Karmakreise bewegen

Nach sieben Jahren und nach Corona kamen Menschen der anthroposophischen Bewegung zu Michaeli am Goetheanum wieder zusammen. Drei Tage blühte der Austausch zwischen Peripherie und Zentrum. Die Weltkonferenz war ein Highlight dieses Jahres.


Es war bestes Wetter, goldenes Licht und die spätsommerliche Wärme, die nicht nur vom Kosmos aus-, sondern auch von der Erde aufstrahlt. Nach den Eröffnungstrompeten traf ich eine Bekannte, die ich lange nicht am Goetheanum gesehen hatte. Sie lachte mir augenzwinkernd entgegen und meinte, sie sei wegen der ‹Party› hier, und um ihre ‹Karmapeople› zu treffen. Ja, so fühlte es sich in der Tat an: eine lebendige Zusammenkunft von 1000 Freunden, Gleichgesinnten, Menschen aller Couleur und aus aller Welt. Sie waren dem Ruf der Goetheanum-Leitung gefolgt, durchaus auch mit Zweifeln und skeptischen Blicken im Gepäck, um sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man die anthroposophische Bewegung und ihre Arbeit in der Welt nach 100 Jahren neu gestalten könnte, sollte, müsste und wollte. Es war beeindruckend, wie vielfältig diese Frage in Bewegung gebracht werden kann, wenn von so vielen konkreten Menschen und Lebensfeldern aus getastet, gedacht und gesprochen wird. Zwölf Foren hatte das Vorbereitungsteam aus 400 Zuschriften komponiert, die nach Anfrage aus der Peripherie zurück ins Zentrum kamen: Wo sind unsere Beiträge für die Zukunft der Erde? Wie schaffen wir Frieden? Wie hängen Gesundheit des Menschen und der Erde zusammen? Wie etablieren wir assoziatives Arbeiten als Kulturtechnik? Welche Perspektiven auf den Transhumanismus ergeben sich aus der Anthroposophie? Wie kann Anthroposophie in der Öffentlichkeit gestärkt werden? Und wie kommunizieren wir richtig nach außen? Wie schafft man Führung und neue Perspektiven mit dem Werkzeug Anthroposophie? Wie komme ich von meditativer Selbstfindung zur Zusammenarbeit mit der Welt? Wie wird die Suche nach dem Ich in den aktuellen Debatten um Interkulturalität, Gender, Karma und Reinkarnation beitragen? Was kann die Kunst zu den aktuellen Herausforderungen beitragen? Und wie verwandeln wir das Primat der modernen Wissenschaft?

Peter Selg charakterisierte die Anthroposophische Gesellschaft als den Hoffnungsleibträger einer Wir-Gemeinschaft. Maaianne Knuth nimmt die Anthroposophie als eine heilende Bewegung wahr. Volkert Engelsman rief die ‹Koalition der Willigen› auf, das sichere Haus zu verlassen und den Mut zu haben, als Anthroposophinnen und Anthroposophen verletzlich zu sein. Marjatta Van Boeschoten sieht die Gesellschaft und die Bewegung als eine Art kultureller Gebärmutter für jeden von uns. Wir sollten nichts für uns behalten, sondern ganz aufmachen, sagte Gerald Häfner. Und Ueli Hurter bat darum, so zu sprechen, dass klar ist, es wird niemanden geben, der irgendwas für mich macht, sondern nur wir selbst können es tun. Viele Menschen erzählten von ihren Erfahrungen, teilten ihre Gedanken, ihre Auffassungen und Wünsche. Unser gemeinsames anthroposophisches Sein bejahte unser Menschsein und damit unser Weltsein auf eine liebevolle, warme und offene Art und Weise. Das zumindest lebte in den Begegnungen.

