Kosmos: Die Zukunft eines antiken Begriffs

Pythagoras soll der Erste gewesen sein, der den Himmel, das Weltall, als ‹kósmos› bezeichnete.1 Diese Vermutung klingt auf jeden Fall mit dem Bild von Pythagoras zusammen, das bis heute eine einflussreiche Tradition vermittelt: das Bild vom Eingeweihten, der das Weltall als lebendige Zusammenfügung von musikalischen, in zahlenmäßigen Verhältnissen übertragbaren Harmonien – Sphärenharmonien – und Rhythmen durch übersinnliche Wahrnehmung erleben konnte.2


In der Tat bedeutet das altgriechische Wort ‹kósmos› sowohl ethisch als auch ästhetisch ‹harmonische Ordnung, treffendes Maß›, und deshalb auch ‹Schmuck, Glanz›, dem Ruhm und Ehre geziemt. Es ist folglich ein zutiefst stimmiges Wort, wenn eine Welt bezeichnet werden soll, deren innerster Zusammenhalt – wie in allen antiken Kosmologien – als weisheitsvoller Zusammenklang harmonischer Relationen wahrgenommen wird. Wenn die Welt als ‹kósmos› wahrgenommen wird, wird sie als Organismus empfunden, der Schönes, mithin Gutes und Wahres bis zur Sichtbarkeit offenbart.

Wille zum Guten

Platon ist der erste griechische Philosoph, auf dessen Warnehmung des Weltalls als ‹kósmos› nicht nur Fragmente oder häufig schwer bewertbare indirekte Quellen hinweisen wie im Fall der sogenannten Vorsokratiker. Platons Kosmologie ist auch deshalb zutiefst ansprechend, weil sie alle vorherigen Gedankenströmungen – einschließlich der pythagoreischen – aufgreift und zu einer fruchtbaren Synthese verdichtet.3

Linien: Fabian Roschka, ‹Inwendig›, Vektorisierte Tinte, 2020

Platon hebt eine Dimension des Kosmos hervor, die bei den Vorsokratikern nicht expliziert wird: Das Weltall ist deshalb ein Organismus harmonischer Relationen, weil es durch die freie Entscheidung einer göttlichen Intelligenz geboren wurde, die durch uneingeschränkten Willen zum Guten gewirkt hat. Im ‹Timaios›-Dialog wird diese Intelligenz – in Kontinuität mit einer alten, bis zu den Veden zurückgehenden Tradition – als göttlicher Handwerker, als Demiurg, versinnbildlicht. Der Demiurg will das Gute, an dem er teilhat, bedingungslos vermitteln. Deshalb greift er so ins Chaos der Materie ein, dass die sichtbare Dimension des Seins eine harmonische, schöne Zusammenfügung bekommen und dadurch an dem Guten so weit wie möglich teilhaben kann (Timaios 29d7-30b). Dies ist der Grund für die Entstehung des sichtbaren Kosmos (ebd. 29d7-e1). Demzufolge ist der Kosmos dem Demiurgen ähnlich (ebd. 29e3), das heißt ein sichtbares Abbild vom Demiurgen (ebd. 92c7). Der Kosmos ist also wie sein Urheber: gut (ebd. 30a2).

Freies, schöpferisches Bewusstsein

Der göttliche Handwerker hat die höchste geistige Wirklichkeit als Urbild für die Gestaltung des Kosmos genommen und den Kosmos nach dem Wesen und dem Leben jener Wirklichkeit gebildet (Timaios 30c2-31a1). Bedeutet die Ähnlichkeit mit jener Wirklichkeit sowie mit seinem Urheber beziehungsweise die Tatsache, dass der Kosmos als Abbild seines Urhebers gestaltet wurde, eine Einschränkung im Leben des Kosmos? Bedeutet es, dass der Kosmos als banale Reproduktion der geistigen Welt und des Demiurgen, das heißt einer schon bestehenden Form des Seins zu betrachten ist? Die Antwort gibt der ‹Timaios› selbst: Der göttliche Handwerker gestaltet den Kosmos als selbstgenügsames Wesen (33d1-3): Es bedarf einerseits keiner äußeren Instanz für die Erhaltung seines Lebens, andererseits ist es seiner selbst bewusst, weshalb es durch die eigene Tugend sein wesensgemäßes Leben offenbaren kann (ebd. 34b6-9). Abbild des Demiurgen ist hier also ein Wesen, das sich durch das eigene Bewusstsein, genau wie der Demiurg, für die Offenbarung des Guten – eben für die eigene Tugend – frei entscheiden und das Gute in einer Form offenbaren kann, die ohne sein Leben nicht offenbar werden könnte. Echtes Bewusstsein seiner selbst heißt nämlich die Fähigkeit, aufgrund jenes Bewusstseins aktiv das eigene Leben gestalten zu können. Das Gute, das der göttliche Handwerker dem Kosmos schenkt, besteht demzufolge nicht in einer vorbestimmten, als steifes Vorbild wirkenden Form. Das Gute ist hier dagegen die Möglichkeit, durch ein autonomes Bewusstsein schöpferisch zu wirken, sodass sich neue harmonische Relationen bilden können, die nicht einfach die Relationen der geistigen Welt reproduzieren.

