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Maulbeeren der Schönheit

An der Tagung über den Transhumanismus ‹Das Ende des Menschen? II› sprach die Schriftstellerin Marica Bodrožić am 19. Oktober 2019 darüber, wie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts den menschlichen Körper so geschunden und entweiht haben, dass dies weit ins 21. Jahrhundert ragt und uns zuruft, durch neues Fühlen den Leib zu heilen.


Es gibt sehr viele verschiedene Wege in der äußeren, aber auch in der inneren Welt der Gedanken, begrünte und raue Wege, Denkwege sind sie alle, wenn wir uns in uns selbst aussetzen und nichts vom Leben erwarten als das, was es uns gibt, und dann rasch das verlernen, was wir von ihm wollten, aber nicht bekamen. Wenn die Denkwege sich mit Offenheit verbinden, folgen ihnen verschiedenfarbige Auskünfte. Aus den schnell gepackten Koffern und eilig gebuchten Zugfahrten werden helle, selbstermächtigende Momente des Bleibens, Maulbeeren der Schönheit, die nicht auf den letzten Metern aufgeben, sondern die Ernte, die Verwandlung im Blick behalten, die sie selbst darstellen. Aus dieser Gegenwart wird in unserer Welt Auschwitz niemals wegzudenken sein, aber auch das sibirische Norilsk nicht, eine der Gulag-Besserungsanstalten, die kältesten Herzen der Menschheit, die solche Dunkelheit, solche Abgründigkeit, solche Lichtferne ermöglichten. Samt all jenen, die sich nicht widersetzt haben. Die mitgegangen sind. Die Schweigenden. Die durch ihre eigenen Auslassungen die Lügen der akribisch Hassenden ermöglicht haben. Als das Sprechen noch nicht tödlich war. Täuschen wir uns aber dabei nicht, auch der größte Verbrecher ist nie alleiniger Täter. Er ist Spiegel seiner Zeit, Spiegel all jener, die ihn umgeben, Magnet jenes säuerlichen Geruchs, der in den Leuten ihre tödliche Feigheitsluft produziert, die sie schließlich die Frische der Elemente vergessen lässt, ihre reinigende Kraft, ihre Aufforderung, tiefer zu atmen und damit auch: in Berührung zu bleiben mit dem, was der eigene Körper sagt, vor dem wir uns manchmal eine ganze Erdenexistenz lang verstecken, obwohl er unser sichtbar gewordenes Leben darstellt. Aber der Körper ist sterblich, deshalb liebt uns seine Weisheit. Um die eigene Sterblichkeit auszuklammern, zerstören die Menschen gerne alles, was sie herausfordert oder in ihrem von Ungeduld geleiteten Erleben auf den ersten Blick zu schwächen scheint.

 


