Martin Rozumek (Chemiker) und Hans-Christian Zehnter (Biologe) publizierten unabhängig voneinander zur Frage, wie – anlehnend an die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners – eine Weltauffassung ohne atomistisch vorgestellte Materie zu verstehen ist. Stattdessen fassen sie die irdische Wirklichkeit als Erscheinung für uns Menschen auf. Das hat methodische und existenzielle Konsequenzen für die Anschauung der Welt. Anlässlich ihrer jüngsten Publikationen im ‹Merkurstab› (Martin Rozumek)1 und im ‹Archivmagazin› (Hans-Christian Zehnter)2 entschlossen sich die beiden zu einem gemeinsamen Aufsatz für das ‹Goetheanum›.
Ausgangspunkt der Betrachtungen ist die mantraartige Aussage Rudolf Steiners in seinen ‹Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften›: «Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie.»3 Davon unberührt sei jedoch die «Materie als Phänomen, als Erscheinung», die den Raum zu erfüllen scheine.4 – Hieraus ergibt sich die Auffassung, die Welt als Erscheinung für die menschlichen Sinne und den menschlichen Geist entgegenzunehmen:

«Sobald man von atomistischen Vorstellungen ausgeht, steckt man in einem in den Untergang hineinführenden Materialismus darinnen. Zurecht kommt man mit der Wahrnehmungswelt nur, wenn man sie als Phänomen, als Erscheinungswelt auffasst. Was uns durch die Sinne entgegentritt, ist etwas, worinnen die Materie gar nicht ist. Also die Empfindung müssen wir in uns entwickeln […], dass wir, wenn wir hinausschauen durch unsere Augen und den gesamten Sternenhimmel erblicken, die Wolkenkonfiguration erblicken, die Inhalte der drei Reiche, des Mineralischen, Pflanzlichen und Tierischen, aber auch des vierten Reiches, des Menschenreiches erblicken, dass wir in alledem, was wir so wahrnehmungsgemäß an uns herantreten finden, nicht suchen dürfen irgendetwas von Materie. Dahinter steckt keine Materie! Das sind durchaus solche Erscheinungen, solche Phänomene, wie zum Beispiel der Regenbogen selbst, wenn sie auch sonst derber auftreten als dieser Regenbogen. […] [Der Mensch solle] dasjenige, was ihm äußerlich entgegentritt durch die Sinne, als ein Phänomen, als eine Erscheinung auffassen, wenn es auch noch so derb auftritt. Auch beim Quarzkristall, wenn wir ihn auch greifen können – beim Regenbogen würden wir ja durchgreifen –, wenn auch der Gefühlssinn [i. e. Tastsinn] dabei affiziert ist, so müssen wir doch auch beim Quarzkristall nur sprechen von einem Phänomen; wir dürfen nicht hineinphantasieren irgendeine materielle Realität, gleichgültig wie es sich auch die heute auf Abwegen wandelnde Naturanschauung vorstellt. Also was wir als ‹materielle› Erscheinungen vorfinden, sind gar keine materiellen Erscheinungen, ist gar keine Materie in Wirklichkeit. Das sind eben nur Erscheinungen; sie sind das, was kommt und geht aus einer andern Wirklichkeit heraus, die wir nicht fassen, wenn wir sie uns nicht geistig denken können.5
Niemals ohne Materie, niemals ohne Geist
Dennoch geht Steiners Wirklichkeitsverständnis davon aus, dass «Geist niemals ohne Materie, Materie niemals ohne Geist» seien.6 Was aber ist dann Materie, wenn sie nicht atomistisch-partikulär, punkthaft den Sinneserscheinungen zugrunde liegend vorgestellt werden soll? Sie ist dann das sinnliche Erscheinen selbst, dasjenige also, was im Sinne des obigen Zitates «kommt und geht aus einer andern Wirklichkeit heraus, die wir nicht fassen, wenn wir sie uns nicht geistig denken können». Materie ist also Geistiges, das sich als Sinnliches offenbart und damit eine dem Geistigen weitestgehend unähnliche Darstellungsweise gewählt hat.