Mut zum Fragment

Verletzlichkeit schien sich als ein Faden durch die Tage zu ziehen. «We are a learning movement», bekannte jemand. Da dürfen Fehler sein und vor allem der Raum, sich in seinen Verletzungen und seiner Verletzlichkeit zu zeigen. Es bedeutet zu wissen, dass niemand die absolute Antwort hat, dass es die auch gar nicht geben kann. Unsere Ideale sind «durchseelte Ideen, die an den Willen appellieren», beschrieb Peter Selg. Das Feld des Handelns ist immer auch der Ort, an dem wir scheitern können. Und ja, es hat etwas Michaelisches, wenn der Wille des anderen in meinem Herzen lebt. Aber das muss geübt werden. Kunst kann uns dabei helfen. Sie ermöglicht, das Unperfekte zu wagen. Das Schöpferische ist kein Produkt, sondern ein Prozess, der in jedem Einzelnen beginnt. Expliziter ging es damit im Workshop ‹Verletzlichkeit als Ressource› zu, von einer Forschungsgruppe der World Goetheanum Association veranstaltet, die seit vier Jahren vor allem in und mit Unternehmen arbeitet. Welche Schätze erschließen sich, wenn wir Verletzlichkeit als eine Kernkompetenz verstehen? Eine verletzliche Begegnung ist immer auch eine echte Begegnung. Verletzlichkeit, nicht Verletzung, als Fähigkeit ist die Brücke, um das Leid des anderen überhaupt wahrnehmen zu können. Interessanterweise kommt es nicht zu den befürchteten Momenten, an denen man schmerzlich die Abwehr eines anderen spürt oder vielleicht selbst nicht so nah ‹betastet› werden möchte. Unser Leben im Menschsein verhindert das auf wundersame Weise; ich kann darauf vertrauen, dass mir und dir nichts geschieht, wenn wir wissen, was wir tun. Ein Bewusstsein vollzieht sich, es ist Leben, kein Konstrukt.

Das ‹anthroposophische Bewusstsein› wurde von Christine Gruwez als ein Schlüssel bezeichnet, der verschiedene Türen öffnen kann, durch die man etwas anders sieht. Und dieser Schlüssel ermöglicht, die Welt, das Schlüsselwort, in ihrer Vielfalt zu entschlüsseln. Die zweite Strophe und Gebärde des Grundsteinspruches, der morgens in Teilen vom Goetheanum-Eurythmie-Ensemble vorgeführt wurde, beginnt in der Herzregion und breitet sich in den Horizont aus. «Die Herzregion wird wach. Eine gewisse Wärme entsteht, eine Mitte, von der aus die Substanz der Herzwärme ausströmen kann. Umarmung ist der Anfang dessen, was Umkreis bedeutet. Und aus diesem Umkreis entsteht Menschheit.» So eröffnete Christine Gruwez ihren Beitrag. Wenn diese Gebärde in einem Menschen aus der Mitte heraus entsteht, wird Anthroposophie erneuert, «und als Weltbewegung neu gestaltet in einem ständigen Menschwerden und Menschheitswerden. Anthroposophie als Weltbewegung kann kein Erworbenes sein. Denn wäre es das, gäbe es schon keine Bewegung mehr.» In drei Motiven skizzierte Gruwez mutmachende Gedanken für einen zukünftigen Umgang zwischen Schlüssel und Schlüsselwort. Es braucht den Mut, Fragment zu bleiben. Wenn man das Werdende gestalten will, kann es nicht um eine endgültige Form gehen. Wir haben es mit Zeitgestalten zu tun. Sie berücksichtigen dasjenige, was zeitgemäß ist, was in einer Zeit angemessen und geeignet ist. In jeder Zeitgestalt muss ein Raum frei bleiben für die Möglichkeit, einen nächsten Schritt zu machen. Eine einzige Form kann nie die gesamte Potenz fassen. Aber die Zeitgestalt kann Zeugnis von der Potenz ablegen, von ihrem Streben zur Ganzheit. Dann braucht es den Mut zur Verletzlichkeit. Sie ist im Menschenwesen selbst begründet. «Gibt es eine verletzlichere Gebärde, als wenn wir vom Herzen aus die Arme ausbreiten, um den Umkreis zu umarmen?», fragte Gruwez. Aber das heißt nicht, ungeschützt zu sein. Der Mensch wird in die gottentleerte Welt hineintragen, was in ihm ist, beschrieb Rudolf Steiner im Leitsatz über die Menschheitszukunft und Michaels Tätigkeit. Was in ihm ist, das ist seine Wesenheit, wie sie in diesem Zeitalter geworden ist. Gruwez fasst es als ein Neugestaltungsmoment auf, wenn wir, auch trotz der öffentlichen Angriffe, uns bewusst werden, dass es jemanden gibt, der mit uns durch diese gottentleerte Welt schreitet in der gleichen Verletzlichkeit. Das heißt, wir sind nicht allein. Miteinander zu tragen, schafft auch neue Zeitformen. Und dann brauchen wir den Mut zum Wachbleiben, schloss Gruwez ihre kurze Ansprache. Wir sind durch die Zeitumstände wachgerufen worden, aber kann unser Herz wach bleiben, auch wenn wir die Konferenz verlassen haben? In dieses wache Herz, so Gruwez, ist der Grundsteinspruch gelegt worden. Es ist der Ort, wo die Herzen beginnen, Gedanken zu haben. Daraus entstehen Weltenwerdetaten.