Ella Lapointe, Icon  Aufwärtswerden

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Dichter fragen mich

An die Stelle von Gott sollte beispielsweise bei den russischen Biokosmisten die Sowjetmacht treten, ein auf Unsterblichkeit ausgerichteter kollektiver Körper. Allmächtig und hungrig verschlang er auch in dieser Logik Millionen Menschen, die er sich einverleibte, um sich selbst erhalten zu können, und der dabei den ‹Blutkreislauf› im Blick behielt. Was würde ich dem russischen Dichter Daniil Charms antworten, wenn er mich nach der Qualität dieses Blutes, dieses roten Lebenswassers fragte, denn Dichter, auch tote Dichter, gerade tote Dichter stellen mir manchmal Fragen. Schauen wir uns an, was er im Juni 1932 schrieb, als andere anfingen, von einem perfekt funktionierenden Menschen ohne echtes Blut zu träumen – «eine technisch hergestellte Ewigkeit des Körpers», wie sie etwa Alexandar Bogdanov (in dessen Namen Gott und der Tag versteckt sind) imaginierte und die jeden einzelnen Körper in immerwährender Gesundheit erhalten sollte, damit er am Ende nachhaltig zur Unsterblichkeit des sogenannten Volkskörpers beiträgt. Das sehr konkrete frische Blut jüngerer Sowjets sollte dabei den Genossen im fortgeschrittenen Alter zuarbeiten und ihren gesamten Blutkreislauf effektiv vitalisieren. Daniil Charms hingegen interessiert sich fast zur gleichen Zeit nur für Wasser und zwar als ein Charakteristikum der Erde. Vielleicht hat er sich schon damit verdächtig gemacht. Vielleicht ist Wasser eine Sprache. Sein Freund, der Mathematiker und Philosoph Jakow Druskin, rettete aus seiner bombardierten Wohnung im belagerten Leningrad seinen literarischen Nachlass. Als Charms 1942 in stalinistischer Gefangenschaft verhungerte, wusste er nicht, dass ihn das allgemein Menschliche seiner überbordend sprachartistischen Texte überleben würde. Das Wasser hat und findet seine eigenen Wege, um den Durst der Durstigen zu löschen. Das Wasser, schrieb er einmal, sei eine notwendige Bedingung für den Menschen: «[…] und die Götter haben es erfunden.» Es liege immer unten, sei immer horizontal und spiegele den Himmel, wenn man seitlich aufs Wasser schaue. Bezeichnenderweise lese ich hier zuerst «seelisch» statt «seitlich».

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In Berührung zu bleiben mit dem, was der eigene Körper sagt, vor dem wir uns manchmal eine ganze Erdenexistenz lang verstecken, obwohl er unser sichtbar gewordenes Leben darstellt.

Aber ich denke vielleicht dabei ganz unweigerlich an meine Mutter, die sich ihre Turnschuhe immer seitlich zur Linken hinstellte, bevor sie sie morgens anzog und zu ihren vielen Arbeitsstellen wie zu einzelnen Pflichtabteilungen des Lebens ging. Seitlich war gleichermaßen seelisch, sie war bereit, ihre Pflicht zu tun und die Pflicht wartete ‹unten› auf sie, bei jenen Aufgaben also, die in unserer Gesellschaft nicht hoch genug wertgeschätzt werden, obwohl alle Ordnung und Hingabe und Sauberkeit mit ihnen zusammenhängt – beim Putzen, beim Pflegen kranker und bedürftiger Menschen, in der Küche eines großen Hotels, in dem meine Mutter über Jahre hinweg arbeitete, als Erste in den frühen Morgenstunden dort ankam, als Letzte ging. «Tief unten ist Wasser stets friedlich», notiert Daniil Charms weiter. «Und uns Menschen unverständlich, und Fische schwimmen schnell darin, und dem Neugierigen rate ich, schau nicht hin, hüte dich. Wasser spiegelt immer nur, was über dem Wasser ist. Und schaust du seitlich aufs Wasser, dann siehst du einen Baum am Ufer stehen und einen Mann über die Brücke gehen und ein Mädchen sitzen im schmalen Boot.» Die dichte Welt dieses jungen Blicks war mit kommunistisch gefärbten Bluttransfusionen nicht zu erkaufen. Auch kann der Welt in der Welt nur das wirklich Vorhandene gespiegelt werden. Der sowjetische Superkörper, diese wasserlose Zone kühler Unsterblichkeitsfantasien, ist Alexandar Bogdanov selbst natürlich nie zuteilgeworden, denn sein eigenes rein menschlich-individuelles Blut hat sich, den Naturgesetzen gemäß, durchgesetzt und seine Utopie mit seinem eigenen Ableben zunichtegemacht. Im April 1928 erlag er ironischerweise seinen tödlichen Selbstversuchen, als er sich eifrig das Blut eines jungen und an Malaria erkrankten Studenten injizierte. Aber gerade die Anfälligkeit des Körpers führte andere dazu, einen interplanetarischen Besiedlungsplan des Universums anzudenken. Der Raketenwissenschaftler Konstantin Ziolkowski etwa sah dabei eine ‹Strahlen-Menschheit› als erstrebenswert an, deren Seelen sich seiner Vision gemäß kollektiv im Universum verpflanzen lassen würden, um so eines Tages zur ‹Übermenschheit› zu werden. In dieser Idee spiegelt sich letztlich genauso wie im menschenverachtenden Gulagsystem Sowjetrusslands eine Art stählerner Über-Wille, der alles Zerbrechliche, ja alle Verletzlichkeit des Menschen, seine körperliche wie kosmische Ausgesetztheit, verpflanzen will, um sie hier auf Erden zu vermeiden. Nadeshda Mandelstam, die mit dem Dichter Ossip Mandelstam verheiratet war, der in einem stalinistischen Arbeitslager in der Nähe von Wladiwostok starb, hat die frostigen Sowjetzeiten überlebt und das der Seele entgegenstehende Klima der kollektiven Unsterblichkeitsfantasien in ihren beeindruckenden Memoiren beschrieben. Sie, die über Jahrzehnte hinweg der Willkür und der Unfreiheit maximal ausgesetzt war und den ihr liebsten Menschen in Stalins Diktatur verlor, schreibt über die Freiheit des Menschen, sie sei die Möglichkeit der Wahl, genauer, der Auswahl von Ideen. Sie gründe sich auf ein sittliches Prinzip, das uns vor hypnotischen Kräften und temporären, falschen Ideen schütze. «Frei ist man nicht vom höchsten Lebensprinzip», notiert sie einmal, «sondern von der hypnotischen Macht der sozialen Welt. Freiheit unterscheidet sich von der Willkür dadurch, dass sie auf den lebensspendenden Kräften der Menschheit beruht, auf der Gottesmenschlichkeit, wie Dostojewski sagt, und nicht der Menschengöttlichkeit.»