Gut sein, wie der Demiurg es bedingungslos ist (ebd. 29e1-2), heißt, einen uneingeschränkten Raum für das Wirken eines anderen autonomen Bewusstseins zu wollen und zu öffnen – in unserem Fall für das autonome Bewusstsein des Kosmos –, damit jenes Bewusstsein wiederum das Gute in neuen Formen frei und schöpferisch offenbaren kann. Das Gute ist demnach Wille zur Autonomie und Freiheit eines Anderen 4, und der Kosmos besteht und lebt als Offenbarung dieses Willens.

In Zusammenklang

Das Wesen, nach dem der göttliche Handwerker den Kosmos gestaltet, ist das geistige Wesen, das in sich alle wesensverwandten Wesen umfasst (Timaios 30c4-31a). Demzufolge umfasst und fügt der sichtbare Kosmos alle sichtbaren Wesen zusammen (ebd. 30c7-d1). Der im ‹Timaios› häufige Hinweis auf das harmonische Zusammenfügen als wesenhafte Charakteristik des Kosmos bedeutet, dass der Kosmos kein zufälliges Aggregat, sondern ein Organismus ist, in dem jedes Wesen mit jedem Wesen in mehr oder weniger direktem Verhältnis lebt. Im Kosmos klingt alles mit allem zusammen, den kosmischen Zusammenklang auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen offenbarend. Diesen universellen Zusammenklang zu verstehen hilft uns Plotin – der größte antike Vertreter des Platonismus –, weil er viele Motive vertieft und expliziert, die bei Platon nur angedeutet bleiben.5

In ‹Enneade› (V 8.4.4-11) charakterisiert Plotin das allumfassende Wesen der höchsten geistigen Wirklichkeit. Es umfasst alle anderen geistigen Wesen auf eine Weise, dass jedes geistige Wesen in der Transparenz des eigenen Bewusstseins die Transparenz aller anderen geistigen Wesen sowie der ganzen geistigen Welt erlebt. Folglich sind hier alle Wesen gegenseitig vollkommen transparent, sodass die Offenbarung des einzelnen Bewusstseinszentrums ewig augenblicklich die Transparenz aller anderen Bewusstseinszentren offenbart, wie in einer Sphäre aus geistigem Licht, in der alle Punkte Zentrum sind und jeder Punkt die Ganzheit der Sphäre augenblicklich manifestiert.6 Dieser transparenten Ganzheit aus geistigem Licht (ebd. 4.4-7), die alle geistigen Wesen umfasst, ist der sichtbare Kosmos nach Plotin ein Abbild (Enneade V 8.7 und 9): Die geistige Welt bleibt nicht in sich verschlossen, sondern schenkt das eigene warme und gute Licht, damit ein uneingeschränkter Raum für die Autonomie einer anderen, ihrer selbst bewussten Wirklichkeit geboren werden kann. Und diese andere Wirklichkeit ist eben, wie in Platons ‹Timaios›, der sichtbare Kosmos (Enneade V 8.7.14-15), der auch nach Plotin aus Willen zum Guten entstanden ist (vgl. Enneade II 9.3-4 und V 2.1.24 ff.).

