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Krisen als Zeichen der Überforderung

Ratlos und mit vielen Fragen blickt man derzeit auf das weltweite Pandemiegeschehen. Worum handelt es sich hier? Cornelie Unger-Leistner von der Nachrichtenplattform Nexus News Agency (NNA) hat mit Philosophieprofessor Harald Schwaetzer gesprochen – in der Hoffnung, aus seiner ‹lebendigen Philosophie› vertiefende Gesichtspunkte zum Thema Krise zu gewinnen. Gibt es eine Möglichkeit, positiv mit diesen Herausforderungen umzugehen?


Cornelie Unger-Leistner Die Bedrohung durch eine bisher unbekannte Viruserkrankung, die sich schnell überträgt, ohne dass Symptome auftreten, das hat etwas Unkalkulierbares an sich. Informationen dazu werden von den offiziell Zuständigen aus Wissenschaft und Medizin an die Politik und die Öffentlichkeit gegeben – die Medien bemühen sich, alles ausführlich darzustellen. So ist die Epidemie auch gleich Deutungen durch die Fachleute und durch die Berichterstattung unterworfen. Wie können die Einzelnen da zu einem Urteil kommen?

Harald Schwaetzer Es ist sicher eine Frage, wie man objektiv zu einem Urteil kommen kann, das valide ist. Das hängt schon daran, dass es nicht leicht ist, Tatsachen und Voraussetzungen angemessen in den Blick zu bekommen. Aber gravierender und symptomatischer für unsere Zeit scheint mir zu sein, dass unterschiedliche Tendenzen in der Berichterstattung vorliegen: Hier werden uns Urteile mit hoher Emotionalität aufgedrängt, dort herrscht durch stete Wiederholung einer bestimmten Sichtweise der Eindruck, es würde einem etwas aufgenötigt und nicht zuletzt würden durch massive, als Eingriffe in die Grundrechte empfundene Maßnahmen Fakten geschaffen. Da scheinen sich zudem Umgang mit Krankheit und politische Fragen in schwer zu entwirrender Weise zu durchmischen.

Wo gibt es Ansatzpunkte in diesem Knäuel von Fakten und Beurteilungen?

Schwaetzer Ich möchte vor allem auf zwei eher unbeobachtete Momente hinweisen. Das eine ist, dass es in den Darstellungen eine doppelte Tendenz gibt, nämlich, dass sogenannte objektive Berichterstattung zu wenig an Fakten liefert. Damit meine ich: Bei einem mathematischen Beweis müssen die Mathematiker immer sagen, unter welchen Voraussetzungen der Beweis gilt. Diese Seite des Ausweises der Geltungsvoraussetzungen kommt nach meinem Eindruck häufig zu kurz, etwa wenn zu Fallzahlen die Prüfzahlen nicht mitgeliefert werden (steigende Tests zum Beispiel liefern steigende Infizierungen; die steigende Zahl von Infizierungen gibt also nicht den faktischen Anstieg wieder).

Auf der anderen Seite wird ein bereits fertiges Urteil über die Situation vorgestellt, von welchem erwartet wird, dass man es als Vorstellung für sich übernimmt. In beiden Fällen wird die eigentliche Instanz ausgehebelt, welche – politisch gesprochen – Rechtsstaatlichkeit und Demokratie trägt, aber eben auch für unsere Lebenswelt zentral ist: das Individuum, das den Mut hat, sich in der Urteilsbildung seiner Fantasie zu bedienen.

Ich sage: Fantasie, und meine damit: Reine Objektivität gibt kein Bild der Welt mehr, wie der Philosoph Günther Anders bereits vor 70 Jahren konstatierte. Die Wirklichkeit ist ‹überschwellig›, es genügt nicht, eine Situation zu sehen, wir müssen sie verstehen, ihren Kontext begreifen, sie empfinden etc., sonst sehen wir sie nicht. Wie können wir einfach vorübergehen? Sehen wir die Flüchtlingskrise im Mittelmeer wirklich? Wirklichkeit sehen wir nur, wenn die Fantasie als eine Methode der Wahrnehmung geübt wird, nicht fantastisch, sondern real. Goethe hat diese Fähigkeit auch «exakte sinnliche Fantasie» genannt, weil sie in der Lage ist, Realität genau zu erfassen.

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Eine Antwort auf eine Frage ist keine Antwort, sondern eine Fähigkeit.

