Jochen Bockemühl (1928 – 2020)

Leben und Arbeiten des Naturforschers und Lehrers.


Johannes Wirz Ich lernte Jochen über eine Ausstellung am Goetheanum kennen, die er 1980 für die Landesgartenschau konzipiert hatte. Es war meine erste Begegnung mit der Anthroposophie. Die ausgestellten Arbeiten lösten in mir, dem Studenten der Molekularbiologie an der Uni Basel, große Resonanz aus. In der Folge nahm ich mit Begeisterung an den Januartagen für Biologen und Biologielehrer sowie an den Herbsttagungen der Naturwissenschaftlichen Sektion teil. Nach meiner Promotion holte mich Jochen als Mitarbeiter und Student an die Sektion. In meinem ersten Jahr 1987 hatte ich zwei beunruhigend-beglückende Erlebnisse. Zum einen spürte ich in Jochens Kursen meine Denkaktivität im Hinterkopf, an der Uni erlebte ich sie vorne an der Stirn. Zum anderen waren die unendlich vielen Eindrücke der Sinneswelt, auf die uns Jochen auf Exkursionen hinwies, im wahrsten Sinne des Wortes sinnes- und atemberaubend. Als Experimentalbiologe, der sich mit ‹unsichtbaren Genen› beschäftigt hatte, war meine Phänomenwelt an der Uni ziemlich arm. Ähnliche Erlebnisse haben Jochen Bockemühl und sein Freund und Arbeitskollege Georg Maier wohl bei vielen Studierenden ausgelöst.

Ich spürte in Jochens Kursen meine Denkaktivität im Hinterkopf, an der Uni erlebte ich sie vorne an der Stirn. Dann waren es die unendlich vielen Eindrücke der Sinneswelt, auf die uns Jochen auf Exkursionen hinwies, im wahrsten Sinne des Wortes sinnes- und atemberaubend.

Cornelis Bockemühl Als ältester Sohn von Jochen hatte ich keine bewusste Erstbegegnung. Vielmehr suchte ich erst recht spät, als ich schon mit einer eigenen Dissertation an der Universität tätig war, den eigenen Kontakt zu Forschungsinstitut und Sektion. Schon von klein auf hatte ich aber das vollste Vertrauen, dass zwischen Naturwissenschaft und Anthroposophie, wie mein Vater sie betrieb, keinerlei Bruch oder Widerspruch bestehen könne. Dieses Vertrauen hat sich seither nicht relativiert, sondern vertieft. Jochens Naturwissenschaft war immer eine Wissenschaft des Lebendigen, während meine eigenen Interessen der unbelebten Natur galten – zuerst der Astronomie, später dann dem Studium der Geologie.

Schon als Kind in Dresden, wo Jochen als zweiter von fünf Brüdern im Jahre 1928 auf die Welt kam, muss er von Tieren fasziniert gewesen sein. Er beobachtete alles, was im Garten, im Wald und an den Wegrändern kriecht, krabbelt und flattert. Eine Probe seiner dadurch gewachsenen Beziehung konnten wir viele Jahre später während eines Kurses im Glashaus erleben: Es hatte sich eine Libelle in den Raum verirrt. Aber anstatt einfach das Fenster zu öffnen und sie hinauszulassen, machte Jochen einen blitzschnellen Griff in die Luft – und er hatte die Libelle mit sicherem Griff am Körper so gepackt, dass ihr kein Schaden entstehen konnte. Sie konnte die Freiheit erst nach einer Runde intensiver Betrachtung durch viele Kursteilnehmer wiedergewinnen – geborgen im gekonnten Griff von Jochens Hand.