Auch in Plotins Kosmologie hat die allumfassende Transparenz der geistigen Welt im sichtbaren Kosmos ein Abbild, das, wie in Platons Perspektive, keine Reproduktion, sondern eine der sichtbaren Wirklichkeit eigene Form der Transparenz offenbart: Während in der geistigen Welt die universelle Transparenz in jedem Wesen vollkommen bewusst ist, offenbart sie sich im sichtbaren Kosmos als universelle Sympathie, die sich je nach individuellem Wesen in verschiedenen Bewusstseinsstufen und -formen manifestiert (Enneade IV 9.2, vgl. IV 4. 26 und 32, IV 5.8).

Mitschöpfer des Kosmos

Das Wahrnehmen der kosmischen Sympathie, die Plotin ausdrücklich mit dem Horizont von Platons ‹Timaios› verbindet (Enneade IV 4.32.4-6), bleibt un- oder vorbewusst in Lebewesen wie Pflanzen und Tieren, deren Teilhabe am geistigen Leben des Kosmos das Vegetative oder das Psychische nicht überragen kann. Der Mensch ist dagegen in der Lage, eine geistige Bewusstseinsform zu erlangen, die ermöglicht, die geistige Quelle jener universellen Sympathie schöpferisch zu erleben und demzufolge aktiv den Zusammenklang aller Wesen mit allen Wesen, das heißt das Leben des Kosmos, mitzugestalten, zusammen mit der geistigen Welt als Mitschöpfer und Mitlenker des Weltalls wirkend (Enneade V 8.7.29-36).7 Anders gesagt: In Kontinuität mit Platon (Phaidros 246c1-2) nimmt Plotin in der menschlichen Bewusstseinsform die Möglichkeit einer Entwicklung wahr, die dazu führen kann, an der ‹Regierung› des Weltalls aktiv teilzunehmen. Der Mensch kann sich aufgrund dieser Entwicklung als geistiger Demiurg, als geistiger Urheber und Handwerker/Künstler in Bezug nicht nur auf das eigene wesensgemäße Leben, sondern auch auf das wesensgemäße Leben des Weltalls betätigen. Am Ziel dieser Entwicklung bilden Erkennen und schöpferisches Wirken nämlich eine lebendige Einheit: Erkenntnis der geistigen Wirklichkeit, die den sichtbaren Kosmos erzeugt, ereignet sich nicht als passive Kontemplation, sondern ist an sich aktive Teilhabe an einer unerschöpflich generativen Kraft. Denn die geistige Welt ist nach Plotin uneingeschränkte Produktivität/Generativität beziehungsweise ewig augenblickliche Einheit von Bewusstsein/Sein, höchstem Wissen (sophía) und Produktivität (Enneade V 8.4.44-47). In dieser Perspektive ist authentische Wissenschaft – die den Geist und das wahre Wesen des Kosmos betrifft – kein abstraktes Theoretisieren, keine Ansammlung von Beobachtungen, sondern bewusste und schöpferische Teilhabe am seinsbewirkenden Leben des Geistes und folglich Mitschöpfung am Wesen, das sich durch das Wirken jenes Lebens als Organismus harmonischer Relationen – als Kosmos – offenbaren kann. In anderen Worten: Hier kann kein wesensgemäßer Begriff des Kosmos ohne bewusste Teilhabe an den geistigen Willensimpulsen, Kräften und Dynamiken entwickelt werden, durch die der Kosmos geboren und gestaltet wird. In diesem Horizont erkenne ich nur dann wahrhaftig den Kosmos, wenn ich dazu fähig bin, zu seinem Mitschöpfer zu werden!

Hier kann kein wesensgemäßer Begriff des Kosmos ohne bewusste Teilhabe an den geistigen Willensimpulsen, Kräften und Dynamiken entwickelt werden, durch die der Kosmos geboren und gestaltet wird.

