Die Junge Bühne von Andrea Pfaehler spielte ‹Noch einmal davongekommen› nach einer Vorlage von Thorton Wilder.
Alle können wir Krisen nennen, die uns bedrohen, existenziell herausfordern: Krieg, Diktatur, Klima, Artensterben, Hunger, Gewalt, Handy-Sucht. Thornten Wilder greift für seinen Dreiakter stellvertretend drei heraus: Eiszeit, Sintflut, Krieg. Die Familie Antrobus (griechisch Anthropus = Mensch) erleidet sie: Herr und Frau Antrobus (Adam und Eva), ihr Sohn (Kain), ihre Tochter und ihr Dienstmädchen Lily Sabina (Lilith). Die Krisen werden ‹nur› im Spiegel einer Theaterprobe thematisiert. Die Schauspieler erarbeiten sich die Darstellung dieser Krisen für die Bühne. Der Schauspieler, der Kain spielt, hat einen Wutanfall. Er will diese schreckliche Rolle nicht spielen. Schließlich beruhigt ihn der Regisseur: «Von allen Schauspielern kannst du diese Rolle am besten spielen. Gib ihr etwas von dir und sie wird dir ihrerseits etwas zurückgeben.» Einleuchtend. Wenn ich etwas von mir selbst in meine Rolle hineingebe, erkenne ich an mir bisher unbekannte Seiten. Die drei Ebenen – der Schauspieler oder die Schauspielerin als Beruf, der dahinterstehende Mensch und die Rollen, die sie sich erarbeiten – durchdringen sich gegenseitig. Bei den Übergängen entstehen aufschlussreiche Brüche: eine Art ‹Verfremdung›, an der Bertolt Brecht seine helle Freude gehabt hätte.
Lily Sabina fällt im ersten Akt aus der Rolle und vertraut dem Publikum an, dass sie dieses Stück hasst, weil sie es nicht begreift. Sie lässt sich nicht beruhigen, muss vom Regisseur schließlich durch die Putzfrau ersetzt werden. Vertrieben von riesigen Eismassen, hält eine Kolonne von Flüchtlingen vor dem Haus. Fast erfroren und verhungert. Trotzdem singend. Erst jetzt begreift Lily Sabina. Sie bricht in Tränen aus. So hört der 1. Akt auf. Das geht unter die Haut. Welch ein Prozess hinter alldem steht, kann man erahnen, wenn man die Rollenbeschreibungen im Programmheft liest. Jedes Mitglied des Ensembles hat einen solchen Kurztext verfasst. Diese Texte sind nicht redigiert. Typisches Beispiel: Die Tochter der Familie Antrobus wehrt sich im Stück vehement, wenn ihr Vater zur Mutter sagt: «nicht vor den Kindern». Sie schreit immer wieder heraus: «Ich bin kein Kind mehr.» Sie hält im Programmheft fest, sie sei auch zu Hause privat voll drin im Prozess des «Erwachsenwerdens». «Diese Überschneidung gibt mir Inspiration, um die Rolle zu fühlen.» Und: «Die Rolle hilft mir, diesen Prozess im realen Leben besser zu meistern.»
Durch diese Art der Arbeit erreichen die 20 Jugendlichen zwischen 16 bis 21 ein erstaunlich hohes Niveau, das man – durch die Aufführungen der letzten Jahre verwöhnt – schon fast erwartet. Trotzdem ist man immer wieder von Neuem überrascht. Die gegenwärtige Aufführung ist wieder genial. Es lebt. Sie ist die siebte der Jungen Bühne Dornach. Ohne eine geeignete ‹Geburtshilfe› im sokratischen Sinn wäre das kaum möglich. Diese besondere Art einer ausgezeichneten Regieführung (durch Andrea Pfaehler) verdient es, hervorgehoben zu werden. Die Zuschauerinnen und Zuschauer haben das durch einen lebhaften Applaus mit Standing Ovations honoriert. Im Ganzen war das ein durchaus jugendliches Publikum. Besonders junge Menschen waren von den Aufführungen angezogen und begeistert. Junges Leben strömt ins Goetheanum.
Dank geht auch ans Goetheanum selbst: Es ist nicht selbstverständlich, dass es von Anfang an unbürokratisch auf verschiedenste Weise geholfen hat, dass die Junge Bühne Dornach hier ihre Heimat finden konnte. Die Jugendlichen kommen von den verschiedensten Seiten. Darunter sind Steiner-Schüler, Schülerinnen aus den Gymnasien der Umgebung (z. B. Münchenstein, Oberwil, Muttenz, Basel), aber auch Jugendliche, die ein Handwerk lernen oder sich auf eine künstlerische Laufbahn vorbereiten. Andrea Pfaehler und ihr Team arbeiten mit allen Jugendlichen ab 16, die wirklich motiviert sind. Nicht eine gecastete elitäre Auswahl von sogenannten Hochbegabten kommt hier zusammen, sondern Jugendliche, die bereit sind, sich voll auf den Prozess einzulassen. Da spüre ich lebendigen, unverbrauchten, echten Waldorf-Geist.
Die Ensemblemitglieder sind weitmaschig vernetzt: mit ehemaligen Ensemblemitgliedern, die oft an mehrere Aufführungen kommen, mit den vielfältigsten Kolleginnen, Freunden und begeisterungsfähigen anderen Jugendlichen.
Es wäre noch manches hervorzuheben: Etwa das ausgezeichnete Bühnenbild, das mit der Stimmung im Stück unmerklich mitgeht und bei den passenden Stellen kurze Filmsequenzen enthält. Eindrücklich der Flüchtlingszug, der einen Hügel herunterstürmt (gespielt vom Ensemble), die alles unter sich begrabenden Schneemassen, die sich auftürmen, der Sturm vor der Flut, der von bedrohlichem Donnern begleitet wird.
Eindrücklich auch die Musik: das Singen – besonders die A-capella-Chöre von höchster Qualität –, die instrumentale Begleitung, Sing- und Instrumentensolos und Tanzeinlagen. In der Jungen Bühne Dornach erhalten die Jugendlichen die seelische und geistige Nahrung, die sie so sehr brauchen, um den Herausforderungen des heutigen Lebens ruhig, mutig und voller Zuversicht zu begegnen.