 


Ella Lapointe, Icon  Spinnennetz­besuch

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Die Körper, die zum Fühlen rufen

Sowohl das Gulagsystem Sowjetrusslands als auch die nationalsozialistische Rassenideologie und der Vernichtungswahn, der sich in den Arbeits- und Todeslagern quer durch ganz Europa schmerzverzahnte Orte für seinen barbarischen wie fehlgeleiteten Übermenschenwahn erschuf, zeigt aber auf erschütternde Weise eine Willkür, die den leidenden, zerbrechlichen Körper im Visier hat. Dieser angreifbare Körper wird uns, die wir heute leben, auf immer die möglichen Auswüchse menschlicher Grausamkeit spiegeln und uns zum Fühlen auffordern. Denn dieser im Leiden gebrochene Körper ist unser aller Körper. Der französische Schriftsteller Robert Antelme, der als ein aus politischen Gründen Internierter verschiedene deutsche Lager, unter anderem Buchenwald, und die berüchtigten Todesmärsche überlebt hat, beschreibt den Prozess des im Laufe der Zeit und Gefangenschaft immer mehr leidenden Körpers auf eindrückliche Weise, wenn er beispielsweise in seinem Buch ‹Das Menschengeschlecht› im Kontrast zu Hunger und Schmerzen auf genaue Wahrnehmungen der Natur innerhalb einer langen Kolonne zu sprechen kommt und das zum Ausdruck bringt, was seine äußeren und inneren Sinne empfangen: «Nachher werde ich versuchen, nur die Bäume zu sehen, ihre Verschiedenartigkeit zu erfassen, festzustellen, dass wir aus dem dichten Wald auf die Lichtung kommen, ich werde sogar versuchen, neugierig auf die nächste Biegung zu warten. Kann man in der Kolonne sein und dennoch nur die Blumen auf der Böschung sehen, nur den Duft der feuchten Blätter riechen? Ich habe einen Augenblick lang diese Macht.» Diese dem menschlichen Körper gegebene Würde der Wahrnehmung, die mit seiner inneren Freiheit und seiner wahren Sprache gekoppelt ist, ist das Zeichen seines Lebendigseins, da er das ihn umgebende Lebendige wahrnimmt. Er wird zwar, das weiß er, diesen Zustand bald schon einbüßen müssen und nur noch auf müde Rücken in der Kolonne sehen, die ihm seine eigene Erschöpfung spiegeln, aber das Erlebnis der Natur, die sich ihm für heilige Augenblicke in ihrer Ganzheit zeigt, ermächtigt ihn dazu, wieder ein Singular zu sein, das also, was ihn die Deutschen im Lager unbedingt vergessen lassen wollen. «Man wird uns nachher vielleicht töten», schreibt er, «und wir werden Hunger haben. Ich habe das Gras gesehen, den Nebel, die braunen Wälder; auch wir können das alles sehen.» Besonders die Verschiedenartigkeit der Bäume erweckt seine geistige Neugier im müden und geschundenen Körper. Dieser Körper, der noch so viel Kraft aufbringen kann und wird, obwohl er unzählige Male an den Todesrand gerät, ist ein Körper, der uns heute in einer Zeit des Optimierungswahns viel erzählen kann. Seine Versehrtheit ist eine warnende Botin vor den zielgerichtet strategischen und materiellen Vermessungen des Menschen, der, einmal den Herrschenden und ihrer Verachtung (oder auch nur einer Mode, einem dem Zeitgeist geschuldeten blinden Perfektionsstreben, das den Menschen von sich selbst entfernt) nicht mehr nützlich, schnell wie etwas Überflüssiges entsorgt werden kann. Stalin beherrschte diese Fertigkeit in Sekundenschnelle. Gerade jene Künstler und Sowjetforscher, die ihm nicht schnell genug das liefern konnten, was ihm vorschwebte, oder aus ihrem autonomen Sein heraus seinen Unmut hervorriefen, verschwanden in den unzähligen sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern.

