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Maßlosigkeit

Ein Symptom unserer Zeit ist die Maßlosigkeit. Auf den Finanzmärkten werden Summen bewegt, die nicht mehr vorstellbar sind. Moderne Atomwaffen sind dazu angelegt, die Erde mehrmals zu zerstören. Die Griechen sprachen von einer Nemesis, davon, dass alles Menschliche ein bestimmtes Maß haben und dessen Überschreitung zum Verderben und zum Untergang führen muss.


Die Griechen stellten auch die Frage nach dem Maß, das heißt die Frage, wann eine Veränderung der Quantität eine Veränderung der Qualität mit sich bringt. So zum Beispiel mit der Frage, wie viel Weizenkörner einen Haufen bilden oder ab wie viel Menschen wir von einer ‹Gruppe› sprechen können? In der Natur hat alles ein Maß, zum Beispiel bewirkt das Vermehren oder Vermindern der Temperatur, dass das Wasser seine Qualität verändert: Es kann mit einem Anstieg der Temperatur zu Gas verdampfen oder beim starken Abkühlen zu Eis gefrieren.

Auch die Frage der Flüchtlinge ist eine Frage nach dem Maß: Wie viel Menschen kann eine Gesellschaft, kann ein Staat aufnehmen, ohne dass sich die Quantität auf seine Qualität auswirkt.

Über diese Frage, die viele Menschen umtreibt, wird zurzeit heftig gestritten, nicht nur in Europa. Auch an der Südgrenze der USA stellt sich die Frage, wie mit den Emigranten umzugehen ist. Die Wahrnehmung, wann das Maß voll ist, ist unter verschiedenen Bevölkerungsgruppen und innerhalb der Staaten natürlich sehr unterschiedlich. Es handelt sich aber nicht bloß um ein ökonomisches Problem, denn bezeichnenderweise nehmen die Länder mit mittleren oder niedrigen Einkommen wie die Türkei, Jordanien, Libanon und Pakistan die meisten Flüchtlinge auf, während es gerade in den ‹reichen› Ländern unter der Bevölkerung mehr Widerstand gibt, Asyl zu gewähren. Die südlichen Länder Europas sind insofern sensibilisierter, als in den Mittelmeerländern wie Griechenland, Italien und Spanien der Druck der ankommenden Emigranten aus Afrika größer ist als woanders.

Was Deutschland betrifft, so ist Syrien das Herkunftsland Nummer eins mit etwas über 700 000 Menschen der 6,3 Millionen, die bisher vor den Kriegswirren aus Syrien geflohen sind. In Deutschland droht gegenwärtig die Regierung an der Frage, wie der Zustrom von Emigranten gestoppt werden kann, zu zerbrechen. Einerseits besteht die humanitäre und auch internationale Verpflichtung, Flüchtlingen Asyl zu gewähren, gleichzeitig muss es (notgedrungen) maßvoll sein.

Entscheidend für die Zukunft wird nicht sein, wer höhere Grenzzäune zieht, sondern ob es gelingt, in den Ländern, aus denen die Menschen fliehen, bessere Lebensverhältnisse zu schaffen, insbesondere in der Landwirtschaft. Der Export der Produktionsüberschüsse der reichen Länder muss aufhören, denn er macht in den Importländern die Preise kaputt. Menschen fliehen ja nicht, wenn sie genügend Einkommen haben, um sich und ihre Familie zu ernähren, sondern aus Not. Die Kriege dürfen nicht weiter angefacht werden, wie in Libyen und Syrien. Der frühere libysche Diktator Muammar al-Gaddafi warnte im Februar 2011, ein halbes Jahr vor seiner Ermordung durch die Soldateska der Opposition, nachdem sein Konvoi von NATO-Bombern angegriffen worden war, in einem Interview mit dem französischen ‹Journal du Dimanche›: «Wenn ihr mich bedrängt und destabilisieren wollt, werdet ihr Verwirrung stiften, al-Qaida in die Hände spielen und bewaffnete Rebellenhaufen begünstigen. Folgendes wird sich ereignen: Ihr werdet von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden, die von Libyen aus nach Europa schwappt. Es wird niemand mehr da sein, um sie aufzuhalten.»

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Folgendes wird sich ereignen: Ihr werdet von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden, die von Libyen aus nach Europa schwappt. Es wird niemand mehr da sein, um sie aufzuhalten.

Gaddafi sollte recht behalten, Libyen ist jetzt nicht nur ein ‹failed state›, ein in unterschiedliche, sich bekämpfende Fraktionen gespaltenes Land, in dem Anarchie herrscht, es ist auch Transitland Nummer eins für Flüchtlinge aus Mali, Niger, Tschad usw. Sarkozy, Cameron und Obama, die Hauptverantwortlichen für den Sturz Gaddafis, haben damit den Europäern keinen Gefallen getan, vermochte er doch die zentrifugalen Kräfte des Landes zusammenzuhalten.

Auch an der chaotischen Situation in Syrien ist Europa nicht unschuldig. Vor ein paar Wochen, Ende Mai 2018, haben die 28 Außenminister der Europäischen Union beschlossen, die Sanktionen gegen Syrien, die seit dem Jahr 2011 bestehen, um ein Jahr bis Juni 2019 zu verlängern. Die Sanktionen von 2011 sind letztlich einer der Gründe für den wirtschaftlichen Ruin des Landes, blieb doch manchem arbeitslosen Vater – um ein Beispiel zu nennen – keine andere Möglichkeit, um seine Familie zu ernähren, als sich einer der Kriegsparteien zu verdingen. Es ist kein Geheimnis, dass Saudi-Arabien und die Emirate den Aufstand gegen Präsident Assad mitfinanzieren, an erster Stelle aus wirtschaftlichen und geopolitischen Gründen (Öl- und Gas-Routen). Ihr Ziel ist es, den Konkurrenten Iran zu schwächen. Die Sanktionen der Europäischen Union von 2011 umfassen ein Ölembargo, Beschränkungen bestimmter Investitionen, das Einfrieren der Vermögenswerte der syrischen Zentralbank in der EU, Ausfuhrbeschränkungen für Geräte und Technologien usw. Nur die Einfuhr von Waffen wurde 2013 etwas gelockert. Die Sanktionen sind nach wie vor ein Garant dafür, dass das Land nicht wieder auf die Beine kommt und sich erheben kann. Statt in den Aufbau zu investieren, zieht es die Europäische Union vor, die Agonie zu verlängern und so zu verhindern, dass die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkönnen. Peter Scholl-Latour nannte sein letztes Buch ‹Der Fluch der bösen Tat›. Die Flüchtlingsfrage gehört auch in diese Kategorie. Sie ist unsere Nemesis.


Foto: Nemesis

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