In der dualen Einheit von Geist und Materie ist Geist dasjenige, dem wir innerlich mehr oder weniger bewusst als Erleben oder Tätigkeit begegnen; und Materie ist dasjenige Geistige, das uns demgegenüber wie von außen als sinnliche Wahrnehmung erscheint. Die irdische Wirklichkeit ergibt sich demnach aus dem Zusammenkommen von zweierlei Erscheinungen des Geistigen (der «andern Wirklichkeit»): Aus einer Erscheinung, die uns geistig-seelisch anspricht, und aus einer Erscheinung, die uns sinnlich, stofflich, ‹materiell› anspricht:
Es drängt sich an den Menschensinn
Aus Weltentiefen rätselvoll
Des Stoffes reiche Fülle.
Es strömt in Seelengründe
Aus Weltenhöhen inhaltvoll
Des Geistes klärend Wort.
Sie treffen sich im Menscheninnern
Zu weisheitvoller Wirklichkeit.7
Dem Spruch folgend ist bemerkenswert, dass diese beiden Erscheinungsweisen sich im menschlichen Inneren treffen – in einem Innenraum also, der zugleich die Welt ist. Wir können daher mit Rainer Maria Rilke im Blick auf die Erdenwirklichkeit als Erscheinung von einem «Weltinnenraum» sprechen.8
Materielle und ephemere Physis
Materie als Erscheinung für die Sinne kann auch als der physische Aspekt der Welt betrachtet werden (so auch von Steiner) – im Gegensatz zum geistigen Aspekt der Welt, der uns in unserem geistigen Auffassungsvermögen (Imagination, Inspiration, Intuition) erscheint.
Innerhalb der physischen Erscheinungen gibt es solche, die ‹materieller› anmuten als andere. Was tastbar, was in der Hand wägbar ist, wie ein Kristall, dem kommt in einem ersten, unmittelbaren Auffassen der Erscheinungswelt mehr materieller Charakter zu als einem solchen, das nur für das Sehen erscheint, wie zum Beispiel einem Regenbogen, der weniger materiell als viel eher flüchtig, ephemer anmutet. Um mit dem Philosophen George Berkeley zu sprechen, können wir Sehdinge und Tastdinge unterscheiden.9 In Bezug auf unsere Thematik ließe sich eine materiellere und eine ephemere physische Erscheinungsweise unterscheiden. Die unteren unserer zwölf Sinne konstituieren dann mehr ein materielles Physisches und die oberen Sinne mehr ein ephemeres Physisches.
Eine solche Differenzierung des Physischen in mehr und weniger materielle Erscheinungsweisen ist durchaus hilfreich und weitreichend. Die meisten Vögel erscheinen für uns nicht durch die unteren Sinne. Wann haben wir schon einmal einen derjenigen Vögel in der Hand, die wir täglich zu Gesicht bekommen?! In den seltensten Fällen nehmen die Vögel eine materiell-physische Erscheinungsweise an, in der sie sich tasten und wiegen lassen würden. Das Vogelwesen ist ein solches, das sich primär unseres Gesichts- und Gehörsinnes bedient, um seiner selbst gemäß – engelsähnlich – zu erscheinen. Im Fangen des Vogels läuft er – und bringen wir ihn – in Gefahr, verdinglicht zu werden.

