Licht ist das große Versprechen aller Religionen und es ist das Licht, das nicht nur die Orientierung in der Welt schenkt, sondern auch das Wohlbefinden prägt. Was ist die physiologische und die therapeutische Bedeutung des Lichtes? Wie lässt sich die geistige Dimension des Lichtes verstehen? Die Jahreskonferenz der Medizinischen Sektion lädt alle therapeutischen Berufe und die Öffentlichkeit am Goetheanum vom 13. bis 16. September 2018 ein, sich mit dem Wesen des Lichtes zu beschäftigen. Ein Gespräch mit Georg Soldner, Mitverantwortlicher der Medizinischen Sektion.
Gibt es eine Anthroposophie des Lichts?
Ich würde nicht von einer Anthroposophie des Lichtes sprechen, sondern von seinem geisteswissenschaftlichen Verständnis. Wir können hier mehrere Ebenen unterscheiden: das physikalisch beschreibbare Licht, das im Lebendigen wirksame Licht, das Licht der Seele und das geistige Wesen des Lichtes. Die grundlegende Erkenntnis dabei ist der kosmische Ursprung des Lichts, dem alles Leben auf Erden sein Dasein verdankt, beginnend mit der Fotosynthese der Pflanzen. Das Licht verbindet sich hier mit dem grünen Pflanzenfarbstoff, dem Chlorophyll und seinem ‹Lichtmetall› Magnesium. Aus Licht wird Leben, und zugleich wird dadurch die Lufthülle der Erde so verwandelt, dass sich höheres, beseeltes Leben entwickeln und atmen kann. Die Atmung wiederum ermöglicht uns, das Licht des Bewusstseins als inneres Licht zu entfalten.
In der Depression erlebt der Patient eine Verfinsterung und Verdunkelung der Seele. Das seelische Licht ist getrübt und bedarf der therapeutischen Unterstützung. Depressionen treten in lichtarmen Jahreszeiten gehäuft auf, das äußere und das innere Licht stehen in Zusammenhang. – Mit jedem Erkennen geht uns ‹ein Licht auf›. Es entzündet sich ein geistiges Licht, das mit dem erkennenden Wesen verbunden ist und das wir in unsere Umwelt ausstrahlen.
Wie und wo wirkt Licht auf den Menschen?
Licht ist heute für viele Kinder und Erwachsene vor allem Kunstlicht. Dieses Licht ist qualitativ (in seinem Spektrum) und in seiner Intensität weit von der Leuchtkraft und der Fülle des Sonnenlichts entfernt, auch an einem trüben Tag. Eine unmittelbare Folge dieses zunehmenden Lichtmangels zeigt sich an den Augen: So tragen 96 Prozent aller Studenten in Südkorea Brillen oder Kontaktlinsen und wir erleben eine weltweite Epidemie der Kurzsichtigkeit. Ein Drittel aller Betroffenen entwickelt im Laufe des Lebens eine hochgradige Kurzsichtigkeit, die zu schwerwiegenden Folgeerkrankungen des Auges und entsprechender Beeinträchtigung des Sehens führen kann. Der Hintergrund ist eine Kindheit unter Kunstlichtverhältnissen, mit langen Phasen des Lesens und des Bildschirmgebrauchs bis in die Nacht, was dazu führt, dass der Augapfel nicht die rechte kugelförmige Form entwickelt, sondern sich verlängert und dadurch latent die Netzhaut überdehnt. Dies ist nur ein Beispiel.
Sonnenlicht ist besonders in den ersten sieben Lebensjahren und während des ganzen weiteren Lebens ein zentrales Nahrungsmittel des menschlichen Organismus, wie Luft, Wasser und was wir essen. Das gilt auch für blinde Menschen. Heute erleben wir eine gegenläufige Angst bis zur Panikmache: die Angst vor Hautkrebs, vor allem dessen bedrohlichster Form, dem schwarzen Hautkrebs (malignes Melanom) einerseits, die Angst vor Vitamin-D-Mangel andererseits. So wird in sehr vielen Kindergärten gefordert, die Kinder nur eingecremt mit hochpotenten Sonnencremes ‹Lichtschutzfaktor 50› ins Freie zu lassen. Diese Cremes enthalten nicht nur sexualhormonähnliche Stoffe, die resorbiert werden, sondern machen die gesunde Aufnahme des Sonnenlichts und die Vitamin-D-Bildung unmöglich. Die Haut lernt nicht, sich dem Sonnenlicht anzupassen, was bei 98 Prozent aller Kinder möglich ist – nur wenige Kinder mit ‹keltischem Hauttyp› (blass, hellblond – rothaarig) benötigen einen stärkeren Sonnenschutz. Hinzu kommt, dass es keine einzige wissenschaftliche Studie gibt, die eine Schutzwirkung gegen schwarzen Hautkrebs durch diese Cremes belegt. Positiv schützen Textilien, und wir alle brauchen eigentlich täglich Sonnenlicht auf unserer Haut!
