Heute gerät man leicht in Konfrontation und Verkrampfung, ohne dass man es bemerkt oder bemerken will. Wir beanspruchen Rechte oder streiten uns um Wahrheiten. Muss es wirklich so bleiben? Ein öffentliches Kolloquium auf Einladung der Anthroposophischen Gesellschaft am 12. Juni in Paris zum Thema ‹Menschlichkeit, Würde und Verantwortung› versuchte, eine andere Qualität zu pflegen.
Die Beiträge kamen oft wie praktische Anregungen, die Menschlichkeit aktiv in den Mittelpunkt zu setzen. Kann man darin Keime einer Kompetenz zur Menschlichkeit sehen? Es stellte sich heraus, dass diese Kompetenz zart ist und mit Zerbrechlichkeit zusammenhängt.
Keine Würde ohne würdiges Sterben
Die Psychologin und Autorin Marie de Hennezel, die viele Patienten und Patientinnen in Vorbereitung auf das Sterben begleitet und die französische Regierung zu dem Thema beraten hat, wies darauf hin, wie wichtig es sei, dass man über das Sterben überhaupt genug spricht. Es sei insbesondere in Altersheimen, in Schulen und Familien wichtig. Denn es entspricht sehr oft einem versteckten Bedürfnis alter Menschen, die sich innerlich darauf vorbereiten, aber auch von Kindern, die das Sterben in ihrem Umfeld miterleben. Wird dieses Gesprächsbedürfnis nicht erfüllt, so sind Betroffene mit dieser Frage in die Einsamkeit gezwungen. Dieser Mangel stelle die Würde der Betroffenen infrage: Gut zu sterben ist genauso wichtig wie gut geboren zu werden. Wo das Gespräch möglich wurde, offenbarte sich in Gegenwart des Todes eine Wahrheit vom Einzelnen, von seinem Lebensweg und von den Beziehungen. Dieses Thema ist aktueller denn je: Marie de Hennezel schätzt ein, dass seit anderthalb Jahren mit den Corona-Maßnahmen in vielen Ländern nichts weniger als ein «anthropologischer Bruch» stattgefunden hat. Seit Anbeginn der Menschheit war tatsächlich die Möglichkeit noch nie in diesem Maße geraubt worden, mit seinen Angehörigen sein Sterben vorzubereiten oder Bestattungen zu organisieren. Somit ist die Dringlichkeit eines erneuten Ansatzes gegeben und jede und jeder kann es angehen.
Menschlichkeit wächst aus der Stille
Auch in den Bereichen der Kinderbetreuung und der Naturerfahrung gilt es, eine Aufmerksamkeit für den anderen neu zu begründen. Die Psychotherapeutin und Autorin Sevim Riedinger, die seit 40 Jahren mit Kindern arbeitet, wies auf das Sakrale hin, das aus der Beziehung mit den Kindern zutage treten kann. Doch Ansprüche des modernen Lebens wie Leistungsdruck und Streben nach Effizienz ‹vergewaltigen› die Würde des kleinen Kindes, wenn sie unmittelbar auf dieses übertragen werden. Im Gegenteil lässt das Kind, wenn man ihm Raum für seine Welt gibt, etwas Sakrales wieder zurückströmen. So hat diese Arbeit bei Sevim Riedinger innere Türen aufgemacht, die zur eigenen Würde führen. Um diese Möglichkeiten offen zu lassen, plädiert Sevim Riedinger für ein ‹Recht auf träumen›. Auch Jean-Michel Florin von der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum zeigte, wie stark unser Menschsein von unserer Fähigkeit abhängt, unserem natürlichen Umkreis (im breitesten Sinne) zuzuhören – und sich darüber bewusst zu werden, dass diese Umgebung auch auf uns schaut.
Zwischen Wurzeln und Potenzial
Was erleben Menschen, die heute ihre Heimat verlassen müssen? Durch ihre 20-jährige Erfahrung der künstlerischen Arbeit mit Migrierenden in Europa und Indien hat Marine d’Aboville die Überzeugung gewonnen, dass sie ohne das Bewusstsein ihrer Ursprünge ihre Identität komplett verlieren würden und somit auch die Möglichkeit des individuellen Wachstums. Sie unterstützt diese also durch künstlerische Prozesse. Indem man zum Beispiel ein Stück Erde modelliert, fühlt man sich wieder mit der Erde verbunden und kann eine Verbindung mit seinen Ursprüngen herstellen. Am anderen Ende der Menschlichkeit steht das unfertige Wesen, erzählte die Philosophin und Autorin Christine Gruwez. Denn die Würde des Menschen ist eine Idee, die keinen Inhalt hat. Sie ist eine Potenzialität: die Summe der Möglichkeiten, die mir als Mensch zur Verfügung stehen, die ich realisieren kann oder auch nicht. Da liegt auch meine Freiheit als Mensch. Sie ist zart, zerbrechlich, muss eine Zustimmung um mich finden, damit sie sich entwickeln kann. Auch Jean-François Alizon, Künstler und Spezialist für Carl Gustav Jung, unterstrich diese Notwendigkeit für den Einzelnen, in sich selbst die Ressourcen zu finden für die eigene Orientierung. Christiane Botbol, aktiv in humanitären Organisationen, beschrieb die Wichtigkeit des demokratischen Ansatzes, damit die Gesellschaft die Würde des Einzelnen garantieren kann.
Diese Momente des Todes, der Kindheit, der Naturbeobachtung, des Modellierens von Erde klangen während des Kolloquiums mit der Bewegungskunst von Maroussia Vossen und einem Barock-Musikstück, gespielt von Jean-François Alizon, zusammen. Das Thema der Menschlichkeit, der Würde und Verantwortung ist heute auf der ganzen Welt zentral. Ist es nicht eine natürliche Aufgabe der Anthroposophie, Räume zu ermöglichen, wo solche Fragestellungen wachsen und in ihrer Stille und Zerbrechlichkeit wirksam werden können?
Die Beiträge werden bald als Video auf der Webseite der Anthroposophischen Gesellschaft in Frankreich publiziert (auf Französisch) www.anthroposophie.fr.