Eine holistische Wissenschaft

In Platons und Plotins Perspektiven, in denen die kosmologischen Strömungen der Antike zu einer fruchtbaren Synthese zusammengeführt werden, weist die Erforschung des Kosmos auf ein Ideal von Wissenschaft hin, das wir als im prägnanten Sinne holistisch (ganzheitlich) bezeichnen können.8 Für beide großen Philosophen ist der Kosmos nämlich ein lebendiges ‹hólon›, ein lebendiges Ganzes: ein Organismus, dessen Bestandteile nur ausgehend von seiner lebendigen, geistigen Ganzheit, das heißt ausgehend von ihrem gemeinsamen Zusammenklang, wirklich erkannt und verstanden werden können, der sich wiederum im Wesen jedes einzelnen Bestandteils individuell offenbart. Es ist in diesem Rahmen nicht überraschend, wenn Platon als echte Künste und Wissenschaften nur diejenigen bezeichnet, in denen die Erkenntnis vom Kosmos als Ganzheit vorausgesetzt wird (Phaidros 269e1-270d7). So wird zum Beispiel die Medizin nicht wirklich heilen können, wenn sie nicht fähig sein wird, die Natur des Leibes sowie der Seele in ihrem lebendigen Zusammenhang und Zusammenklang mit der Natur des Ganzen (hólon) zu erkennen und zu offenbaren (ebd. 270b1-c5). Dieser holistische Ansatz bedeutet wiederum nicht, dass die Individualität der Bestandteile im Lichte des Ganzen keine Relevanz hätte. Denn Urbild des sichtbaren Kosmos ist die geistige Welt, in der Einheit – wie in einer Sphäre aus geistigem Licht9 – kein Verschwinden der Unterschiede, sondern gegenseitige Transparenz und harmonischer Zusammenklang geistiger Individualitäten in einer stimmigen Ganzheit, in einer urbildlichen Gemeinschaft bedeutet. Als Abbild der geistigen Welt offenbart der sichtbare Kosmos die soeben angedeutete, relationale und gemeinschaftsbildende Einheit in einer ihm eigenen Form. Und der Mensch hat die Möglichkeit, das eigene Bewusstsein mit der geistigen Quelle dieser Einheit zu verbinden. Durch diese bewusste Verbindung, in der echte Wissenschaft und Weisheit (sophía) besteht, wird der Mensch nicht bloß zu einem passiven Beobachter, sondern zum Mitschöpfer dieser Einheit sowie zum Schöpfer jeder Form der gemeinschaftsbildenden Einheit, des harmonischen Zusammenklanges, sei es in der eigenen Seele, sei es in der Gesellschaft (Platon, Politeia 500c2-501c3).10 Demzufolge wird die kosmologische Wissenschaft zu einer eminent ethischen Tatsache. Sie erweist sich nämlich als Vorbereitung und zugleich als Voraussetzung dazu, dass der Wille zum Guten, der die geistige Welt und das Leben des Kosmos ernährt, in allen Dimensionen des menschlichen Lebens neue und tiefere Formen der Offenbarung erleben kann.

Ein berechenbarer Kosmos?

Insbesondere als Hinweis auf einen Zusammenklang von allem mit allem kann der antike Begriff ‹kósmos› Affinitäten zu den Ansätzen von relationalem Denken wahrnehmen lassen, die in den letzten Jahrzehnten, durch die Entwicklungen der Quantenphysik und der ‹Künstlichen Intelligenz› angeregt, den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Diskurs immer mehr prägen. So würden manche jenen Hinweis in Beziehung zu den Perspektiven der System- sowie der Komplexitätstheorie setzen. Andere würden in manchen antiken Intuitionen und Charakterisierungen der kosmischen Relationalität sogar Vorwegnahmen von komputationalen Theorien des Verstandes und des Denkens wahrnehmen wollen, nach denen der Geist und das Denken in Dynamiken des Rechnens ‹übersetzt› werden können.11 Die vermeintliche Möglichkeit, durch Künstliche Intelligenz physikalische Gesetze abzuleiten 12, scheint dies zu rechtfertigen.13

Das Gute ist hier die Möglichkeit, durch ein autonomes Bewusstsein schöpferisch zu wirken, sodass sich neue harmonische Relationen bilden können, die nicht einfach die Relationen der geistigen Welt reproduzieren.