Das zweite unbeobachtete Element ist, dass die Forderung nach dem Urteil ergänzt werden muss. Ein philosophischer Grundsatz lautet: Eine Antwort auf eine Frage ist keine Antwort, sondern eine Fähigkeit. Angesichts der Komplexität der Situation kann ich mich fragen: Wie kann ich Tag für Tag besser und angemessener mit ihr umgehen? Dann bezieht sich die Urteilsbildung nicht darauf, was die Welt richtig oder falsch macht, sondern darauf, Ich-Souveränität zu üben und von dieser Souveränität her zunehmend fantasiegetragene Urteilsklarheit zu erringen. Das erfordert individuellen Mut – ein Ausgleich zu der geradezu epidemisch auftretenden kollektiven Angst.

Die meisten Bürgerinnen und Bürger sind zufrieden mit dem Handeln der Politik, der sie noch gar nicht so lange zuvor ziemlich ‹verdrossen› gegenüberstanden. Ändert sich gerade das Verhältnis des Einzelnen zum Staat?

Schwaetzer Nein, ich glaube nicht. Mein Eindruck ist, dass vom Staat erwartet wird, dass er das Leben so bequem wie möglich macht. Sicherheit und Bequemlichkeit gehen vor Freiheit und verantwortlicher Eigenaktivität – das ist in den ganzen letzten Jahren als Tendenz spürbar gewesen. Solange keine ‹Gefahr› für Leib und Leben droht, ist alles ‹Überregulierung›.

In dem Moment, wo ich aber selbst etwas tun müsste, um andere zu schützen oder auch nur schlicht, weil ich mich selbst – ganz egoistisch, wenn wir ehrlich sind – bedroht fühle, ist dieselbe Überregulierung ein ‹notwendiges› Eingreifen, das ich vom Staat fordere. Der Urteilsstandpunkt ist in beiden Fällen der gleiche. An den Urteilsgrundlagen hat sich nichts geändert.

Warum machen die Rechtspopulisten gerade so eine schlechte Figur? Kann es ihnen doch noch gelingen, aus dem Ganzen am Ende Nutzen zu ziehen, wenn es zu einer richtig massiven Wirtschaftskrise kommt?

Schwaetzer Rechtspopulisten machen immer eine schlechte Figur. Nur wird es nicht immer durchschaut. Deswegen bin ich auch nicht sehr optimistisch, was die Einschätzung betrifft, dass ihr Stern gerade im Sinken sei. Faktisch dürfte das Gegenteil der Fall sein: Wir erleben einen ‹starken› Staat, der so agiert, dass er – je nach Interpretation – bis an die Grenze der Rechtsstaatlichkeit oder darüber hinaus geht. Das kommt, wie Sie selbst sagen, gut an. Das ist eine autoritätskonformistische Situation, die, wenn sie von den Bürgern und Bürgerinnen im Wesentlichen akzeptiert wird, nicht darauf verweist, dass mit einem hohen kritischen Potenzial zu rechnen ist.

Nach meinem Eindruck sollten wir allerdings überlegen, ob die Frage nicht anders zu stellen ist. Die Alternative ist möglicherweise: Rechtsstaatlichkeit auf der Basis mündiger Bürgerinnen und Bürger – oder eben nicht? Und will man das Erste wirklich? In Huxleys berühmtem Roman ‹Schöne neue Welt› kommt es am Schluss zu einer Gegenüberstellung dieser Positionen. Der Protagonist: «Ich liebe Unannehmlichkeiten.» Und sein Gegenspieler: «Uns sind Bequemlichkeiten lieber.» Und weiter wirft dieser dem Protagonisten vor: «Kurzum, Sie fordern das Recht auf Unglück, ganz zu schweigen von dem Recht auf Alter, Hässlichkeit, Impotenz, dem Recht auf Syphilis und Krebs, dem Recht auf Hunger und Läuse» – und die Aufzählung geht noch weiter. Wir sollten uns darüber klar werden, was wir wollen, aber sich mit Wasser zu waschen, ohne sich nass zu machen, das wird nicht gehen.

Heißt das, dass die Ethik in dieser Situation verstärkt gefragt ist? Es war ja bezeichnend, dass mahnende Worte hinsichtlich der Auswirkungen der Maßnahmen auf die einzelnen Menschen vom Ethikrat kamen, der an die Bundesregierung appelliert hat, besser abzuwägen, was zumutbar ist und was nicht. Einen solchen Einwand hätte man eher vom Parlament oder von Verfassungsrechtlern erwartet.