Illustration: Adrien Jutard, inspiriert von
den Blattreihen zur Metamorphose von Jochen Bockemühl, Monotypen, 2020

Nach der Promotion in Tübingen über Collembolen (von Auge fast nicht sichtbare Kleininsekten, deutsch auch Springschwänze) holte Frieda Bessenich Jochen im Jahre 1956 nach Dornach, ans Blutkristallisationslabor im Glashaus, ins Forschungslabor am Goetheanum. In dieses Jahr fiel auch die Heirat mit Almut Henn, die er in Tübingen im anthroposophischen Studentenkreis kennengelernt hatte und mit der er in der Folge eine Familie mit vier Kindern gründete. In einem Tagebuch aus dieser Zeit kann man lesen, dass seine Suche nach Forschungsmöglichkeiten weiterhin in Richtung Tierreich ging. So überlegte er, ob etwa Ameisen dazu geeignet wären. Erst später wandte er sein Interesse dann den Pflanzen zu, die der anschauenden Beobachtung zunächst sehr viel zugänglicher sind.

Zuerst war Jochens Tätigkeit am Glashaus für ein Jahr gedacht: Die Hälfte der Zeit sollte er Frieda Bessenich im Blutkristallisationslabor unterstützen, die andere Hälfte konnte er eigener Forschung widmen. Das ging dann allerdings etwas länger und hat sich auch stark gewandelt. In den frühen Jahren müssen auch tatsächlich die Tiere noch eine Rolle gespielt haben. Als kleines Kind konnte ich manchmal im Mikroskop riesig scheinende Springschwänze herumkrabbeln sehen; sie kamen mir fast wie Ungeheuer vor. Auch Versuchsreihen zur Keimung und Wurzelbildung in zunehmend höher potenzierten Lösungen wurden durchgeführt. Von dieser Art beweisender Untersuchung oder Bestätigungsforschung hat er sich aber eines Tages verabschiedet. Er hat mir später erzählt, dass er gelegentlich den Verdacht bekommen habe, dass gewisse scheinbare Potenzierungseffekte vielleicht eher mit einer leichten Vergiftung durch Kupfer aus den Laborgeräten zu tun haben könnten …

Im Jahre 1963 übernahm Hermann Poppelbaum die Leitung der Naturwissenschaftlichen Sektion. Sein Büro war allerdings nicht im Glashaus, wo sich das Forschungslabor mit Frieda Bessenich befand, sondern im Goetheanum, und seine Tätigkeit fand am Schreibtisch und in Gesprächen statt. Dass Jochen daraus starke Anregungen zur inneren Vertiefung des praktisch im Labor und in der Natur Erforschten gewonnen hat, kann deutlich werden, wenn man alte Aufsätze von Herrn Poppelbaum zur Hand nimmt. Die dort angeregte Selbstbeobachtung des ‹alltäglichen› Seelenlebens hat Jochen in seinen späteren Jahren in dem Sinne erweitert, dass er dabei zunehmend seine eigene forschende Seelentätigkeit ins Auge fasste. Das wurde gelegentlich in dem Sinne missverstanden, dass man darin eine ‹nur methodische› Bemühung sah, die nicht zu den Gegenständen vordringen will. Das wird der Sache aber bei Weitem nicht gerecht.

Hermann Poppelbaum war damals schon hoch betagt (Jahrgang 1891), und in dem Maße, wie seine Kräfte nachließen, ließ er sich gerne durch ‹Sekretäre› unterstützen – Anselm Basold, Mario Howald und Jochen Bockemühl. Im Jahre 1971, zu seinem 80. Geburtstag, übergab er die Sektionsleitung an Jochen, und aus dem Unterstützerkreis ist mit der Zeit das Sektionskollegium gewachsen, zu dem damals bald auch Menschen wie Norbert Pfennig, Robert Bünsow, Ernst-August Müller, Thomas Schmidt und Manfred von Mackensen stießen. Eine von Jochens ersten Handlungen in dieser Rolle war es, Georg Maier wieder ans Glashaus zu holen. Dieser hatte früher schon einmal dort mit Eugen Schiller zusammengearbeitet – später erzählte er dann immer mit verschmitzt lächelndem Stolz, wie er da schließlich entlassen wurde. Dieser Emanzipationsschritt war ihm wichtig, vielleicht in ähnlicher Weise, wie Jochen sich auch von der Bestätigungsforschung emanzipiert hatte. So nahm die langjährige fruchtbare Zusammenarbeit dieser beiden so sehr verschiedenen Persönlichkeiten ihren Anfang – voller Enthusiasmus und Tatendrang, mit der Absicht, neue Wege zu suchen und zu beschreiten.

