Sollen die Kinder vor den neuen Medien geschützt werden, müssen sie dennoch lernen, damit umzugehen. Eine Buchrezension über den neuen Medienratgeber der Initiative diagnose:media.
«Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter!» So paradox diese These von Gerald Lembke klingt, so nachvollziehbar wird sie für alle, die das 2018 neu erschienene Buch ‹Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt› zur Hand nehmen. Auf 156 Seiten und in acht Kapiteln unterteilt finden sich gut lesbar Informationen und Handlungsanleitungen, wie Medienmündigkeit erreichbar ist und was Eltern, Lehrer, Erzieher und alle, die mit Kindern und Heranwachsenden zu tun haben, dazu beitragen können. Zahlreiche Fotos und eine den Inhalt gliedernde farbliche Gestaltung sind willkommene Lesehilfen.
Das Buch, das sich auf zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, weist auf die vielfältigen Gefahrenpotenziale digitaler Medien hin. Es wurde vom Bündnis für humane Bildung, dem Bund der Freien Waldorfschulen, Eliant, dem Verein diagnose-funk, dem Bund, der europäischen Akademie für Umweltmedizin und der Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch und Umwelt gemeinsam erarbeitet und von dem Physikdidaktiker Harald Scheler redaktionell betreut. Es zeugt somit auch davon, dass die Waldorfpädagogik mit ihrer kritischen Haltung gegenüber der digitalen Medienwelt im Hinblick auf die Entwicklung unserer Kinder heutzutage nicht mehr alleine dasteht.
In ihrem Vorwort schreibt Michaela Glöckler von Eliant: «Kreative und unternehmerische Kompetenzen haben ihr Entwicklungsfundament in der analogen Welt, nicht in der digitalen! Diesem Paradox müssen wir uns stellen – soziale Fähigkeiten, Kreativität und schöpferisches Denken brauchen für ihre Entwicklung den unmittelbaren Umgang mit Menschen und das Gespräch mit Andersdenkenden, nicht den Computer.» Das klingt sehr radikal, und man fragt sich, ob es nicht doch gut wäre, Kindern das Hineinwachsen in die digitale Medienwelt dadurch zu ermöglichen, dass man sie mit diesen Geräten vertraut macht. So schreibt etwa Robin Schmidt in einem Beitrag für die Pädagogische Sektion am Goetheanum: «Im Moment ist der Diskurs um digitale Medien vielfach geprägt von der postmodernen Verlustperspektive, einer Kritik, die noch davon ausgeht, man hätte eine Wahl zu einer anderen Welt, die nicht digital basiert wäre. Anstatt die Nutzer anzuklagen und zu beklagen, dass die Welt so ist, ist meines Erachtens heute die Frage zu stellen: Wie gestalten wir hier ‹Inklusion›, wie inkludieren wir uns, wie ermöglichen wir Teilhabe am Leben?» (1)
Natürlich ist diese Frage zunächst vor allem eine Frage nach dem Entwicklungsstand und dem Alter der Kinder. Zusammen mit den Herausgebern dieses Medienratgebers vertritt Michaela Glöckler hierzu eine klare Position, die man etwa so beschreiben könnte: «Solange mein Kind noch nicht schwimmen kann, lasse ich es nicht ins offene Meer hineinlaufen!» Mit diesem Bild wird deutlich, dass wir die digitale Medienwelt nicht nur wegen der virtuellen Inhalte, sondern auch wegen der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken – zum Beispiel der intensiven Strahlung der mobilen Geräte und dem den Schlaf beeinträchtigenden Licht der Bildschirme – von Kindern im ersten Jahrsiebt fernhalten sollten. Für sie gilt: «Analog first!» Den weiteren Entwicklungsstufen des zweiten und dritten Jahrsiebts entsprechend geben die Autoren dann natürlich auch detaillierte Ratschläge, wie Kinder und Jugendliche im Schulalter an die digitale Medienwelt herangeführt werden, also, um in unserem Bild zu bleiben, «Schwimmen lernen» können und wie man sie dabei begleiten kann und muss.
‹Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt› ist ein Ratgeber, der aber nicht nur über Risiken der neuen Medien für Kinder und Jugendliche aufklärt, sondern viele praktische Tipps zum Handeln gibt. Die sachkundigen Autoren ignorieren nicht die ‹digitale› Welt, vielmehr haben sie ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Medienerziehung verfasst, die sich an der Entwicklung des Kindes orientiert und nicht an den Interessen globaler Medienkonzerne. Hier geht es nicht um ein ‹Früh übt sich …›, sondern es gilt: Der beste Start ins digitale Zeitalter ist eine Kindheit ohne Computer. Eine Aussage, die sich querlegt zu unserer tagtäglichen Praxis. Ein Buch, das zum selbstbestimmten Umgang mit digitalen Medien Mut macht und gangbare Wege dazu aufzeigt.
(1) Robin Schmidt, Digitaler Wandel als Gesellschaftssituation, nachzulesen unter http://www.paedagogik-goetheanum.ch/fileadmin/paedagogik/Artikel/Robin_Schmidt_Digitaler_Wandel.pdf
‹Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt. Eine Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten›, diagnose:funk, 156 Seiten, 1. Auflage, Oktober 2018, 9.80 Euro. www.shop.diagnose-funk.org
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