Einer der engsten Freunde Rudolf Steiners in seinen ersten Studienjahren war Rudolf Ronsperger (29. Aug. 1863–2. Okt. 1890)1, der Sohn des jüdischen Wiener Konditormeisters Felix Ronsperger. Aus seinem Nachlass stammen einige frühe Briefe Rudolf Steiners, die uns einen intimen Einblick geben in das, was ihn im Sommer 1881 beschäftigt hat.2
Rudolf Ronsperger studierte wie Rudolf Steiner an der Technischen Hochschule, aber ungern, denn er fühlte sich zur Literatur hingezogen und hätte lieber die Universität besucht. Eine Zeit lang strebte er den Wechsel an, betrieb ihn aber nicht energisch genug. Nach dem Selbstmord seines Vaters im Oktober 1881 musste er das Studium ganz abbrechen und eine Stelle bei der Nordwestbahn annehmen; in der ersten Zeit hielt er noch Briefkontakt mit Rudolf Steiner. Im Eisenbahndienst fühlte sich Rudolf Ronsperger sehr unglücklich; 1890, erst 27-jährig, nahm er sich das Leben. Im Abschiedsbrief an eine Tante schrieb er, er wolle «ein Leben nicht fortsetzen, welches mir wenig wahre Befriedigung gewährte und welches mir zum Schlusse nur die Aussicht auf ein ödes, liebeleeres Dasein bereitete, indem es mir dasjenige Wesen entriss, welches ich mit aller Glut meiner Seele und meines Körpers liebte. Der Schandfleck unserer Zeit, blinder Rassenhass, hat auch sein Teil daran.»3
Erst zehn Jahre später hörte Rudolf Steiner vom tragischen Schicksal des Freundes, als ihm dessen «Schwester, die Frau eines angesehenen in Berlin lebenden Schriftstellers, den Nachlass» übergab, der neben dichterischen Produktionen auch einen von Rudolf Ronsperger 1886 an ihn geschriebenen, aber nie abgeschickten Brief enthielt, da er die Adresse «nicht erfragen konnte».4
Was war das für ein lieber, lieber Junge! Aus ihrem Munde klang das menschlich tief beeindruckend.
Ein waches Leben
Diese Schwester, Luise Kautsky-Ronsperger (Wien, 11. Aug. 1864–8. Dez. 1944, Auschwitz), war die zweite Frau des bekannten sozialdemokratischen Politikers und Marx-Experten Karl Kautsky (1854–1938). Sie hatte nach der Bürgerschule die Höhere Bildungsschule besucht, was für ein Mädchen in dieser Zeit ungewöhnlich war. Nach dem Tod des Vaters musste sie jedoch, erst 17-jährig, die Konditorei der Eltern führen. Über einen anderen Freund ihres älteren Bruders Rudolf, den Schauspieler Viktor Kutschera (1863–1933), lernte sie zunächst den Theatermaler Hans Kautsky (1864–1937) kennen. Mit dessen Mutter, der bekannten Wiener Romanschriftstellerin und Sozialistin Minna Kautsky (1837–1912), freundete sie sich an. Erst einige Jahre später begegnete sie auch deren älterem Sohn Karl – und wurde 1890 seine Frau. Das Ehepaar lebte zunächst in Stuttgart, in der Nachbarschaft der befreundeten Familie Bosch; dort wurden auch ihre drei Söhne Felix, Karl und Benedikt geboren. 1897 – im selben Jahr wie Rudolf Steiner – zog die Familie nach Berlin. Hier befreundete sich Luise Kautsky bald innig mit Rosa Luxemburg, die sie zum Schreiben ermunterte. Sie folgte dem Rat und blieb fortan immer publizistisch tätig. Nach der Ermordung ihrer Freundin Rosa gab sie unter anderem deren Briefe heraus. Ansonsten amtete sie gewissermaßen als Sekretärin und Lektorin ihres Mannes, doch war sie zeitweise auch Stadtabgeordnete in Charlottenburg. 1920 besuchte sie mit ihrem Mann zusammen für einige Monate die Demokratische Republik Georgien, wo Karl Kautsky sehr verehrt wurde. Auch über diese Reise schrieb sie Berichte.