Zwischen Gesellschaft und Bewegung

Es gibt weltweit 35 Landesgesellschaften mit ca. 41 000 Mitgliedern. Geschätzt haben ca. eine Million Menschen mit der anthroposophischen Bewegung zu tun. Diese Zahl wächst jedes Jahr. In der Welt gibt es immer mehr Farmen, die biodynamisch arbeiten wollen, oder Kindergärten, die waldorfpädagogisch orientiert sind. Die Anthroposophische Gesellschaft jedoch schrumpft. Etwa 1000 Mitglieder kommen zwar jedes Jahr dazu, aber mehr verlassen die Gesellschaft. Wer hat die Verantwortung für ‹Anthroposophia›? Man kann meinen, sie sei durch Rudolf Steiner in die Welt getragen worden und nun frei für jeden Menschen zugänglich in jedermenschs eigener Verantwortung. Eine junge Frau aus Indien stellte die Frage, wenn eine Gesellschaft mit Liebe beginnt und ins Leben kommt, warum man die Bewegung dann noch ‹anthroposophisch› nennen müsse. Jemand erzählte mir, sie sei vor vielen Jahren nur Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft geworden, weil durch diese das Bauwerk Goetheanum vor dem Verfall geschützt wird. In diesem Spannungsfeld steht das Zentrum und stellt ausgehend vom Erbe und den 100 Jahren Wegarbeit in der Welt die Frage nach der Zukunft. Wie und wo wird sich die Bewegung selbst esoterisch versorgen können? Wird es viele Zentren geben und die Dynamik zur Peripherie sich als Myriade verwirklichen? Verwäscht sich dann, was Rudolf Steiner als einen Einweihungsweg mit der Anthroposophie gegeben hat? Und was meinen die vielen Menschen, wenn sie Anthroposophie sagen? Die Anthroposophische Gesellschaft trägt Sorge dafür, dass diese Weltanschauung und diese Geisteswissenschaft vermittelbar sind, dass die Hinterlassenschaft gepflegt, aufgearbeitet, erforscht wird, und damit überhaupt zur Verfügung steht als ein Erkenntnisweg. Sie erhält in der Tat das physische und geistige Gebäude, welches wir betreten, um unser Menschsein in dieser Art und Weise zu verstehen. «Die Anthroposophische Gesellschaft muss immer wieder bestätigt und gewollt sein», sagte Constanza Kaliks am Ende der Konferenz im Namen der Vorbereitungsgruppe. Und Andrea Valdinocci, auch im Vorbereitungsteam, rief zum Helfen auf, Anthroposophie mit der Welt zu teilen.

Verwandlung

Am Ende der Konferenz standen auf der Bühne des Großen Saals etwa einhundert junge Menschen aus aller Welt und teilten ganz unprätentiös ihre Gedanken. Eine großartige Realisierung war: «I am Anthroposophy. I am Sekem. I am the one, who is connected to this people.» Zwischen ‹alten Hasen› und ‹jungen Hüpfern› herrscht eine schöne Weite, befand ein junger Mann aus Baden-Württemberg. Man erlebte auf beiden Seiten, und wunderbar zum Ausdruck gebracht von einer jungen philippinischen Bäuerin, dass die Konferenz wie ein Kompost ist, der durch unsere Erfahrungen und unseren Austausch unsere Willenskeime zum Gedeihen bringt. Darin klang ein Formmotiv der anthroposophischen Bewegung an: Wir werden eine Konferenz!