Insbesondere bei der wägbaren und tastbaren materielleren Physis stellt sich die Gefahr ein, ihre Erscheinungen im Stile eines ‹Ding an sich› aufzufassen. Der Tisch als physischer Gegenstand sei doch immer da, auch wenn ich nicht mehr hinschaue, auch wenn ich nicht mehr in dem Raum bin, in dem der Tisch sich befindet, auch wenn ich ihn nicht mehr betaste. Ein Stoff wie der Schwefel habe seine Eigenschaften durch seine molekulare Struktur. – Hier lauert Ahriman, der uns diese zweifelhafte Auffassungsweise der Erscheinungswelt einflüstert. Die im Gegensatz dazu in diesem Aufsatz vertretene Auffassung geht davon aus, dass wir Menschen so organisiert sind, dass in uns immer gerade das zur Erscheinung kommt, was für uns und unsere Zeit ansteht. «Die Natur oder was immer für ein Wesen man bei diesem Namen nennen mag, ist immerdar tätig und wirkt die Erscheinungen und Ereignisse nach den Bedürfnissen jedes Augenblickes, anstatt sich wie ein müßiger König auf die einmal eingerichtete Gesetzgebung zu verlassen und die Hände in den Schoß zu legen.» Diese Aussage hatte sich Goethe in seinem Exemplar von Melchior Patrins (1742–1815) Schrift ‹Zweifel gegen die Entwicklungstheorie› am Rande doppelt angestrichen.10
Bild geistiger Wesen
Wenn Materie Geistiges ist, das sinnlich erscheint, wie ist dieses Geistige dann vorzustellen? Wir erfahren es zunächst in unseren Begriffen. In ihnen gerinnt die andere Seite der Wirklichkeit, durch sie erfassen wir denkend das Wesen der Welt im wachen Bewusstsein. Steigern wir diese Wachheit auch nur anfänglich zum Schauen im Denken,11 finden wir, dass wir darin mit konkreten inhaltlichen Gestalten umgehen. Wir tasten sie denkend und empfindend ab, erleben uns ermutigt, uns ihnen zu nähern, sie zu ergründen; wir können auch vor ihnen zurückschrecken, wenn wir zu ahnen beginnen, was in ihnen steckt, was für Konsequenzen sie fordern, wie sie womöglich unser Bild der Welt revolutionieren wollen. Vergleichbar dem Umgang mit Menschen begegnen wir geistigen Gestalten, die ihren Inhalt, ihre Art zu sein und ihren Stil des Auftretens haben, die uns diese oder jene Seite zeigen, ihre Interessen verfolgen, sich aufdrängen, sich verstecken oder auch uns narren können. Wir können sie als geistige Wesen ansprechen.
Die sinnlichen Phänomene sind dann Erscheinungen geistiger Wesen. Sie sind Bild oder Spiegel von einer geistigen Wesenswelt, die sich uns durch ihre sinnlichen Erscheinungen offenbart. Man kann diesen Spiegel – anknüpfend an die Terminologie einer östlich-spirituellen Tradition – mit dem Begriff Maya belegen, wie es auch Steiner vielfach tat. Das schmälert jedoch nicht seine Bedeutung: sinnliche Wahrnehmungen sind als unmittelbare Anwesenheit der geistigen Welt in uns Menschen vorzustellen und zu erleben.