Vielleicht kann man Jochens experimentelle Arbeit charakterisieren als die Bemühung, ‹sichtbar zu machen, was sichtbar ist› – im Gegensatz zur Galilei zugeschriebenen Maxime, zu ‹messen, was messbar ist›.

Vielleicht könnte man einen wesentlichen Teil von Jochens experimenteller Arbeit charakterisieren als die Bemühung, ‹sichtbar zu machen, was sichtbar ist› – im Gegensatz zur Galilei zugeschriebenen Maxime, zu ‹messen, was messbar ist›. So ist eine Pflanze ja mit ihren Organen jederzeit in der Natur sichtbar. Verfolgt man ihr Wachstum hingegen von Tag zu Tag und nimmt dabei jedes Blatt sorgfältig ab, sobald es sich anschickt, zu verwelken (und somit zum Stoffwechsel nicht mehr beiträgt), dann kann man diese Blätter schließlich getrocknet und gepresst in Reihen aufkleben. Diese Blattreihen bringen dann feine Unterschiede in Gestalt und Wachstum zur Erscheinung und zum Bewusstsein, die sonst kaum aufgefallen wären: Eine Pflanze ‹passt› immer in ihre Umgebung! Aber was passt, sind wir geneigt, zu verschlafen. Im Verlaufe von zahlreichen unterschiedlichsten Forschungsprojekten sind große Mengen dieser Blattreihen entstanden. Im gleichen Sinne hat Jochen sich darum bemüht, auch das Wurzelwachstum in speziellen Wurzelkästen beobachtbar zu machen.

Wirz Das anthroposophisch-naturwissenschaftliche Studienjahr, das zwischen 1974 und 1996 unzählige Studierende im Glashaus mitgemacht haben, war ein wichtiges Geisteskind von Georg und Jochen. Es entstanden dort viele zum Teil sehr gediegene Projekt­arbeiten. Darüber hinaus war diese Ausbildung Ausgangspunkt für die Gründung neuer Forschungsinitiativen, die bekanntesten sind wohl das Nature Institute von Craig Holdrege in den USA, die Getreidezüchtung Peter Kunz (GZPK) und die Arbeitsgruppe Bellis. In vielen Ländern arbeiten heute auch ‹Einzelkämpfer› mit der inneren Haltung und den Methoden, die Jochen und Georg Maier im Studienjahr weitergegeben haben. Liebe zur Sinneswelt und Schritte zu einer lebendigen, authentischen Wissenschaft waren und sind auch in meinen Projekten bis heute die Grundlagen geblieben.

Forschungsprojekte

Jochens didaktisches Geschick ruhte auf einer sorgfältigem Forschungspraxis, in der er in den Anfängen seiner Tätigkeit als Leiter der Naturwissenschaftlichen Sektion den Pflanzen ihre Geheimnisse entlockte – seine Untersuchungen der Blattmetamorphose und der Einzelblattentwicklung und ihrer polaren Wechselbeziehung gehören bis heute zu den Klassikern der Goethe’schen Morphologie. Mit Recht hat der ehemalige Leiter der Mathematisch-astronomischen Sektion, Georg Unger, darauf hingewiesen, dass mit dieser ‹Imagination› eine gute Darstellung des Doppelstroms der Zeit gegeben worden sei. Nach Rudolf Steiner ist die Einsicht in die zwei Zeitströme von der Vergangenheit zur Gegenwart und von der Zukunft her eine Vorbedingung für die Entwicklung zum Geistesforscher.