Den Nachtschichten wie Lichtseiten nachspüren

Vielleicht traf einer dieser Verfemten in seiner Verbannung auch auf den jugoslawischen Kommunisten Karlo Štajner und, gebrochen in Willen und Würde, spionierte ihn dann im sibirischen Norilsk aus, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Vielleicht lief alles, was sie danach taten, darauf hinaus, jene ‹različnost› – die Verschiedenheit, die Andersheit eines jeden Einzelnen – auszulöschen, die Danilo Kiš, der jeden Menschen als einen «Stern für sich» beschrieben hat und sich selbst als letzten jugoslawischen Schriftsteller sah, zeitlebens bei sich selbst hervorgehoben hat. Die Andersheit war es auch, die am Ende seines kurzen jugoslawischen Lebens in einer von Gleichmachungsgedanken funktionierenden Welt plötzlich gegen ihn sprach, als von heute auf morgen während der jugoslawischen Kriege seine Bücher, die Bücher eines mitteleuropäischen Juden, mit einem Mal verboten wurden. Die geistige Andersheit und die körperliche Fragilität, jene ‹beunruhigende Differenz›, die Sigmund Freud Heimlichkeit genannt habe, so schrieb es Kiš einmal selbst, muss die eigentliche Quelle für seine literarische und metaphysische Inspiration gewesen sein. Die «ethnografische Rarität», schrieb er 1983 in seinem autobiografischen Text ‹Geburtsurkunde›, werde mit ihm aussterben. Aber das hat sich zum Glück, aufs Ganze gesehen, nicht bewahrheitet. Heute ist unsere Welt in seinem Sinne voller ethnografischer Raritäten, die sich womöglich selbst, auch und gerade dieses Umstands wegen, sogar als glückliche Menschen verstehen. Danilo Kiš war es auch, der an das Leben von Karlo Štajner und an «die toten Augen» seiner Frau Sonja erinnerte und dem ich es verdanke, überhaupt von Sonja und Karlos Schicksal erfahren zu haben. Die Formulierung von den toten Augen kommt von Kiš selbst, der damit auch Sonjas Leben sichtbar gemacht hat. Im neunten Monat ihrer Schwangerschaft wurde ihr Mann Karlo mitten in der Nacht ins Lager abgeholt. Sie brachte das gemeinsame Kind, ein Mädchen, einen Monat nach seiner Festnahme zur Welt. Es lebte nur dreißig Tage und starb an Hunger. Dieses Schicksal ist für mich eine radikale Aufforderung, den Nachtschichten wie den Lichtseiten meiner Welt, aber auch meiner eigenen Wege nachzuspüren, eine geradezu sinnbildliche Aufforderung also und auch Anleitung, auf ein Heimweh im Singular zu verzichten, mich darin zu üben, jener Mensch zu bleiben, der ich jenseits eines Kollektivs bin. So zu leben, wie ich gemeint bin, das sehe ich als meine Aufgabe. Jeder von uns ist ein ausgesetztes Wesen, das mit sentimentalen Harmonikaklängen und alten Kuchenrezepten von einst nicht zu ködern sein sollte. Der Kosmos erzieht uns zu anderer und aufrichtiger Sprache. Der Tod ist der Horizont, der sich der Sentimentalität wie ein altehrwürdiger umgefallener Baum in den Weg stellt. Wer anfängt, das Hindernis zu meistern, ist schon anders aktiv geworden und nicht mehr anfällig für alte Versprechen. «Es gibt», heißt es einmal erhellend bei Walter Benjamin, «für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.» Nur im Wissen um diese äußerste und zugleich innerste Grenze in uns erscheint mir die Verletzlichkeit des Lebens als der einzig mögliche Denkweg zu den Maulbeeren der Schönheit, die das Perfektionsgebaren im Hier und Jetzt uns vergessen lassen will.