Wenn unsere Intelligenz als Informationsverarbeitungssystem zu betrachten ist – sodass Selbst, Bewusstsein, Denken, Kognition eben auf Dynamiken der ‹Rechnung› reduzierbar wären – und wenn sie nach Platon und Plotin als Abbild der makrokosmischen Intelligenz wahrgenommen werden soll 14, warum sollte nicht auch ihr makrokosmisches Urbild, und mit ihm der ganze Kosmos sowie ihre geistige Quelle, als ein solches System verstanden, erforscht und mathematisiert werden? 15

Eine Mathematisierung beziehungsweise Reduzierung des Kosmos auf rechnerische Dynamiken ist jedoch, bei unbefangener Betrachtung der Quellen, in Widerspruch gerade mit den kosmologischen Perspektiven des antiken Platonismus, auf die hier hingedeutet wurde und die am häufigsten als wesensverwandt mit solchen Ansätzen empfunden werden. Plotin charakterisiert nämlich explizit die schöpferische Tätigkeit des Geistes, die den sichtbaren Kosmos erzeugt, als rein intuitiv, das heißt als jede logisch-kausale, zeitliche Dynamik überragend.16 Sie überragt jegliche Dynamik der informationalen, der rechnerischen Verarbeitung. Die geistigen Zahlen, auf die Plotin in Kontinuität mit Platon hinweist, haben wiederum nichts mit irgendeinem Begriff der Komputationalität beziehungsweise des Rechnens zu tun (Plotin, Enneade VI 6.18.1-5), sondern sind ewig augenblickliche Offenbarung der bewussten und generativen Tätigkeit vom Geist (ebd. 15.16-18) sowie der harmonischen Relationen zwischen den Wesen der geistigen Welt (ebd. 18).17 Anders gesagt: In dieser Perspektive emergiert das Mathematische aus Bewusstsein/Geist/Sein (ebd. 15.16 und 24-25), nicht umgekehrt, wie es in den mathematisierenden Kosmologien unserer Gegenwart geschieht. Und die mithin implizierte Transzendenz von Bewusstsein/Geist/Sein jeglicher rechnerischen Dynamik gegenüber kann auch der Mensch verwirklichen, wenn er es schafft, die eigene leibliche und psychische Dimension überragend sich mit der geistigen Quelle des Kosmos zu verbinden (Enneade V 8.7.29-36). Durch diese Verbindung kann der Mensch von der Quelle aller möglichen Welten/Systeme/Mathematisierungen ausgehend, das heißt aus echter Freiheit, handeln und wirken.18 Schon Platon wies auf diese Ebene hin, indem er die höchste Wirklichkeit, das höchste Gute als Ursprung allen Bewusstseins, Denkens und Seins ausdrücklich jenseits aller Möglichkeiten der mathematischen Intelligenz verortete (Politeia 511a3-c2). Dieser absolute Ursprung im Guten, genauso wie der Ursprung in der Freiheit des Einen in Plotins Philosophie (Plotin, Enneade VI 8.19), lassen wiederum auf jeder Ebene des Seins, und somit auch in Bezug auf den sichtbaren Kosmos, einen unendlichen Raum der freien und schöpferischen Tätigkeit offen. Unendlich deshalb, weil dieser Raum die bewusste Gegenwart des Geistes offenbart, die, vom Bewusstsein des Guten ernährt, stets als Wille zur Freiheit eines Anderen, und mithin als Wille zur Offenbarung des authentisch Neuen wirken kann.

Entscheidung für die Sinneswahrnehmung

Die große Herausforderung, die Platons und Plotins Kosmologien in unserer Gegenwart darstellen, besteht in ihrem deutlichen Hinweis auf das Überragen des Geistes und Bewusstseins gegenüber jeglichem Determinismus, Komputationalismus, Mathematismus. Wenn physikalische Gesetze, das heißt Gesetze des Kosmos, vermeintlich auch durch ‹Künstliche Intelligenzen› gleichsam entdeckt werden könnten oder Systemaufstellungen auch mit Robotern experimentiert werden,19 würde dies in den Perspektiven jener großen Philosophen nur bedeuten, dass physikalische Gesetze und – im üblichen Sinne verstandenes – systemisches Denken die leibliche und psychische Dimension des Seins, das heißt die Grenzen des biopsychischen Lebens, nicht überragen können.