Dies drückt sich auch in Steiners Bild der Sinne als Golfe der geistigen Außenwelt aus, die in uns Menschen hereinragen. Der Mensch begrenzt sich demgegenüber auf seine in Denken, Fühlen und Wollen zu differenzierende Innenwelt.12 Sinnliche Wahrnehmungen sind also nicht so zu verstehen, dass es eine geistige Welt gibt, die durch die zu uns gehörigen Sinne zu einem fremden Bild ihrer selbst transformiert würde. Vielmehr sind die Sinne die geistige Welt selbst unmittelbar in uns. Das Sinnessystem hat der Mensch «gar nicht intensiv mit sich verbunden […]. Es lebt eigentlich nicht er in diesem Sinnessystem, sondern die Umwelt. Diese hat sich mit ihrem Wesen in die Sinnesorganisation hineingebaut. Und der imaginativ-schauende Mensch betrachtet deshalb auch die Sinnesorganisation als ein Stück Außenwelt.»13

Die unmittelbare Begegnung mit geistigen Wesen würde ein ungeschultes Bewusstsein überwältigen, es würde immer dann wegdämmern, wenn das geistige Wesen sich ihm gerade offenbaren will, um von ihm erkannt zu werden. Das sinnliche, also physisch-materielle Erscheinen indes dient dazu, dass wir in der Begegnung mit dem Geistig-Wesenhaften der Welt unser Ich-Bewusstsein aufrechterhalten können. Die sinnliche Erscheinung ist zwar eine solche Erscheinungsweise, die dem Geistigen, das wir durch unser eigenes geistiges Auffassungsvermögen kennen, unähnlich ist, die uns aber erlaubt, uns in unserem Ich-Bewusstsein zu bewahren (ja, die sogar dieses Ich-Bewusstsein konstituiert), und dadurch eine Erkenntnis desjenigen möglich macht, das sich uns Menschen zur Erscheinung bringt. Was also als Maya erscheint, ist seinem ganzen Gehalt nach geistiger Natur. Es ist eine geistig-materielle Erscheinung (und nicht eine materialistisch-materielle, zuletzt atomistisch unterlegte Erscheinung). Damit ist sie eine sinnliche Beschreibung dessen, was sich uns in ihr als seelisch-geistige Wesenheit zeigen will.14
Lesen im Sinnesspiegel
Was bis hierher in mehr prinzipieller Weise dargestellt wurde, kann vom Verstehen über das Ahnen bis hin zum hellbewussten Erleben weitergeführt werden. Unsere Aufgabe ist es, sich der Erscheinungswelt zuzuwenden und sie als eine lesbare, als eine des Lesens lohnenswerte sinnliche Erscheinung entgegenzunehmen, um in diesem Lesen im eigenen Inneren die Schreiber, die Autoren des Geschriebenen auffinden zu lernen, das ist die Welt der Naturwesenheiten von den Elementarwesen bis hin zu den Hierarchienwesen.
Die Welterscheinungen lesen,
dann die Schreiber ahnen,
dann die Wesenheit der Schreiber erleben.15
Maya ist also nicht als eine Welt aufzufassen, von der wir uns abwenden sollten, weil sie nur Sünde und Leid in sich berge. Mit einer solchen Auffassungsweise der Sinneswelt würden wir einem anderen Einflüsterer, Luzifer, unterliegen. Im Gegensatz dazu ist die sinnliche Maya im Verständnis dieses Aufsatzes eine Erscheinungsweise, der wir uns zuwenden können, um in eine wahrhaftige, wache und erkennende Geistbegegnung zu kommen. Denn, so Rudolf Steiner, es sei doch «selbstverständlich, dass wenn unser Geistig-Seelisches die Leibeshülle verlässt [um zur Erkenntnis der geistigen Wesen zu kommen], es durch die Sinne nach außen dringt.»16, 17
Die Welt, die wir dann erreichen, ist nicht mehr sinnlicher, nicht mehr räumlicher und nicht mehr zeitlicher Natur. Es ist eine Welt, die wir außer Raum und Zeit erfahren. Das heißt: Sie ist vorstellungsfrei. Und dennoch können wir sie erfahren! Wie? Indem wir sie erleben; indem wir angesichts der sinnlichen Erscheinungen unseren Blick auf unsere seelischen Erlebnisse richten.18 Der Weltinnenraum erweist sich dann keineswegs als leer, er ist auch nicht ohne Gesetzmäßigkeiten. Er erweist sich als wesensgetragen. Wir lesen dann die sinnlich sich darbietende Außenwelt als eine Innenwelt, als einen großen geistigen Organismus, der aus vielerlei Wesen und Wesensregionen besteht – etwa so, wie auch ein Bienenstaat aus vielerlei Wesen und zugehörigen Aufgabenzuordnungen besteht.

