sah ich die Sonne / Mit hellweißem Licht strahlen. 4. Vor die unteren und oberen Göttern trat ich hin, von Angesicht zu Angesicht, und betete sie aus nächster Nähe an.»6 In früheren Ausarbeitungen hatte er unter diesem Gesichtspunkt auch die vier Stufen der Menschenweihehandlung betrachtet. Am Schluss seines Vortragsmanuskripts griff er die Polarität von Neurasthenie und Hysterie vom Beginn des Vortragszyklus nochmals auf und formulierte: «Neurasthenie ins positiv Moralische gewendet: Aufmerksamkeit. Erste und wichtigste Tugend des Arztes. Hysterie ins positiv Moralische gewendet: Hingabe. Zweite, wichtigste Tugend des Arztes.» Möge Friedwart Husemann uns weiter im Streben nach Aufmerksamkeit und Hingabe begleiten.
Footnotes
- Husemann, F.: Rudolf Steiners Schriften in 50 kurzen Porträts. Verlag am Goetheanum 2018.
- Das Höhlengleichnis bei Platon, Aristoteles und Rudolf Steiner: Das Goetheanum 51/52, 1991.
- Husemann, F.: Rudolf Steiners Schriften …, a. a. O., S. 291.
- Husemann, F.: Anthroposophische Medizin. Ein Weg zu den heilenden Kräften, Verlag am Goetheanum, 2. Auflage 2011.
- Novalis, Werke, Briefe, Dokumente, E. Wasmuth, Heidelberg 1957, Bd. 2, Fragment 291, S. 94.
- Steiner, R., Gesamtausgabe GA 266 b, S. 323.