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Von allen kultivierten Bäumen ist der Maulbeerbaum der letzte, der ausschlägt, was niemals vor Ende der späteren Fröste passiert. Aber wenn er ausschlägt, macht er das in einer einzigen Nacht mit einer solchen Kraft, dass man es knacken hören kann.
— Der römische Naturwissenschaftler Plinius der Ältere

Auf den Spuren von Walter Benjamin bin ich im vierten Monat meiner Schwangerschaft jenen Weg in den Pyrenäen gegangen, der auch ihm und unzähligen anderen Menschen im September 1940 zur Flucht und Rettung vor den Nazis verhalf – Benjamin nahm sich aber am Schluss im katalanischen Portbou das Leben, da er sich seinen Verfolgern nicht lebend aussetzen wollte. Kurz bevor ich die Bucht von Portbou erblicke, die ihm zunächst Rettung versprach, erkenne ich wieder eine früh in meinem Leben aufgeblitzte Forderung der Intuition – auf den Wegen, die wir gehen, liegen die Gedanken der uns Vorangegangenen und warten darauf, dass wir sie lesen, fortführen, hinterfragen und weiterdenken. Die Intoleranten möchten deshalb das Gedächtnis abschaffen. Das haben sie mit Maschinen und Chips gemeinsam. Wer kein Gedächtnis hat, der hat auch keine Vorfahren. Das Leben der Sterblichen hingegen verknüpft sich mit anderen Welten, Menschen, Sätzen, die in uns mitgehen, und zum ersten Mal, mit zugespitzt einsetzenden beharrlichen Schmerzen in Waden und Knien, die den Abstieg zu einem größeren Willensakt machen als anfangs gedacht, denke ich in den Pyrenäen mit Dankbarkeit an all jene, die mich nicht zu ihresgleichen zählen, etwa an die Nationalisten meiner Geburtsgegend, die mich als Verräterin sehen, als einen schwachen Menschen, der arm, heimatlos und unfähig ist, das Vaterland zu lieben. Diese und andere Gegenspieler sind die notwendigen Schatten auf meinem Weg zum autonomen Menschen, sie sind, radikal und vom Hellen zu Ende gedacht, Zuarbeiter des Bewusstseins und in ihm wirkenden Lichtes. Ich arbeite gern am sonnigen Bewusstsein des in mir pochenden Lebens. Und die für mich sinnstiftenden Worte Danilo Kiš’ fallen mir wieder ein, die er als «Ratschläge für einen jungen Schriftsteller» so formuliert hat und die mir seine letzte Lebensgefährtin Pascale Delpech vor über zwanzig Jahren in Paris auf Tonband aufgenommen überlassen hat: «Sobald eine Gemeinschaft dich annimmt, stelle dich infrage.» Braucht ein Mensch Weihrauch, wenn er auf seinem Weg einen solchen Satz zur Speisung erhält? Ein Satz wie dieser ist für mich synthetisch, eine währende ‹Kraftzentrale›, die mich seit über zwei Jahrzehnten beim Denken unterstützt. Beim Abstieg in das Tal und Richtung Bucht, beim Aufstieg im eigenen Denken wirkt er in mir, denn erst dort, wo ich ausgesetzt bin, wird offenbar, ‹wo der Bug steht› und, in der Umkehrung des Bildes, wo mein eigener Platz ist, von wo aus ich auf die Welt sehe, die mich zurück ins Paradies führt und sich mir von meinem Lebensschiff aus zeigt, wenn es in voller Fahrt das Meer des Lebens durchschwimmt. Der Ozean ist ein strenger Lehrer, der nichts von uns will. Er ist einfach nur da, als Wasser, das uns in unseren hellsichtigen Träumen nährt, uns Bildweite schenkt und an Ufer denken lässt, die nur möglich sind, weil wir hier leben und einen Körper haben. Wer sich mit diesem Körper und der in ihm waltenden Wahrheit nicht auseinandersetzen will, sucht die Kühle der Perfektion. Dort aber steht kein Bug und kein Schiff, es gibt kein Wasser und keinen Tod. Wo Wasser und Tod fehlen, bleibt die Verwandlung aus. Wir haben darin nur die horizontale Zeit, aber sind losgelöst von der vertikal wirkenden Gnade aller in uns waltenden und uns umgebenden Elemente. Der Kampf und die Perfektion verdecken die Lücke, in der ein Wunder geschieht. Aber alles Leben ist ein Wunder, immer wieder von Neuem, so, wie auch im Sinne von Hannah Arendt jeder neue Mensch ein Anfang ist, der uns mit allen Anfängen verbindet.