Wie fühlt sich dieses Erleben von geistig Wesenhaftem im eigenen Seelenraum an? Wie eine Begegnung; man stößt auf etwas, das sich durch eine spezifische Inhaltlichkeit bestimmt, durch das Erlebnis von Sinn und Sinnstiftung – nicht im Sinne konkreter Vorstellungen, sondern im Sinne des Erlebnisses eines Erfülltseins oder Ergriffenseins. Unsere Seele ist dann Gefäß für die Anwesenheit geistiger Wesen, für Wesentliches, dessen man inne ist. Joseph Beuys hätte dieses Innesein bzw. diese Anwesenheit vielleicht mit dem Begriff ‹Richtkräfte› charakterisiert. Gernot Böhme sprach von Atmosphären, von Stimmungen, von Anmutungen oder auch – mit Bezug auf Walter Benjamin – von Auren.19 Man kann aber auch von Regionen in diesem Weltinnenraum sprechen; von Regionen, die mehr Aufgabenbereichen als Territorien entsprechen. Erlebnismäßig gleichen sie Herrschaftsbereichen, spezifischen Gestimmtheiten, die wir innerlich durchwandern. Die Träger dieser Herrschaftsbereiche werden in der kirchlichen Tradition Mitteleuropas als die himmlischen Hierarchien bezeichnet. Traditionellerweise werden diese himmlischen Heerscharen in drei Hauptgruppen eingeteilt. Die erste Hierarchie umfasst von oben herab die Seraphim, die Cherubim und die Throne. Die zweite Hierarchie umfasst weiter herabsteigend die Kyriotetes, die Dynamis und die Exusiai; und die dritte, die unterste Hierarchie beherbergt die Archai, die Archangeloi und zuletzt die Angeloi.
Das Wirken dieser drei Hierarchiengruppen kann in der eigenen Seele als Denken, Fühlen und Wollen erlebt werden. Dasjenige, was wir als Wollen bezeichnen, ist das Erleben vom Wirken der ersten Hierarchie auf unserem Seelengrunde. Dasjenige, was wir als Fühlen bezeichnen, ist das Erleben vom Wirken der zweiten Hierarchie und dasjenige, was wir als Denken bezeichnen, ist das Erleben vom Wirken der dritten Hierarchie auf unserem Seelengrunde.20 Die Welt der göttlichen Heerscharen denkt, fühlt und will in uns.

Nun kann man aber auch in der Hinwendung zur Sinneswelt bemerken, dass man jeweils ganz Ähnliches auch dort erfahren und erleben kann. Man kann zum Beispiel beim Betrachten der Wiederkäuer die starke Stoffwechsel-Gliedmaßen-Betonung nicht nur entdecken, sondern auch: erleben. Man kann angesichts eines fliegenden Vogels dasselbe Erlebnis haben wie beim eigenständigen Denken.21 Und schließlich kann in der Wechselhaftigkeit zwischen lauernder Räuberlust und geschmeidiger Schläfrigkeit des Katzenartigen das Fühlen wiederentdeckt werden. Was sich so als die Dreigliederung der Tierwelt offenbart, kann auch in der Ein-Richtung des Menschen zwischen Oben, Mitte und Unten wiedergefunden werden. Der Blick nach unten rückt die Welt des Stofflichen, der Dunkelheit und der Schwere vor uns. Der Blick nach oben in den sonnendurchfluteten blauen Himmel erhebt uns in die Lichtleichtigkeit des Denkens, und der Blick in den Umkreis offenbart uns die Welt in ihrer beseelenden und vielfarbigen Buntheit.22
Das Ende der Wege Gottes
Die physische Welt als sinnliche Erscheinung ist die äußerste Emanation eines geistigen Weltinnenraumes, der ausschließlich aus geistigen Wesenhaftigkeiten besteht. Die physische Erscheinung ist, um mit Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) zu sprechen, das Ende der Wege Gottes,23 gleichsam die letzte Zwiebelhaut einer geistigen Wesenswelt. Hinter dieser letzten Schicht gibt es keine weitere Emanation, gibt es keine atomistisch getragene Materie, die die physische Erscheinung begründen soll. Diese letzte Schicht ist selbst der materielle Aspekt des geistigen Weltinnenraumes.
