Kristalline Klarheit

An der Bildhauerschule Müllheim in der Ostschweiz ist noch bis 18. April 2022 die Ausstellung ‹Erinnerung an Wasser› mit Skulpturen von Peter Wulf zu sehen – Kräfte und Naturdynamiken, die eine stille Poesie ausstrahlen.


Es ist nicht zu ahnen, welch kulturelles Schaffen auf höchstem Niveau man vorfindet, wenn man die Autobahnausfahrt der N3 Müllheim/Wigoltingen in der Ostschweiz nimmt und die dortige Bildhauerschule aufsucht. Hier hat der Bildhauer Urs Strähl zusammen mit Hanspeter Bossert vor 32 Jahren eine Schule gegründet, an der das Handwerk der Bildhauerei in einer soliden Grundausbildung gelernt werden kann – vom Entwerfen und Abgießen der Modelle oder dem Schmieden der eigenen Werkzeuge bis hin zu Kopien antiker Kunstschätze oder der Erarbeitung einer Skulptur aus Stein.

Galerieansicht

Die Galerie der Bildhauerschule stellt insbesondere Künstlerinnen und Künstler aus, die an der Schule gelernt haben. Die Ausstellung ‹Erinnerung an Wasser› ist auf Anregung des kürzlich verstorbenen Schulgründers Urs Strähl entstanden. Einer seiner Schüler ist Peter Wulf. Seit seinem Abschluss zum Steinbildhauer 1985 arbeitet er konsequent und in aller Bescheidenheit in seinem Müllheimer Atelier und ist dabei dem Material Stein stets treu geblieben. Ein Resümee seines Werks ist derzeit im Oberlichtsaal der Schule – im Zwiegespräch mit Bildern des Kunstmalers Kurt Tuch – zu sehen. Stepanka Strähl führt die Galerie und ist auch Kuratorin der Ausstellung.

Schlichte Stelen

Ich betrete den Raum und lasse die Vielzahl der Skulpturen und Bilder auf mich wirken: Eine alpine Landschaftsstimmung steigt in mir auf. Klar und licht gliedert das stelenförmige Skulpturenensemble durch Platzierung und Gestik den Raum und erzeugt eine ausgewogene Komposition kristalliner Klarheit, während die Bilder an den Wänden einen Umraum und eine beinahe pflanzliche Wirkung entfalten.

Skulptur ‹Einnerung an Wasser›, Cristallina-Marmor

Wovon künden diese schlichten Stelen, die in zurückgehaltener Gestik und perfekter Formvollendung im Raum stehen?

Peter Wulf führt mich durch seine Ausstellung und erzählt mir, wie es zur Skulptur ‹Erinnerung an Wasser› am Eingang des Saals kam: «Kürzlich bin ich auf einer meiner vielen Zugreisen durch die Schweizer Berge ins Wallis gekommen. Da gibt es eine Stelle, an der ich wirklich erschrocken bin, und zwar kurz bevor der Zug bei Stalden ins Randatal in Richtung Zermatt einbiegt. Ich sah hoch und erblickte den Weißhorngletscher auf ca. 3800 Metern – ich dachte, vor mir tut sich der Himalaya auf. Es schien, als würden die dort aufgetürmten Eisklötze in ihrer gefährlichen Positionierung geradewegs in die Tiefe stürzen – mir wurde schwindlig. Zu Hause wusste ich: Daraus mache ich eine kristalline Studie. […] Während ich die Vorfenster malte, habe ich diese Skulptur (siehe Bild) entworfen, habe den Stein mithilfe eines Spiegels und seinem Schatten immer wieder und wieder mit Kohle angezeichnet. Ich zeichne meine Skulpturen immer aus dem Verhältnis der gegenüberliegenden Linie, also über Kreuz, an. So sieht nun die abgeschlossene Skulptur aus jeder Perspektive anders aus und stellt letztendlich zwei aufeinanderstehende Eisklötze dar, die in einem ausbalancierenden Moment begriffen sind.» Ich gehe rund um die Skulptur und finde diesen geschilderten Moment des spannungsreichen Gleichgewichts tatsächlich wieder. Während ich an der einen Stelle das Gefühl habe, der obere Klotz rutscht herunter, wird der Blick im Weitergehen beruhigt und gehalten durch einen Moment der Statik. Es wird erlebbar, dass Peter Wulfs Skulpturen subtile Studien von Kräfteverhältnissen sind, die er in der Natur beobachtet und dem Stein einverleibt. Oft sind es Gegenströmungen des Wassers, des Windes oder in Erdschichten, die aufeinandertreffen, einen dynamischen Kräftestrom entwickeln und an deren Stelle etwas in die Vertikale aufsteigt. «Meine Werke sind im weiteren Sinne Naturstudien. Sie sind nicht so dargestellt, wie ich die Natur sehe, sondern zeigen auf, welche Stimmung und welche Gefühle sie in mir auslösen. Was mich interessiert, ist die Wucht, die Kraft und die stille Poesie oder einfach die Schönheit der Natur, die mich umgibt.»