Es ging auch um die Bewegung zwischen innen und außen, zwischen Erkennen und Tun. Europa steckt in einer ‹Krise des Wissens›, wurde bei dem unvorbereiteten, also gewagten Dialog auf der Bühne von Christiane Haid und Wolfgang Tomaschitz festgestellt. Etwas mit uns und unserem Narrativ von Wissen ist brüchig geworden. An der Frage nach dem Denken stellt sich die Frage nach dem Menschen. Gemeinsam mit der Welt darüber zu sprechen, braucht heute neue Erkenntnissprachen und -praktiken. Das ist nicht theoretisch zu erledigen. Wie beschreiben wir die Erkenntnissituation neu? Wie integrieren wir darin eine Phänomenologie des Inneren? Und wie wiederum können wir auch mit nicht anthroposophisch orientierten Menschen darüber sprechen? Eine These aus einem Gespräch mit Wolfgang Müller war: Die Sprache finden wir gerade erst im Umgang mit der nicht anthroposophischen Welt. Also Offenheit – und zugleich Klarheit. Für ihn heißt das zum Beispiel: Eine Spiritualität, die Erkenntnisfragen ausblendet, kann nicht die seine sein. Und ist nicht das Etikett ‹Anthroposophie› manchmal hinderlich? Von der nicht anthroposophischen Welt wird irgendwie diffus angenommen, dass man mit dem Label ‹Anthroposophie› unfrei geworden ist, dass man dem ganzen Bündel anthroposophischer Anschauungen verpflichtet sei. Wir sind aber selbst die Bürgen geistiger Freiheit, dass es also nicht sektiererisch wird. Und es gibt auch eine Bringschuld, die Bedeutung der Anthroposophie verständlich zu machen. «Ohnehin werden wir, wenn das nicht gelingt, durch die Manege gezogen», sagte Müller noch. Und es gibt Momente, wo ich um der Freiheit des Einzelnen willen nicht verstecken kann, zu welchem ‹Haus› ich gehöre. Denn schließlich steht es in jedermanns eigener Verantwortung als freies Wesen, zu einem Urteil über den Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt von Gedanken zu kommen. Ich muss nicht meine Anthroposophie rechtfertigen, sondern sie womöglich einfach leben und leben lassen.

Gilda Bartel

Ein Atmen in der Welt

Die anthroposophische Welt außerhalb von Dornach und Deutschland war in diesen drei Tagen wunderbar wahrnehmbar, in ihrer Leistung und ihrer Sehnsucht, etwas beizutragen. Manche europäische Probleme stellen sich in anderen Teilen der Welt ganz anders dar. Die Pioniersituation der Anthroposophie, die es in der Schweiz vor einhundert Jahren gab, haben andere Länder gerade jetzt: in einer anderen Zeit und in anderen Situationen. Der Umkreis trug seine Fragen und seine Art zu arbeiten in die Konferenz hinein wie ein Spiegel und als eine Bereicherung. Es gab auch den Wunsch, sich noch mehr zu verbinden. Die Peripherie braucht die Vernetzungshilfe für die Umsetzung ihrer Anliegen. Zum Beispiel erzählte ein Mann aus Japan von seiner Friedensinitiative, Deutschland, Amerika und Japan zusammenzubringen, um spirituell und ‹länderkarmisch› gemeinsam das Leid von Hiroshima und Nagasaki zu heilen. Dafür suchte er Mitstreitende. Ein junges russisch-ukrainisches Paar berichtete von ihrem Versuch, die kriegstreibenden Mächte zu verstehen und zu umgehen. Rembert Biemond schilderte sein Anliegen mit einem ‹Planetary Service›. Es waren so viele gute Unternehmungen, Initiativen, Begegnungen, Verankerungen, Impulse und Gedanken zu erleben, die alle in diese auch gefährdete Welt Hoffnung hineintragen. Sei es durch Selbsterziehung, sei es durch Raumbereitung, sei es durch schaffende Willenskraft. Eine vielleicht erschrockene, angstvolle, beunruhigte Seele hätte sich vertrauensvoll in ihr Menschsein einfühlen können. «Wir sind bedingte, aber nicht festgelegte Wesen», zitierte Constanza Kaliks den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire. Wie wir uns und die Welt wahrnehmen, wie wir denken und fühlen, obliegt unserer Entscheidung. Daraus entstehen unsere Handlungen.

«Wie herausfordernd, nur wahrzunehmen, und wie reich, nur zu schauen, ohne zu sprechen, ein introvertierter Tag, in Interesse gehüllt», beschrieb eine Frau aus Island ihren zweiten Konferenztag. Sie fragte mich auch, ob es vom Vorbereitungsteam bewusst gestaltet wurde, dass man bei den Veranstaltungen mehr ins intuitive Wahrnehmen gelangt, dass also diese ‹Sinne› bewusst angesprochen werden. Ich weiß nicht genau, welche Leitung in welcher Art und Weise an der Konferenz mitkomponiert hat, aber danke!


Alle Bilder Weltkonferenz 2023 am Goetheanum, Fotos: Xue Li

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