Konsequenzen
Der Materialismus ist heute längst keine Theorie mehr darüber, wie die Welt beschaffen sei. Er ist im Verlauf der vergangenen hundert Jahre beinahe fragloses Lebensgefühl geworden. Wir nehmen die Welt zuerst als materielle. Daneben wachsen erst langsam neue Ansichten und noch langsamer neue Lebensgefühle. Zu diesem Wachstum möchten wir beitragen und das Gespräch darüber, auch und gerade innerhalb der anthroposophischen Bewegung, anregen. Denn es ist heute nicht mehr gleichgültig, wie wir über die Welt denken. Je weiter wir als Menschen allein der punkthaften Auffassungsweise eines Atomismus folgen, desto weiter treiben wir die Entwicklung der Erde in den Zustand einer götterlosen Scheinwelt hinein. Um zum Beginn dieses Aufsatzes zurückzukehren: Wir reden in der Beibehaltung der Vorstellung von ‹Atomen an sich› einem «in den Untergang hineinführenden Materialismus» das Wort. Durch unsere Betrachtungsart verkehren wir die Natur in eine von mechanischen Gesetzen gesteuerte Unternatur.24 Die Erde wird – zusammen mit uns selbst – in eine Entwicklungsrichtung getrieben, die sich immer weiter von ihrem Ursprung in der göttlich-geistigen Wesenswelt loslöst und sich davon abwendet, was in deren Absichten liegt, nämlich die Erde und mit ihr uns selbst in Freiheit wieder zu ihrem geistigen Ursprung zurückzuführen:25
Erde, ist es nicht dies, was du willst:
Unsichtbar in uns erstehn? –
Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? –
Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht,
ist dein drängender Auftrag?26
Illustrationen Nina Gautier, 2025. Nina Gautier ist eine Schweizer Produktdesignerin und Kräuterfärberin mit Sitz in Basel, Schweiz. Sie arbeitete von2015 bis 2019 als Grafik-Designerin für die Wochenschrift und ist heute freischaffend. Mehr Nina Gautier
Fußnoten
- Martin Rozumek, Materie als Phänomen, Geist als selbstbewusste Aktivität – Versuch, einen unauflösbaren Gegensatz zu transformieren, in: Der Merkurstab, Nr. 4/2023, S. 248–257; sowie: Stoffe und Prozesse – Erkundungen im Grenzgebiet zwischen dem Physischen und dem Ätherischen von Mensch und Natur, in: Der Merkurstab, Nr. 5/2023, S. 329–342. (Siehe dort auch für weiterführende Literatur)
- Hans-Christian Zehnter, Durch die Brille der Subjektivität – Drei Schlüssel zu einem Verständnis von Rudolf Steiners Zwölf-Sinnes-Konzept, in: Archivmagazin Nr. 12/2023, S. 46–73. (Siehe dort auch für weiterführende Literatur)
- Rudolf Steiner, Einleitungen und ausgewählte Kommentare zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. GA 1, Basel 2022, S. 332.
- A. a. O., S. 333.
- Rudolf Steiner, Gegensätze in der Menschheitsentwickelung. GA 197, Vortrag vom 25. Juli 1920, Dornach 1996, S. 98 f. Auslassungen und Einfügungen in eckigen Klammern durch die Autoren.
- So z. B. in dem bekannten Spruch «Suchet das wirklich praktische materielle Leben […]», in: Wahrspruchworte. GA 40, Dornach 1998, S. 137.
- Rudolf Steiner, Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins. Dornach 1983, Vortrag vom 20. Oktober 1910, S. 38.
- In der vierten Strophe von Rilkes Gedicht ‹Es winkt zu Fühlung› heißt es zum Beispiel: «Durch alle Wesen reicht der eine Raum: / Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still / durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, / ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.»