Die Versuche zum Pflanzenwachstum im Jahreslauf, unter Licht und Schatten, in mageren und gut versorgten Böden zeigen die Virtuosität der Anpassungsfähigkeit der Pflanzen, aber auch, wie die Art, das Wesen, bei allen Unterschieden ihrer Gestalt immer es selbst bleibt – auch das ist ein Kernstück der Goethe’schen Biologie. Seine jahrelangen Untersuchungen des Gemeinen Greiskrautes haben die Beziehung der Goethe’schen Urpflanze zur Pflanzengenetik in ein neues Licht gerückt wie keine goetheanistische Arbeit davor.

Einen weiteren ‹Quantensprung› bedeutete auch die Darstellung der Elemente und Ätherarten von Georg und Jochen. Nach den theosophischen Darstellungen naturwissenschaftlicher Themen durch Günther Wachsmuth und einer gediegenen gedanklichen Ausarbeitung erweiterter Gesichtspunkte zu aktuellen Forschungsresultaten von Hermann Poppelbaum begannen die beiden – wie andere Kollegen (Schad, Suchantke, Göbel und Kranich) auch – eine goetheanistische Naturwissenschaft mit ihrer besonderen Philosophie und ihren eigenen Forschungsmethoden zu entwickeln. Es verwundert daher nicht, dass Elemente und Ätherarten aus der Perspektive des erlebenden und erkennenden Menschen untersucht wurden. Für einige schien das ein Rückschritt zu sein, für viele von uns war es jedoch das Gegenteil: der Versuch, zu erfahrungsgesättigten, d. h. praktischen und nicht theoretischen Bergriffen und Ideen zu kommen, die letztendlich die Zusammenführung von Sinneswelt und Geisteswelt möglich machen.

Für die Dokumentation der zahlreichen Forschungsprojekte, die durch Bockemühl und Maier selbst oder unter ihrer Anleitung durch die Studierenden des Anthroposophisch-naturwissenschaftlichen Studienjahres durchgeführt wurden, stand eine professionelle Fotoausrüstung zur Verfügung. Außerdem leistete sich die Sektion einen Fotografen, der die Filme entwickelte und in hochstehende Fotos umsetzte. Neben vielen Fachpublikationen entstanden Ausstellungen, die in Katalogen dokumentiert wurden: ‹Lebenszusammenhänge erleben, erkennen, gestalten› (1980) und ‹Sterbende Wälder – eine Bewusstseinsfrage› (1984).

Landschaft und Atmosphären

Das technische Vorgehen änderte sich, als Jochen begann, seine Arbeiten zur Landschaftserkenntnis zu intensivieren. Jetzt gehörten Zeichnen und Malen zu den zentralen Werkzeugen. Er sah diese Fertigkeiten nicht als ‹Kunst›, sondern als Übungen auf einem Schulungsweg. Eindrücke von Wanderungen, Exkursionen oder seinen vielen Reisen setzte Jochen meist abends aus der Erinnerung in großformatige, mit Pastellkreide gemalte Bilder um. Es müssen Hunderte gewesen sein. Für mich war immer wieder erstaunlich, wie detailgenau Jochen malen konnte. Diese Aktivität beförderte mit Sicherheit die Vervollkommnung der imaginativen Fähigkeiten – und kann als Umsetzung von Rudolf Steiners Aussage über das Verhältnis von Erinnerung und Imagination gelten. Ebenso diente sie der Vertiefung in die Atmosphäre und das Wesen von Landschaften.

Jochen Bockemühl

Auch auf diesem Gebiet wurden die Forschungsergebnisse mit einer großen Ausstellung und einer dazugehörenden Dokumentation der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht: ‹Erwachen an der Landschaft› (1992). Diese Arbeit wurde an Landschaftstagungen an verschiedenen Orten gepflegt (Berlin, Ungarn, Dornach, Dresden), woraus schließlich der Verein ‹Petrarca› entstand, in dem Landschaftsökologen, -gestalterinnen und -architekten bis heute zusammenarbeiten.