Wenn das Bewusstsein, das Selbst, die Welt tatsächlich in den Grenzen des biopsychischen Lebens einschränkbar wären, dann wären systemische Relationen auch für Platon und Plotin prioritär und bestimmend, genauso wie es in manchen gegenwärtigen philosophischen Diskursen geschieht.20 Anders gesagt: In einem rein biopsychischen Rahmen wäre das Leben des Menschen und des Kosmos auch für Platon und Plotin früher oder später berechenbar, und somit vollkommen determinierbar und überwachbar. Die höchste und tiefste Wirklichkeit, die diese Philosophen wahrnehmen, erschöpft sich jedoch nicht im biopsychischen Sein und mithin in der Erfahrung der – wäre es auch unbestimmten – Dauer. Jene Wirklichkeit offenbart sich dagegen als biopsychisch unvorhersehbare, unantizipierbare, jedoch bewusst gewollte Plötzlichkeit (Plotin, Enneade V 8.7.14-15), die auch im scheinbar Kleinsten und Beengtesten den goldenen, unerschöpflichen Keim des wirklich Neuen, des echt Zukünftigen erzeugen kann. Sie offenbart sich im Blitz einer freien Entscheidung für das Gute als Wille zu neuen harmonischen Zusammenklängen. Die Schwelle für diese freie Entscheidung öffnet sich mir in jeder, auch in der alltäglichsten Begegnung mit der durch die Sinne wahrnehmbaren Welt. Weder die bescheidene Rose noch der gewaltige Kosmos zwingen mich nämlich dazu, sie in ihrer unschuldigen Schönheit unbefangen wahrnehmen oder an komputationale Gebilde festnageln zu wollen.

Die antiken Kosmologien, die den sichtbaren Kosmos in allen seinen Dimensionen als Werk des Geistes wahrnahmen, können uns heute – statt zur selbstzufriedenen Bestätigung unseres vermeintlichen Wissens – dazu anregen, in der bewussten Entscheidung für die Unbefangenheit der Sinneswahrnehmung den Klang des Ewigen hören zu wollen. Das Hören dieses Klanges, das für die alte Weisheit ein Geschenk der Götter war, will heute bewusst im Willen des Ich zum Guten geboren werden. Zu dieser gegenwärtig so schmerzhaften Geburt kann uns die antike Wahrnehmung des Kosmos anspornen: zur Geburt, aus der Ich-Kraft, einer neuen Wahrnehmung des Kosmos, die dazu führen kann, das abstrakt Mathematische ins Imaginative zu verwandeln. Dies wird zu jener neuen Isis, zu jener neuen Weisheit/sophía führen, zu deren Suche Rudolf Steiner vor hundert Jahren so eindringlich eingeladen hat.21 Nur das Finden dieser neuen Isis-sophía wird die Zukunft eines antiken Begriffes gebären: ‹Kósmos› wird dann den gemeinschaftsbildenden Zusammenklang von allem mit allem im Guten bedeuten, der heute und in Zukunft nur durch das freie, geistige Wollen des Ich erklingen kann.