- Siehe z. B. Georg Maier, Von der Natur der Sehdinge, in: Goetheanum 56/1977, S. 68–69. Auch in: Georg Maier, blicken – sehen – schauen. Beiträge zur Physik als Erscheinungswissenschaft. Dürnau 2004, S. 119–123.
- Zitiert nach: Stefan Bollmann, Der Atem der Welt. Stuttgart 2022, S. 374.
- Siehe z. B. das Kapitel ‹Ausblicke› in: Rudolf Steiner, Vom Menschenrätsel. Basel 2023, S. 164 f.: «Goethe spricht in seiner Art von dem Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein und nennt die Seelenfähigkeit, die dadurch erlangt wird, ‹anschauende Urteilskraft›. Diese anschauende Urteilskraft verleiht der Seele, nach Goethes Ansicht, die Fähigkeit, das zu schauen, was sich als die höhere Wirklichkeit der Dinge dem Erkennen des gewöhnlichen Bewusstseins verbirgt. Goethe hatte sich mit dem Bekenntnis zu einer solchen Fähigkeit des Menschen in Gegensatz gestellt zu Kant, der dem Menschen eine ‹anschauende Urteilskraft› abgesprochen hat. Goethe aber wusste aus der Erfahrung des eigenen Seelenlebens heraus, dass ein Erwachen des gewöhnlichen Bewusstseins zu einem solchen mit anschauender Urteilskraft möglich ist.» – Ein Beispiel für eine solche anschauende Urteilskraft ist das von Goethe und Schiller so benannte «sinnlich-sittliche Erleben» von Farben.
- Vgl. hierzu z. B. das Kapitel II ‹Die Dreigliederung des menschlichen Organismus› in: Rudolf Steiner, Organisches Denken. Herausgegeben und kommentiert von Renatus Derbidge, Basel 2021.
- Rudolf Steiner, Des Menschen Sinnes- und Denkorganisation im Verhältnis zur Welt, in: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, Basel 2024, S. 399–405.
- Damit hört diese Erscheinungswelt auch auf, bloße Erscheinungswelt zu sein. Sie ist vielmehr eine wesensgetragene, wesensdurchsetzte Darstellung des geistigen Weltinnenraumes. «Wenn zu den Sinneswahrnehmungen die Ideen hinzuerlebt werden, dann wird die Sinneswelt in ihrer objektiven Wesenhaftigkeit von dem Bewusstsein erlebt. Erkennen ist nicht ein Abbilden eines Wesenhaften, sondern ein Sich-hinein-Leben der Seele in dieses Wesenhafte. Innerhalb des Bewusstseins vollzieht sich das Fortschreiten von der noch unwesenhaften Sinnenwelt zu dem Wesenhaften derselben. So ist die Sinnenwelt nur so lange Erscheinung (Phänomen), als das Bewusstsein mit ihr noch nicht fertig geworden ist. In Wahrheit ist die Sinneswelt also geistige Welt; und mit dieser erkannten geistigen Welt lebt die Seele zusammen, indem sie das Bewusstsein über sie ausdehnt. Das Ziel des Erkenntnisvorganges ist das bewusste Erleben der geistigen Welt, vor deren Anblick sich alles in Geist auflöst.» Rudolf Steiner, Mein Lebensgang. GA 28, Kapitel XVII., Basel 2000, S. 245.
- Rudolf Steiner, 1924, Notizbuch Nr. 336.
- Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung. GA 199, Vortrag vom 8. August 1920, Dornach 1985, S. 50. Ergänzung in eckigen Klammern durch die Autoren.
- Zu den folgenden Ausführungen siehe auch: Hans-Christian Zehnter, Und Frieden den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind, in: Ein neuer Mensch? Gedanken zum Menschwerden im 21. Jahrhundert. Birnbach 2023.