Das Vitamin D wird lichtabhängig in unserer Haut gebildet und in den inneren Organen aktiviert. Es ist ein Lichthormon und kein Vitamin. Vitamin-D-Mangel kann schwere Krankheiten zur Folge haben: Kleinkinder können Rachitis entwickeln, also eine Verformung des Skeletts und sogar lebensbedrohliche Muskelkrämpfe. In allen Lebensaltern führt Sonnenlicht- und Vitamin-D-Mangel zu einer höheren Infektanfälligkeit, worauf bereits Rudolf Steiner sehr zu Recht bei der Tuberkulose hingewiesen hat. Krebserkrankungen wie der Darmkrebs sind bedeutend häufiger bei Licht- und Vitamin-D-Mangel. Heute ist es bei jedem Patienten, von der Vorsorge im Babyalter bis zur Betreuung alter, z. B. gehbehinderter Patienten dringend notwendig, nach dem Tagesrhythmus, der Aufnahme von Sonnenlicht und von lichttragenden Nahrungsmitteln zu fragen. Besonders häufig ist derzeit der Vitamin-D-Mangel im Jugendalter, was auch erheblich zu Konzentrationsstörungen und Stimmungsschwankungen Jugendlicher beiträgt, abgesehen von Skelettaufbau und Muskelkraft, die lichtabhängig sind.
Inwiefern wird Licht heute einbezogen in der klassischen Medizin, welche Komplemente werden von der Anthroposophischen Medizin angeboten?
Es gibt verschiedene Formen von Lichttherapie in der Medizin. Sie reichen von der Fototherapie des Neugeborenen mit Neugeborenengelbsucht bis hin zur Lasertherapie. Gut bekannt ist die therapeutische Wirksamkeit des Lichts bei manchen Formen depressiver Erkrankungen. Die lichtabhängige, saisonale Winterdepression ist gerade in nordischen Ländern ein wichtiges Thema, aber auch bei uns nicht selten.
Welche anthroposophischen Lichttherapien gibt es?
In der Anthroposophischen Medizin spielen Arzneimittel mit innerem Lichtbezug eine wichtige Rolle. Besonders hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die Honigbiene, die ganz in Licht und Wärme lebt. Honig selbst ist z. B. ein wunderbares Wundheilungsmittel; aus der Biene gewinnen wir wesentliche Arzneimittel für die Behandlung akuter Entzündungen, aus der Bienenkönigin für depressive Störungen, Störungen des Zentralnervensystems und Schwächungen der Fortpflanzungsorgane.
Unter den Heilpflanzen ist die Lichtbeziehung des Johanniskrauts besonders bekannt geworden. In der Anthroposophischen Medizin spielen besondere Herstellverfahren, durch die das Johanniskraut einen pharmazeutisch hergestellten Golddünger aufnimmt und in seinen Lebensprozessen ‹potenziert›, eine wichtige Rolle, wenn wir Depressionen behandeln. Das Sonnenmetall Gold in potenzierter Form stärkt den Patienten, der eine innere Verfinsterung des Ichs erlebt. Die Aurum-(Gold)-Lavendel-Creme ist weltweit eines der gefragtesten anthroposophischen Arzneimittel bei Angst und Herzbeklemmungen und wird auf die Mitte der Brust oder als Herzeinreibung aufgetragen. Hier erleben sehr viele Patienten eine unmittelbare Wirksamkeit.
Lichttragende Substanzen sind auch viele ätherische Öle, die wir für äußere Anwendungen verwenden, und im Mineralischen ist ganz besonders der Phosphor, zu deutsch: Lichtträger zu nennen, in potenzierter Form ein zentrales anthroposophisches Arzneimittel z. B. bei schweren Infektionen. Ein Arzneimittel aus potenziertem Meteoreisen, Phosphor und Quarz ist ein wichtiges Mittel in der Vorbeugung und Behandlung der Grippe. Als ein Kollege dieses Mittel einer Patientin spritzte, sagte sie spontan: «Was haben Sie mir da gespritzt? Das ist ja eine Lichtspritze!»