1924 zog das Ehepaar Kautsky – sich in Deutschland zunehmend politisch isoliert fühlend – wieder nach Wien, wo ihre Kinder und Enkel lebten. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nahm Karl Kautsky, der Halbtscheche war, zusammen mit seiner Frau die tschechische Staatsbürgerschaft an. Das Ehepaar verließ Anfang 1938 Österreich Richtung Prag, musste aber von dort nach dem ‹Anschluss› in die Niederlande fliehen, wo Karl Kautsky nach kurzer Zeit an einem Herzschlag starb. Als die deutschen Streitkräfte im Mai 1940 auch die Niederlande besetzten, wurde Luise Kautsky zunächst «als Mutter halbarischer Kinder […] in Ruhe gelassen; brauchte auch nicht den Stern zu tragen, stand aber unter Polizeiaufsicht». Kurz nach ihrem 80. Geburtstag «wurde sie bei einer Haussuchung doch noch mitgenommen»5 Man deportierte sie ins KZ Westerbork, von dort aus nach Theresienstadt und schließlich nach Auschwitz – wo sie nur circa fünf Kilometer von ihrem Sohn Benedikt entfernt war, der seit 1938 in verschiedenen Konzentrationslagern interniert war. Durch Helfer konnte Luise Kautsky dem Sohn in ihren letzten Lebenstagen zwei Zettelchen mit einigen Zeilen zukommen lassen. Benedikt Kautsky berichtete seinen Brüdern in einem Brief vom 26. Mai 1945 über den – unter diesen Umständen überraschend sanften – Tod der Mutter: «Sie ist in ihrem Bett friedlich gestorben […], nach sechs Wochen Haft, die sie im Krankenhaus verbracht hat. Das Maß der Qual, die sie erduldet haben muss, schon auf dem Transport, dann in der grauenhaften Atmosphäre von Birkenau, deren Schrecken nur der wirklich ermessen kann, der diese Luft selber geatmet hat, muss entsetzlich gewesen sein – und doch, wie viel Tapferkeit sprach aus ihren Worten, die sie mir mündlich und schriftlich überbringen ließ. Brüder, wir können stolz sein, die Söhne dieser Mutter zu sein!»6 Die Häftlingsärztin Lucie Adelsberger berichtete: «Bei aller körperlichen Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit war Luise Kautsky geistig von einer Elastizität, die uns Jüngere fast beschämte. An ihrem Willen durchzuhalten konnten sich die andern ein Beispiel nehmen.»7
Ein Foto für Lebensmittel
Durch Briefe des Christengemeinschaftspriesters Walter Gradenwitz (1898–1960) an Marie Steiner und Werner Teichert enthüllt sich ein bewegender Zusammenhang. Gradenwitz hatte teilweise jüdische Vorfahren, weswegen er 1935 von der Oberlenkung der Christengemeinschaft gebeten worden war, «das Reichsgebiet zu verlassen und in den Niederlanden mitzuarbeiten».8 Nach der Okkupation der Niederlande musste er – als christlicher Priester! – den Judenstern tragen und durfte nur noch mit Juden verkehren. In diesem Zusammenhang lernte er Luise Kautsky kennen. Sie war, so berichtet er am 25. März 1948 an Werner Teichert, «eine ganz besondere Frau; man möchte sagen, eine ganz reife, gütige, tief durchchristete Persönlichkeit – ihre jüdische Abstammung u. ihre kommunistischen Ideale waren demgegenüber ganz etwas Äußerliches geworden. Wenn sie von Dr. St. sprach, dachte sie an ihn in seiner Studentenzeit (die Berührung mit ihm, als sie ihm den Nachlass ihres Bruders gab, muss ganz kurz oder nur brieflich gewesen sein), u. er stand so vor ihr, dass sie immer wieder sagen konnte: Was war das für ein lieber, lieber Junge! Und aus ihrem Munde klang das menschlich tief beeindruckend.»
Walter Gradenwitz erhielt nun von Luise Kautsky eine «Fotographie von Herrn Dr. Steiner aus den achtziger Jahren», um davon «etwa 200 Abzüge machen» zu lassen. Wofür? Um «von dem Ertrag jüdischen Mitgliedern in Konzentrationslagern Lebensmittelpakete schicken zu können»!9 Doch ging das Original der Fotografie, «das sich in den Händen von Frau Kautski befand, […] durch ihren plötzlichen Tod verloren».10
Diese Jugendfotografie Rudolf Steiners war von dem Wiener Fotografen, Maler und Dichter Josef Anton Trčka (1893–1940) in der für ihn typischen Art – indem er z. B. den Hintergrund im Negativ mit dem Pinsel veränderte – bearbeitet worden. Trčka und seine Frau Clara interessierten sich ab 1915 für die Anthroposophie. Offenbar war ihm von Luise Kautsky die Originalfotografie aus den 1880er-Jahren, die wohl noch aus dem Besitz ihres Bruders stammte, in ihrer späteren Wiener Zeit überlassen worden. Es ist bemerkenswert, dass sie diese Jugendfotografie Rudolf Steiners dann mit in die Emigration genommen hat!
Footnotes
- Eine ausführlichere Lebensskizze Rudolf Ronspergers findet sich in meinem Buch: Rudolf Steiner. Kindheit und Jugend. Dornach 2018, S. 298–303.
- Die Briefe waren im Besitz von Karl Kautsky jun., dem zweiten Sohn Luise Kautskys, der «als Arzt in Kalifornien lebte». Er stellte die Briefe, wie Friedrich Hiebel im ‹Goetheanum› 9/1967 vom 26. Februar 1967 berichtete, «dem Goetheanum zur Verfügung».
- Kautsky Papers ARCH00712.1751_4, Internationales Archiv für Sozialgeschichte, Amsterdam.
- Siehe Rudolf Steiners Artikel ‹Ein Denkmal›, in: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887–1901. GA 31, 3. Aufl. Dornach 1989, S. 364. Er war von Rudolf Ronspergers Schicksal, das er zugleich als «die begreifliche Folge seines österreichischen Charakters und der […] österreichischen Verhältnisse» ansah, so erschüttert, dass er ihm dieses literarische ‹Denkmal› setzte. Auch in ‹Mein Lebensgang› gedenkt Rudolf Steiner des Freundes (GA 28, 9. Aufl. Dornach 2000, S. 77 f.).
- Brief von Walter Gradenwitz an Werner Teichert, 25. März 1948, Rudolf-Steiner-Archiv.
- Aus dem Nachlass Benedikt Kautsky, VGA Wien.
- Aus: Günter Regneri, Luise Kautsky. Seele des internationalen Marxismus – Freundin von Rosa Luxemburg. Berlin 2013, S. 51.
- Rudolf Gädeke, Die Gründer der Christengemeinschaft. Ein Schicksalsnetz. Dornach 1992, S. 350.
- Im Brief an Werner Teichert konkretisiert er, die «300 Abzüge wurden zum Besten anthroposophischer Freunde u. Mitglieder der Christengemeinschaft, die hier oder in Theresienstadt inhaftiert waren, verkauft».
- Beide Briefe befinden sich im Rudolf-Steiner-Archiv.