Heilpflanzen

Auf der Grundlage vieler Artikel zu Heilpflanzen startete Jochen ein weiteres Großprojekt, das in der Publikation des dreibändigen Werks ‹Ein Leitfaden zur Heilpflanzenerkenntnis› der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Seine reich bebilderten Darstellungen sind keine einfache Lesekost. Doch sind sie so angelegt, dass die Leserinnen und Leser auf einen Schulungsweg geführt werden, der ihnen letztendlich nicht nur die Vielfalt der europäischen Heilpflanzen erschließt, sondern sie verstehen lässt, wie die Anwendungen in der traditionellen alten Heilkunde – oft aus einer nicht voll bewussten Anschauung – zustande kommen.

Sein Wissen teilte Jochen in langjährigen Seminaren in der Arbeitsgruppe für Pharmazeuten mit Apothekerinnen und Apothekern, Ärztinnen und Ärzten und in späteren Jahren in Heilpflanzenwochen für angehende Ärzte der Uni Witten-Herdecke zusammen mit Friedrich Edelhäuser.

Es hatte sich eine Libelle in den Raum verirrt. Da machte Jochen einen blitzschnellen Griff in die Luft – und er hatte die Libelle mit sicherem Griff so gepackt, dass ihr kein Schaden entstehen konnte. Sie konnte die Freiheit erst nach einer Runde intensiver Betrachtung durch viele Kursteilnehmer wiedergewinnen – geborgen in Jochens Hand.

Biodynamische Landwirtschaft und die Präparatepflanzen

Jochen musste als Sektionsleiter 1971 auch die Abteilung für Landwirtschaft übernehmen. Für deren Leitung konnte er noch im gleichen Jahr Herbert Koepf gewinnen, der die Aufgabe in Teilzeit übernahm, weil er in Großbritannien und den USA mit Lehrverpflichtungen und Forschungstätigkeiten gebunden war. Nicht zuletzt wegen der positiven Erfahrungen in der Sektion mit einem beratenden und unterstützenden Kollegium gründeten die beiden mit dem Vertreterkreis ein vergleichbares Gremium. Die ausgewogene Vertretung vieler Akteure in der biodynamischen Landwirtschaft und das merkuriale Geschick von Jochen führten rasch zu einer dynamischen Entwicklung der internationalen biodynamischen Bewegung, die sich bis heute jährlich zur Landwirtschaftlichen Tagung trifft, heute ein Großanlass mit Teilnehmenden aus aller Welt. Nach Herbert Koepf konnte Jochen Manfred Klett für die landwirtschaftliche Abteilung engagieren, der sie zunehmend eigenständig koordinierte. Unter Nikolai Fuchs wurde die Abteilung zur Sektion für Landwirtschaft, die bis heute in einer kollegialen Beziehung zur Naturwissenschaftlichen Sektion im ‹Glashaus› arbeitet.

Auch hier initiierte Jochen zusammen mit Georg Maier eine Fortbildung, die unter dem Namen ‹Arbeitstage für junge Landwirte› rege besucht wurde. Wie stark das Bedürfnis für ein solches Seminar war, zeigte sich an der Gruppengröße: In vielen Jahren wurden 30 Leute angelockt, welche sich im Januar für drei Wochen aus ihren Betrieben ausklinkten. Die Tage waren ein gelungenes Experiment für Gemeinschaftsbildung; die Teilnehmenden verbrachten nicht nur die Tage zusammen, sondern auch die Nächte, da sie im Pfadfinderheim unterhalb der Schlossruine Dorneck untergebracht waren. Kari Järvinen aus Finnland war schon früh als Mitbetreuer dabei und wurde später neben Jochen zur tragenden Figur. Die Zusammenarbeit mit Jochen fand im Büchlein ‹Auf den Spuren der biologisch-dynamischen Präparatepflanzen› einen würdigen Ausdruck.