 


Ella Lapointe, Icon  Fruchtblumenschrift

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Eine Betrachtung zur Mathematik der Verführung

Das Böse rechnet damit, dass wir nicht an sein Vorhandensein glauben. Denn so hat es freie Hand. Wir können es uns nicht vorstellen. Und je mehr wir seine Anwesenheit abstreiten, desto größer wird seine Kraft, und sein Einflussbereich breitet sich aus. Es kann tun und lassen, was es will. Wir verweigern uns seiner Wirklichkeit und so verstrebt es seine Fundamente in unserem Sein. So fasst es Fuß. Es hat Zeit, seine Pläne zu durchdenken, eine Architektur des schwarzen Todes bis ins Detail zu planen, während wir uns für aufgeklärte moderne Wesen halten und mit unbestimmt rebellischem Gefühl einmal dies, einmal das bekämpfen. Wir halten das Böse für einen Aberglauben ferner Zeiten. Und wissen nicht, dass es mit ebendieser Naivität rechnet. Es spricht dennoch für den Menschen, dass er sich die bauplanerische Gewissheit des so Abgründigen nicht ausmalen kann. Aber zugleich spricht es auch gegen ihn, denn das Böse schweigt nicht, es sagt schon weit im Vorfeld, was es zu tun gedenkt. Seine Worte zu ignorieren, heißt, nicht denken zu wollen und seine Vorhandenheit nicht anzuerkennen, obwohl sie deutlich wahrnehmbar ist. Der Talmud sagt, anfangs sei der böse Trieb wie ein Vorübergehender, dann wie ein Gast und zuletzt wie ein Hausherr. Wenn der Hausherr sich in uns niederlässt, ist es schwer, ihn wieder loszuwerden, denn er gibt nicht so schnell das auf, was er einmal sein Eigen nennt. Man selbst ist dann leicht schachmatt gesetzt. Den meisten Menschen fehlt es nicht an Mut, das Gegebene zu erkennen. Es fehlt ihnen an Vorstellungskraft, den Schritt zum Erkannten in sich zu vollziehen und sich gemeint zu wissen. Denn das Böse ist nie abstrakt. Es handelt sehr konkret. Es rechnet damit, dass wir es leugnen. Unsere Versteinerung ist die erste aufgegangene Gleichung in seiner gut durchkomponierten Kunst der Verführung. Dort beginnt die Herrschaft, die davon träumt, einen Untertan nach Maß zu erschaffen, einen Menschen, der diesem (uns fremden) Willen durch sein Schweigen und durch die Auslassungen in seinem Gewissen gehorsam folgt, obwohl er es immer besser weiß. Maschinen haben keine dieserart aufblitzende Intuition. Maschinen haben kein Gewissen. Und auch keine aus dem kosmisch ozeanischen Nichts herrührenden Eingebungen. Alle Kultur, alle Kunst und alle Schönheit des Menschen kommen genau aus diesem innen aufleuchtenden Licht, aus einem tiefen, wie von der Sonne rührenden Gedanken, der uns öffnet und neue Wege gehen lässt. Wir berechnen den Weg nicht im Vorfeld, wenn wir schöpferisch tätig sind. Wir gehen den Weg. Nicht, weil wir den Weg kennen, das ist eben zum Glück nicht der Fall. Wir gehen den Weg, weil der Weg uns kennt.