Schwaetzer Um nochmals Günther Anders zu zitieren: «Heutige Hauptaufgabe: die Ausbildung moralischer Fantasie» – ein vor gut 70 Jahren gesprochenes Wort. Dabei geht es weniger um Abwägung. Abwägen kann man vorhandene Möglichkeiten, Situationen, die man überschaut. Unsere Aufgabe ist es, kreativ anders zu handeln. Beethoven entscheidet sich nicht zwischen verschiedenen Symphonien, sondern er komponiert und schafft Neues – und wird dadurch selbst anders.

Manchmal muss man auch abwägen, aber Ethik ist primär ein bewusster kreativer Akt der Selbstüberwindung und -gestaltung. Ausbildung moralischer Fantasie heißt, mir die Fähigkeiten zu erwerben, mich wirklich in eine Situation hineinversetzen zu können, die Folgen des Handelns konkret vorzustellen und, mehr noch, innerlich vorweg zu erleben versuchen, mich zu fragen, was mein Gegenüber als Möglichkeiten braucht, damit er oder sie möglichst gut handeln oder sich entwickeln oder gesund werden kann.

Moralische Fantasie ausbilden heißt auch, die Natur wieder so wahrnehmen zu lernen, dass sie in diesem Sinne ein reales Gegenüber ist. Das sind sehr konkrete, alltägliche Hausaufgaben für jede einzelne Person. Daraus entsteht so viel an positiven Möglichkeiten, dass zentral getroffene Abwägungsentscheidungen zumindest an manchen Stellen durch gelebten kreativen moralischen Ideenreichtum unnötig gemacht werden können.

Gibt es aus Ihrer Sicht auch Kulturbedingungen, die in einer solchen Pandemiekrise wirksam werden?

Schwaetzer Wir müssen wohl weiter zurückgreifen, und sicher differenzierter, als ich es hier kann. Schon der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend hat gesagt, dass sich die alte Gottgläubigkeit der Vormoderne in der Wissenschaftsgläubigkeit der Moderne und Gegenwart fortsetzt. Früher kam die Pandemie von Gott, heute kommt sie vom Virus. Das eine ist ein Jenseits-Aberglaube, das andere ist ein Diesseits-Aberglaube. Bekanntermaßen wirken Viren nicht monokausal; Gott übrigens auch nicht.

Unsere von Wissenschaft bestimmte Kultur ist in vielerlei Hinsicht dogmatischer und unkritischer als das institutionalisierte Christentum, dem sie sich historisch verdankt. Die Freiheit und die Förderung, zu einem wirklich durchdachten und erlebten Verhältnis zum Religiösen, aber auch zur Wahrheit zu kommen, das fehlt der Gegenwartskultur doch sehr.

Ein Engel, das ist entweder willkürliche Glaubensannahme oder Unsinn; im Mittelalter war es ein Gebiet wissenschaftlicher, verantworteter Intellekterkenntnis. Und der Stoßseufzer, wie gut es sei, dass wir über derartige mittelalterliche Annahmen hinaus sind, bedeutet leider nur, Erkenntnisfragen wie die gestellte zu verdrängen, sei es in den privaten Glauben, sei es, und weitaus häufiger und wirksamer, in den Bereich des Unterbewussten: eine Spezialität des 20. und 21. Jahrhunderts, welche nicht nur in Zeiten des sogenannten Dritten Reichs eine schlimme Rolle gespielt hat. Die Folgen sind unreflektierte Voraussetzungen auf allen Gebieten der Kultur mit allen Risiken und Nebenwirkungen. – Das ist kein ‹Zurück zum Mittelalter›, sondern nur eine Frage an uns nach Möglichkeit, Art und Umfang sicherer Erkenntnis. Bezogen auf medizinische Fragen wäre hier die Diskussion um Homöopathie ein Beispiel, wo ich die gegenwärtige mediale pandemische Kritik nicht nachvollziehbar finde.

Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht das Menschenbild in dieser Debatte um die Krise?

Schwaetzer Es ist eine klassische Kritik an der technischen Moderne, dass sie nicht mehr weiß, wer der Mensch eigentlich ist. Unsere Denkkraft hat uns in bewundernswürdiger Weise sehr weit gebracht darin, die Welt und die Natur so zu benutzen, dass wir möglichst bequem mit unseren leiblichen und teilweise unseren seelischen Bedürfnissen, soweit sie mit dem Leib zusammenhängen, umgehen können. Auf die Frage, was Leben ist, was Tod, wissen wir jenseits der Biologie als Kultur nicht besonders viel zu sagen. Wie unterscheidet sich der menschliche Tod von demjenigen anderer Lebewesen? Warum begründete die Antike die Sterblichkeit des Menschen nicht mit der Tatsache, dass er ein Lebewesen ist, sondern ein Mensch?