- Vgl. z. B. die Aussage Steiners: Geisteswissenschaft «muss eine Art tapfere Wissenschaft sein; eine Wissenschaft, welche es mutig wagt, die Impulse der Wahrheit nicht durch Anschauung, sondern durch innerliches Erleben zu erfahren.» Rudolf Steiner, Menschenseele, Schicksal und Tod. GA 70a, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2022, Vortrag vom 16. Februar 1915, S. 149.
- Gernot Böhme, Atmosphäre. Edition Suhrkamp, Frankfurt 2013; dort Abschnitt 3. «Aura bei Benjamin» im Kapitel ‹Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik›.
- Vgl. hierzu die Leitsätze 59, 60 und 61 in: Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze. GA 26, Basel 2024, S. 161.
- Vgl. z. B.: «Der Vogel ist der fliegende Gedanke», in: Rudolf Steiner, Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes. GA 230, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 2022, Vortrag vom 27. Oktober 1923, S. 88.
- Näheres hierzu siehe: Hans-Christian Zehnter, Anschauungen – Vom Vertrauen in die Phänomene. Verlag am Goetheanum, Dornach 2020.
- Im ‹Biblischen Wörterbuch› von Friedrich Christoph Oetinger heißt es unter dem Stichwort ‹Leib›: «Die Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes.» Bereits zu Lebzeiten Oetingers wurde der Satz in der Form «Die Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes» zitiert.
- Vgl. Rudolf Steiner, Von der Natur zur Unternatur, in: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, Basel 2024, S. 425–429.
- Vgl. Rudolf Steiner, Die Weltgedanken im Wirken Michaels und im Wirken Ahrimans, in: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, Basel 2024, S. 273–279, bzw. die Gesamtheit der sog. ‹Michaelbriefe› in diesem Band.
- Aus der ‹Neunten Duineser Elegie› von Rainer Maria Rilke.
Gerade habe ich den gewichtigen Aufsatz von Rozumek und Zehntner im „Goetheanum“ Nr. 7 gelesen – und mich über die Aufforderung zum Gespräch gefreut.
Gerne würde ich einen Aufsatz über Quantenbiologie und Quantenphysik einreichen, der m.E. einen Beitrag zum Veständnis der Materie geben kann.
Wunderbar! Vielen Dank.
Kai Hansen
Lieber Martin, lieber Hans-Christian,
vielen Dank für Euren Beitrag in der aktuellen Ausgabe Das Goetheanum.
Ich kann den Ausführungen weitgehend folgen, habe aber leider keinen Zugriff auf merkurstab und Archivmagazin (würde Eure Beiträge dort gerne lesen).
Bei einer Formulierung mag ich Euch nicht so folgen, weil er m.E. gerade das entstehende Bild verfälscht:
„… – etwa so, wie auch ein Bienenstaat aus vielerlei Wesen und zugehörigen Aufgabenzuordnungen besteht.“
Schon der Begriff „Bienenstaat“ passt nicht wirklich – und es entsteht dadurch (wie m.E. auch bei dem Hilfsbegriff „Superorganismus“) ein Bild, als sei der Organismus „wie von außen“ zusammengesetzt. Der Lebensstrom, der ihn bildet und schließlich in die Erscheinung bringt, kommt aber von innen. Ihr nehmt ja auf solchen Prozeß Bezug, verkehrt dann aber die Aussage – so wie ich Euch verstehe – in Umgekehrte.
Ich habe in einem Beitrag in der Wochenschrift im April 2022 versucht, hier gerade aus der Betrachtung der Lebensäußerung der Honigbienen eine andere Perspektive aufzuzeigen:
https://dasgoetheanum.com/individualitaet-im-zusammenspiel/
Vielleicht mögt Ihr das mit Eurem Begriff in einen Vergleich bringen – mich würde interessieren, was dadurch entsteht.
Mit besten Grüßen
Michael Weiler
https://www.der-bienenfreund.de/