Pflanzliche Metamorphose, Meeresstimmung, Brasilianscher Marmor

Ich frage Peter Wulf, wie es zum Titel ‹Erinnerung an Wasser› gekommen ist. Auch hierzu gibt es eine kurze Geschichte: «Ich habe mich die letzten Jahre viel mit dem Dichter Friedrich Hölderlin befasst – insbesondere mit seinen letzten Jahren, also mit der Zeit, in der er schon in die geistige Agonie gefallen war und sich immer weiter vom Leben zurückzog. Er war damals auch längere Zeit bei seiner Mutter in Nürtingen und hat dort mit Nichten und Neffen öfters am Stadtbrunnen gespielt, Schiffchen fahren lassen und Schabernack getrieben. Eines Tages im Winter ging er mit den Kindern wieder zum Brunnen und sie fanden ihn vereist vor. Die Kinder riefen: ‹Onkel Fritz, kuck mal, alles ist vereist.› Hölderlin erwiderte: ‹Nein, das ist kein Eis! Das ist die Erinnerung an Wasser!› Ich war begeistert von diesem Bild und nahm es als Titel für die oben erwähnte Skulptur. Die Kuratorin nannte später die ganze Ausstellung so.»

Geheimnisvolle Mitte

Peter Wulf bearbeitet den Stein mit ausgereiftem handwerklichem Geschick zu makellos gespannten Formen, die in ihrer gleichsam feinfühligen Beschaffenheit eine Vollkommenheit erreichen, ohne dabei in Kitsch oder Überformung zu kippen. Ich gehe weiter und ertaste die Skulpturen mit meinen Augen und Händen. Dabei wird mir das Motiv des Künstlers immer klarer: Die meist zweiteiligen Steinstelen aus Marmor oder Kalkstein sind Ausdruck von jeweils zwei Kräften oder Gegenströmungen der Natur, die in subtiler Weise den starren Stein bewegen und durchaus einen poetischen Klang entfalten. Jedes Blatt, jeder Baum, jedes Gesicht spiegelt sich in sich selbst. Eine Spiegelung bedarf einer Spiegelachse, einer Mitte, an der sich die eigne Gestalt spiegelt und eine lebendige Symmetrie erzeugt. Dieses zentrale Schöpfungsprinzip der Natur greift Peter Wulf in seinen Werken konsequent auf: im Oben – Unten, Links – Rechts, Vorne – Hinten. Die Kanten spiegeln sich über Kreuz von der Vorder- auf die Rückseite und spannen dazwischen doppelt gebogene Flächen. Grundsätzlich sind Peter Wulfs Skulpturen der Vertikale und Aufrichte verschrieben, die durch zwei Strömungen und ihr Verhältnis zueinander aufgebaut werden. Dieses Aufeinandertreffen zweier Kräfte erzeugt in ihrer Mitte eine wirbelnde Bewegung, die eine aufstrebende und erneuernde Kraft kreiert. Peter Wulfs steinerne Stelen sind Spiegelungen mit feinen Variationen – eine poetische Suche nach der geheimnisvollen Mitte, die sich zwischen den Gegensätzen aufrichtet und eine neue Ganzheit bilden kann.

Lyrische Gegenform, Kalkstein

Fotos von Barbara Schnetzler

Die Ausstellung ist bis 18. April während der Öffnungszeiten der Schule oder auf Voranmeldung zu sehen. Auf Wunsch gibt der Künstler Führungen.

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