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Ebenso kennt uns der Schmerz, er fordert uns so lange heraus, bis wir, dem Maulbeerbaum gleich, in einer einzigen Nacht mit einer solchen Kraft neu beginnen können, dass man es mit den inneren Ohren in der ganzen Welt hört.

Ebenso kennt uns der Schmerz, er fordert uns so lange heraus, bis wir, dem Maulbeerbaum gleich, in einer einzigen Nacht mit einer solchen Kraft neu beginnen können, dass man es mit den inneren Ohren in der ganzen Welt hört. Wenn der Mensch dieser einen Nacht, in der alles neu entstehen kann, auszuweichen versucht, versäumt er den Ausklang jener dunklen Nacht der Seele in ihre Helligkeit, die der Mystiker Juan de la Cruz als die Bedingung für die schöpferische Verwandlung des Menschen beschrieben hat. Dieses Erwachen im Ganzen bleibt aus, wenn wir versuchen, uns in eine Perfektion zu retten, die am Ende alles in uns abtötet, was Sanftmut und Verletzlichkeit uns im Laufe unserer Jahre auf Erden und mit den Erdenmenschen unseres Hierseins beizubringen versuchen. Das Leben, hat einmal Nadeshda Mandelstam (über das Ziel der russischen Akmeisten) geschrieben, sei nicht nur eine Gegebenheit, sondern auch Gegebenes. Das führt nach meinem Empfinden eine Verantwortung mit sich, Kraft genug zu sammeln, um ohne Fluchten ins Absolute gleichwelcher Art ein Mensch zu sein und zu bleiben, der das ihm Gegebene entschlüsselt, während er lebt, und das gelingt ihm wie dem Maulbeerbaum nicht «vor Ende der späteren Fröste». – Die Kälte, die er in Wärme verwandelt, macht ihn im Seelischen zum vieläugigen Schmetterling, der weiß, dass nach der Verwandlung die eigentliche Arbeit am Gesang beginnt. Erst wenn wir uns fragen können und müssen, was aus dem Schmetterling nach seinem Aufblühen im Schönen werden soll, wohin sein Flug ihn also bringt, beginnen wir vom heiligen Urzustand zu ahnen, der uns in dem uns Gegebenen trägt. Ein neuer Empfindungsraum, ein neues Eingewobensein in alles Lebendige ist die Folge; der der Helligkeit zuarbeitende neue Anfang also, der daraus erwächst und wahre Wärmelinien zwischen uns allen herstellt. Denn am Ende, um noch einmal Nadeshda Mandelstam und die in ihrem Vornamen lebende Hoffnung ins Spiel zu bringen, sind wir keine Porträts – wir haben Gesichter.


Titelbild: Ella Lapointe, Icon ‹Fruchtfrage›, Vektorisierte Tinten­zeichnungen. Alle Zeichnungen sind im Februar 2019 entstanden.

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