Mangel an sozialer Kreativität?

In Frankreich brodelt die Wut weiter.


Am Rande der 1.-Mai-Demonstrationen in Frankreich wurden 540 Personen festgenommen und 406 Polizisten und Gendarmen verletzt. Am selben Tag befasste sich der UN-Menschenrechtsrat mit dem Fall Frankreich. Unter den vielen Kritikpunkten, die geäußert wurden, zeigten sich einige Delegationen, wie die von Schweden, Norwegen und Dänemark, besorgt über die Polizeigewalt.

Warum löst eine Rentenreform, die aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen notwendig erscheint, fast einen Bürgerkrieg aus? In diesem Zusammenhang sollte man sich an die große Gelbwesten-Bewegung erinnern, die durch nichts aufzuhalten schien, bevor die Covid-Krise eintrat. Die Bewegung hatte keine klaren Forderungen und war vor allem Ausdruck eines sozialen Unwohlseins und einer tiefen Vertrauenskrise gegenüber der Regierung und den Medien.

Die heute vorgeschlagenen Reformen werden als bloße soziale Rückschritte empfunden. Sind diese Proteste nicht die Konsequenz eines Mangels an sozialer Kreativität? Obwohl ein rein rationales Denken Einschränkungen rechtfertigt, scheint die Zeit etwas anderes zu verlangen: ein kreatives Denken für eine grundlegende, auf Vertrauen bauende Neugestaltung des Sozialvertrags.

Trotz der Versuche, die demokratischen Prozesse zu erneuern, ist die Machtausübung in Frankreich weiterhin von der Dominanz einer zentralisierten Exekutive geprägt, die manche, wie der Grüne Yannick Jadot, unumwunden als «autoritär» bezeichnen. Auf sozialer Ebene scheinen wirklich innovative Ideen – wie das Grundeinkommen, das von mehreren politischen Bewegungen befürwortet wird – ebenfalls nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Vielleicht ist Frankreich heute ein gutes Beispiel dafür, dass die universellen Ideale des 18. Jahrhunderts an ihre Grenzen stoßen, wenn sie nicht von einem imaginativen Denken begleitet werden, das zu Innovationen fähig ist, die als sozialer Fortschritt empfunden werden und Vertrauen schaffen können.


Bild Gelbwesten-Proteste in Frankreich (2018). Foto: Koshu Kunii

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