Die späten Jahre

Ein Thema, das von Anfang an präsent war, rückte in der letzten Phase von Jochens Tätigkeit in den Vordergrund: die Selbstbeobachtung, die Bewusstmachung der eigenen Seelen- und Denktätigkeit. Sie ist insofern die eigentliche spirituelle Vertiefung, als sich das Innere (Geistige) der Welt im Inneren des Menschen zeigt und offenbart. Das war nicht nur ein methodischer Kunstgriff, sondern die Grundlage für die Einsicht in die reale Verwandtschaft von Mensch und Welt, Mikro- und Makrokosmos!

Zu seiner Enttäuschung – und dies schmerzte ihn immer wieder – vermochten Teilnehmende an seinen Kursen und Seminaren nicht mehr immer zu folgen. Es gehört sicher zum Weg eines Geistesforschers, dass er oft an die Grenzen des Aussprechbaren stößt und stets auf Achtsamkeit, Mitdenken, Respekt und Empathie angewiesen ist.

Doch unverdrossen machte sich Jochen auf, jetzt zusammen mit Stefan Langhammer von der Medizinischen Sektion, den Schulungsweg für Ärzte aufs Papier zu bringen, der unter dem Titel ‹Methodologische Aspekte des Studiums Anthroposophischer Medizin› 2012 im ‹Merkurstab› erschien.

Geplagt von gesundheitlichen Beschwerden wurde Jochen lange unterstützt durch seine Frau Almut, die zuletzt aber durch ihren eigenen fragilen Gesundheitszustand auch zunehmend belastet war. Deshalb konnte er sein letztes Projekt, den verbindenden roten Faden in seiner Lebensarbeit am Goetheanum von den ersten Anfängen bis zum Ende darzustellen, nicht mehr vollenden. Doch wer sich die Zeit nimmt, seine Arbeitsbiografie durch ausgewählte Veröffentlichungen zu verfolgen, wird leicht erkennen, wie frühe Einsichten wie die Raupe eines Schmetterlings wachsen und wie sich diese Gedanken in einem Ruhezustand – ähnlich der Verpuppung, in der sich der Schmetterling zur vollen Schönheit entfaltet – zur vollen Klarheit verwandeln. So ist es mir ergangen, als ich mich kürzlich wieder einmal mit dem Aufsatz über die Elemente und Ätherarten als Betrachtungsweisen der Welt beschäftigt habe.

Der Mensch Jochen Bockemühl

Mit seiner ansteckenden Begeisterung war Jochen ein gefragter Seminarleiter, u. a. auf den Philippinen, wo er Ärztinnen und Ärzte unterrichtete. Wiederholt reiste er nach Norwegen und gleiste mit seinen Mitarbeitenden vor Ort, Bente Pünter, Ingeborg Simons und Ola Aukrust, im Projekt Dreißig Höfe eine qualitative Bewertung von landwirtschaftlichen Betrieben auf. Mit Kirsten Larsen in Dänemark verband ihn eine tiefe Freundschaft, und auch in Japan wurde er gerne empfangen, ebenso in vielen weiteren Ländern wie Großbritannien, Brasilien, USA , Niederlande und anderen.

Seine Bescheidenheit war groß, Arroganz kannte er nicht. Und als Guru wollte er nicht angesehen werden, obwohl immer wieder Teilnehmende an seinen Seminaren und Kursen der Versuchung unterlagen, ihn zu einem solchen zu machen. Mit einem Lächeln klagte er mir einmal, dass eine seiner Studentinnen jedes Wort von ihm mitschreibe. Das sei doch bedenklich, weil er manchmal auch Unsinn erzähle. Ein Großer ist gegangen, doch was er gesät hat, geht an vielen Orten auf, gedeiht und entwickelt sich.


Illustration: Adrien Jutard, inspiriert von den Blattreihen zur Metamorphose von Jochen Bockemühl, Monotypen, 2020

Kolloquium Von Samstag 13. März 2021, 15.00 Uhr bis Sonntag 14. März 12.30 veranstaltet die Natuwissenschaftliche Sektion in Dornach ein Kolloquium in memoriam Jochen Bockemühl.

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