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Footnotes

  1. H. Diels, W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 19528, Bd. I, S. 105, 25 (Pythagoras 21) sowie 225, 14 (Parmenides 28 A 44). Zur Geschichte des Begriffs ‹kósmos› in der Antike siehe Ph. S. Horky (ed.), Cosmos in the Ancient World. Cambridge-New York 2019.
  2. Eine erste zugängliche Einführung zu Pythagoras und zu den ihn betreffenden Quellen findet sich in C. Huffman, Pythagoras (Stand 2018). Innerhalb der akademischen Forschung wurde das Bild von Pythagoras als Eingeweihtem besonders vertieft in W. Burkert, Lore and Science in Ancient Pythagoreanism. Cambridge, Mass. 1972 (revidierte engl. Ausg. von: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Nürnberg 1962).
  3. Für eine umfangreiche Einführung zu Platons Philosophie vgl. M. Erler, Platon. München 2006; zum ‹Timaios› und seiner Kosmologie siehe D. Zeyl, B. Sattler, Plato’s Timaeus (Stand 2017).
  4. [4] Für eine Interpretation Platons, in der die Zentralität des Guten als Wille zur Freiheit eines Anderen vertieft wird, vgl. S. Lavecchia, Agathologie, Denken als Wahrnehmung des Guten oder: Auf der Suche nach dem offenbarsten Geheimnis. Perspektiven der Philosophie 38 (2012), S. 9-45, und Agathological Realism: Searching for the Good beyond Subjectivity and Objectivity or On the Importance of Being Platonic, in G. De Anna, R. Martinelli (eds.), Moral Realism and Political Decisions. Bamberg 2015, S. 29–50.
  5. Für eine erste Einführung zu Plotin vgl. J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus. München 2004, sowie L. Gerson, Plotinus (Stand 2018).
  6. Zu diesen Aspekten von Plotins Philosophie vgl. S. Lavecchia, Frei von sich und von anderem. Betrachtungen zum Ursprung und Wesen des noetischen Selbst in Plotins Philosophie. Perspektiven der Philosophie 46 (2020), in Druck.
  7. Für eine weitere Vertiefung vgl. Lavecchia, Frei von sich. a.a.O.
  8. Zum Holismus in verschiedenen Perspektiven siehe M. Esfeld, Holismus in der Philosophie des Geistes und in der Philosophie der Physik. Frankfurt a. M. 2002; Chr. McMillan, R. Main, D. Hederson (eds.), Holism Possibilities and Problems. London 2020.
  9. Zur Relevanz dieses Bildes für das Verständnis von Platons Philosophie vgl. S. Lavecchia, Das Ich und das Gute. Ansätze einer Licht-Philosophie in Anknüpfung an Novalis und Platon. Perspektiven der Philosophie 40 (2014), 9-46.
  10. Hier wird der geistige Kosmos als Urbild für jegliche gerechte, harmonische Gemeinschaft im sichtbaren Kosmos betrachtet. Zur schöpferischen Dimension der ‹sophía› in Platons Denken sowie zu deren intimer Verbindung mit dem geistigen Wesen des Kosmos vgl. S. Lavecchia, Selbsterkenntnis und Schöpfung eines Kosmos. Dimensionen der sophia in Platons Denken. Perspektiven der Philosophie 35 (2009), 115-145.
  11. Zu den hier aus Platzgründen nur flüchtig genannten Ansätzen siehe die leicht zugänglichen Einführungen in S. Green, Philosophy of Systems and Systemic Biology (Stand 2017); W. Dean, Computational Complexity Theory (Stand 2016); M. Rescorla, Computational Theory of Mind (Stand 2020) sowie die elementaren Informationen in Wikipedia/System und Wikipedia/Komplexität.
  12. Vgl. S. M. Udrescu, M. Tegmark, Symbolic Pregression: Discovering Physical Laws from Raw Distorted Video.
  13. In Bezug auf den griechischen Begriff ‹kósmos› wurden bisher, nach meinem Wissen, keine Versuche der Popularisierung in diese Richtung unternommen, wie es in benachbarten Feldern durch F. Capra, The Tao of Physics, Boulder, Colorado 1975, ausgehend von östlichen Strömungen der Philosophie und der Spiritualität, geschah. In zahlreichen Beiträgen aus den Geistes- sowie Naturwissenschaften werden Platons und Plotins Philosophien mit den hier angedeuteten Perspektiven in Verbindung gebracht, kein bisheriger Beitrag kann jedoch als einführende Synthese betrachtet werden.
  14. Siehe zum Beispiel Platon, Timaios 90c7-d, und Plotin, Enneade V 8.7.
  15. Zur Hypothese eines vollkommen mathematisierbaren Universums – der Kosmos ist Mathematik! –, die unter expliziter Evozierung von Platons Philosophie dargestellt wird, siehe die zwei publikumswirksamen Versuche von J. Barbour, The End of Time. The Next Revolution in Physics. Oxford 1999, und M. Tegmark, Our Mathematical Universe. My Quest for the Ultimate Nature of Reality. New York 2014.
  16. Enneade V 8.5.48-50, 5.4-7 und 20, 7.1-15 und 40 ff.
  17. Zur Einführung in Plotins Zahlentheorie vgl. S. Slaveva-Griffin, Plotinus on Number. Oxford 2009.
  18. Zum Überragen der Freiheit der leiblichen und psychischen Dimension des Seins gegenüber vgl. Plotin, Enneade VI 8.1-7.
  19. Vgl. Experimentierworkshop Aufstellungen, Universität Bremen .
  20. Vgl. zum Beispiel K. J. Gergen, Relational Being. Beyond Self and Community. Oxford 2009.
  21. R. Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. GA 202, Dornach 1993, Vorträge vom 24. und 25.12.2020.

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