Eine auf Rudolf Steiner zurückgehende therapeutische Anregung ist die Farb-Licht-Therapie. Hierzu bestehen zwischenzeitlich zahlreiche Erfahrungen und es wird an dieser Therapieform wissenschaftlich geforscht. Die Wundheilung der Haut wird von der Farbe des bestrahlenden Lichtes beeinflusst. Zahlreiche weitere Therapien der Anthroposophischen Medizin haben einen Bezug zum Licht. Allen voran ist hier die Maltherapie zu nennen, die den Patienten mit dem farbigen Licht in Beziehung bringt.
An der heutigen Architektur und Beleuchtung kann man unseren Lichthunger ablesen. Warum die aktuelle Sehnsucht nach Licht?
Die großen Fensterflächen geben uns nur die Illusion einer Lichtbeziehung, während gleichzeitig ein Großteil der Sonnenlichtwirksamkeit verloren geht. Und immer mehr fesselt der Bildschirm den Blick, bei Kindern und Jugendlichen in Südkorea inzwischen durchschnittlich 5,4 Stunden pro Tag. Im hellen Sonnenlicht – und daran erkennen wir indirekt die Dunkelheit unserer Innenräume – kann ich gar nicht mit Bildschirm arbeiten.
«The City Never Sleeps»: Geht uns die Dunkelheit verloren?
Für die Gesundheit von Mensch und Natur ist ein rhythmischer Wechsel von Licht und Dunkelheit erforderlich. Unser rhythmisches System ist gesunder Weise mit dem Gang der Sonne verbunden; die Qualität des Schlafes hat eine nachhaltige Bedeutung für unsere Gesundheit. Davon hängt z. B. für unser Immunsystem Entscheidendes ab. So bedeutet Schichtarbeit mit Nachtschichten eine erhebliche gesundheitliche Belastung. Es gibt heute in vieler Beziehung eine ‹Lichtverschmutzung›. Diese besteht nicht nur in der Qualität des Lichtes (z. B. led-Licht), sondern auch in seiner gestörten Rhythmizität.
In allen Religionen ist Licht das große Versprechen − «Ich bin das Licht der Welt» (Christentum), «Pfad der Erleuchtung» (Buddhismus), «Gott ist das Licht der Erde und der Himmel» (Islam).
Wir können fortsetzen: der anthroposophische Erkenntnisweg beginnt auch in einem Erleben der Finsternis, die in der existenziellen Frage nach Erkenntnis des eigenen Selbsts, dem Sinn, der Lebensaufgabe und vielen weiteren Fragen, deren Antworten zunächst im Dunkeln liegen, empfunden werden kann. Eine wesentliche Meditation Rudolf Steiners beginnt mit den Worten: «Ich schaue in die Finsternis …» Dann folgt: «In ihr ersteht Licht.» Der Erkenntnisweg führt von dem Erleben der Finsternis zu diesem Erleben geistigen Lichts. Aus diesem Grunde hat die Hochschultagung der Medizinischen Sektion, die der Jahreskonferenz im September vorausgeht, den Titel: ‹Finsternis – Farbe – Licht›. Licht ist nicht ein nur physikalisches Phänomen, ja es weist immer schon über die Welt der Materie hinaus. Alle weisheitsvollen Zusammenhänge in der Natur und im Weltenall können durch das Denken gefunden und ‹erhellt› werden. Sie sind lichtverwandt. Das menschliche Denken entdeckt Zusammenhänge, die nicht durch das menschliche Denken, sondern ein ‹Weltendenken› gebildet sind. Diesem liegen schöpferische Wesen zugrunde. Insofern ist das Licht mit dem geistigen Wesen der Welt verbunden, mit den Lichtesgeistern der zweiten Hierarchie und dem Christus, der dieses Wort ‹Ich bin das Licht der Welt-›ausspricht.
Zu den Bildern: Im Schatten der Erde, im Licht der Sonne, Otto Reitsperger
Durch die Nacht zum Licht: Das analoge Filmmaterial wird mithilfe des Mondlichtes durch Langzeitbelichtungen überbelichtet. Eine Serie zeigt die Meere, eine andere die Wüsten ohne Sonne.
Langzeitaufnahmen,Analoge Farbfotografie, 93 x 93 cm, 2016,© 2018, ProLitteris, Zurich
www.ottoreitsperger.com
Bild ganz oben: Golf von Thailand bei Kho Phangan, 3:26–3:41, 13.2.2012