Um eine Naturwissenschaft sein zu können, hat sich die Seelenwissenschaft selbst bereits Ende des 19. Jahrhunderts als ‹Psychologie ohne Seele› – verstanden als positiver Kampfruf – ausgebildet. Neben der Seele haben wir auch den Geist verloren. Geist ist im Regelfall menschlicher Geist als Summe seiner Vorstellungen oder des Bewusstseins, aber nicht als konkretes unsterbliches, leibunabhängiges, vorgeburtliches oder nachtodliches Individuum.

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Es kommt darauf an, die Krisen so zu erkennen, dass ihre positiven Möglichkeiten aufscheinen. Es steht zunächst nicht auf der Packungsbeilage der Krise geschrieben, welche es sind. Sie sind medizinischer, sie sind ökonomischer Art, aber alle Krisen sind nicht zuletzt eines: Bewusstseinskrisen.

Wir leben mit abstrakten Vorstellungen, die inhaltlich nicht gefüllt sind, die unklar sind, deren Horizonte wir nicht überschauen, die gegebenenfalls immer anders verstanden werden können. Das ist ebenfalls ein Erbe der vergangenen Jahrhunderte. Daraus ist eine wunderbare Autonomie für uns Menschen entstanden. Wir haben uns ganz unabhängig gemacht von der Welt.

Aber dadurch ist uns zugleich eine Aufgabe mitgegeben. Die letzten Jahrhunderte haben den Akzent nicht darauf gelegt, solche Vorstellungen zur Bewältigung der Wirklichkeit zu kultivieren, und so erben wir von der frühen Neuzeit her ein Kulturset abstrakter Vorstellungen, das für die gegenwärtige Situation einfach entscheidende Lücken hat oder vielfach leer ist und nicht trägt. Wer könnte es zum Beispiel noch ernst nehmen, wenn ich jetzt eine Kulturreform anmahnen würde? Der Begriff Reform ist im 21. Jahrhundert in der Bildung, in der Pflege, in der Medizin, im Sozialen etc. gründlich ausgehöhlt worden.

Es ist immer wieder von einem ‹Momentum› die Rede in Zusammenhang mit der Coronakrise. Was meinen Sie,  stecken wirklich Chancen der Besinnung und Veränderung in dieser Krise?

Schwaetzer Natürlich stecken Chancen der Besinnung und der Veränderung in der Krise. Und es kommt stark darauf an, die Krisen so genau zu erkennen, dass ihre positiven Möglichkeiten aufscheinen. Denn es steht zunächst nicht einfach auf der Packungsbeilage der Krise geschrieben, welche es sind. Sie sind medizinischer Art, sie sind ökonomischer Art, aber alle Krisen sind nicht zuletzt eines: Bewusstseinskrisen. Sie sind Zeichen von Überforderung. Denn Krise heißt, dass unklar ist, was wie wozu von wem zu tun ist. Wenn jemand unvorbereitet in ein Examen geht, dann steckt in der Situation auch die Chance auf eine Besinnung, aber wenig Chance darauf, erfolgreich zu bestehen. Was hätten wir also studieren sollen in der Vergangenheit, welche Hausaufgaben haben wir nicht gemacht – als Einzelne ebenso wie als Kultur? Welche Fähigkeiten sollten wir so rasch wie möglich, aber auch so solide wie notwendig erwerben? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, dann wird klarer, welche Möglichkeiten die Krise beinhaltet und ob wir sie nutzen können. Es geht also idealiter um eine Haltung, in der die Krise zu einer produktiven Herausforderung zur Selbstentwicklung statt einer bloßen Überforderung werden kann. Faktisch sind wir froh, wenn es nur eine produktive Überforderung ist.

Drei Aufforderungen kann ich anhand der Geschehnisse des 20. und 21. Jahrhunderts erleben: Erkenne und entwickle dich selbst – als ein leiblich-seelisch-geistiges Wesen in deiner Geschichte. Habe den Mut, deine wissenschaftliche Erkenntnis zu bewahren und zugleich zu transformieren in eine sichere und klare Erkenntnis auch des Geistigen in dieser Welt. Habe die Liebe, an der seelisch-geistigen Individualität des anderen Sozialität im Erwachen am Du zu üben.

Vielen Dank für den interessanten Gedankenaustausch!


Das schriftliche Interview führte Cornelie Unger-Leistner.

Bericht-Nr.: 200416-01DE, Datum: 16. April 2020 © 2020 Nexus News Agency. Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: Gilda Bartel, Ohne Titel, Tusche und Pigment, Weimar, 2017.

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