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Jeder Mensch denkt – Perspektiven einer inneren Demokratie

Bei vielen politischen Fragen wird die Wissenschaft als Argument vorgebracht, zum Beispiel bei der Ökologie oder der Homöopathie. Dabei vergisst man, dass auch Wissenschaft sich entwickelt und von Debatte lebt. Wissenschaftliche Erkenntnis wird in der Politik mal gehört, mal instrumentalisiert, mal ignoriert – wie sollte das Verhältnis zwischen beiden aussehen? Die Fragen stellte Louis Defèche.


Inwiefern darf die Wissenschaft in den Feldern des Staats, des Rechtslebens und der Politik eingreifen? Ist es noch demokratisch, wenn wissenschaftliche Gesichtspunkte den Vorrang bekommen, vor allem, wenn sie die Freiheit der Bürger begrenzen?

Wie versteht man in diesem Kontext überhaupt Demokratie – und innerhalb von Demokratie die Aufgabe der Politik? Ich würde sagen, Demokratie ist die angemessene Organisationsform der Gesellschaft im Spannungsfeld von Freiheit und Brüderlichkeit. Freiheit ist ihr Ausgangspunkt – und ihr Ziel! Sie findet ihre Aufgabe darin, die Freiheit und Würde des Menschen zu schützen und zu mehren. Und zwar des Menschen nicht als Massen-, Klassen- oder Rassenwesen (dann droht immer das Ende der Freiheit wie der Demokratie), sondern des Menschen als unverwechselbaren Individuums.

Das bedeutet, anzuerkennen, dass jede und jeder einen Zugang zum Höheren, zum Sinn, zur Erkenntnis hat – und dass nie ein Mensch oder eine Gruppe für die anderen entscheiden kann, was richtig ist. Es entsteht in der Demokratie ein fatales Problem, wenn man sich dieser Grundvoraussetzung nicht entsinnt. Sie wird dann totalitär. Heute wächst ja die Tendenz, zu sagen, in unserem Staat soll jeder ‹nach meiner› oder ‹nach unserer Fasson› selig werden. Da war der ‹Alte Fritz› (Friedrich der Große) weiter, als er sagte, in seinem Staat soll jeder ‹nach seiner Fasson› selig werden.

Zurzeit wächst allerdings die Intoleranz. Und es wächst die Tendenz – oft aus lauteren, gut gemeinten Motiven –, anderen vorzuschreiben, was sie denken und wie sie leben sollen. In der Demokratie muss es ja gerade darum gehen, die Freiheit des Einzelnen zu mehren. Anzuerkennen, dass zu dieser Freiheit gehört, dass ich selbst wähle, welchen Arzt ich besuche und auf welche Weise ich wieder gesund werden will oder wie ich meine Kinder erziehe und wem ich sie zur Erziehung anvertraue. Das alles gehört zum Kernbereich der Freiheit und gerade nicht in die staatlich-rechtliche Sphäre. Eine Einschränkung dieser Freiheit ist nur dort erlaubt, wo sie notwendig ist zum Schutz der Freiheit anderer, etwa vor Gewalt, vor Unterdrückung. Aber wenn ich die Menschen nicht frei wählen lasse, wenn ich eine bestimmte Form von Pädagogik staatlich massiv bezuschusse und andere finanziell verhungern lasse oder wenn ich eine bestimmte Auffassung von Medizin durchdrücke und den Krankenkassen sogar verbieten lasse, andere Behandlungsformen zu erstatten, zerstöre ich Freiheit und damit menschliche Entwicklung.

Dieses Spannungsfeld wird mit dem Begriff der Wissenschaftlichkeit eher vernebelt als geklärt, weil dieser suggeriert, es gebe genau eine richtige Antwort, und die sage uns ‹die Wissenschaft›. Es gibt aber auch im Gebiet der Wissenschaft Methodenpluralismus. Es gibt fast nie nur eine einzige ‹richtige› Sichtweise, sondern viele Zugänge und Perspektiven auf Sachverhalte. Ich muss den Menschen zugestehen, dass sie andere Perspektiven haben, zu anderen Ergebnissen und Entscheidungen kommen als ich. Wer seine Sicht für die einzig Richtige erklärt und gesetzlich durchsetzen will, handelt im Kern undemokratisch, auch wenn er sich formal demokratischer Mechanismen bedient.

Aber nicht jeder ist Wissenschaftler. Nicht jeder kann sagen, dass er weiß, was richtig ist und was nicht. Das ist die Arbeit eines Wissenschaftlers.

Innerhalb der Wissenschaft gibt es strenge Kriterien. Doch in der Demokratie geht es ja nicht um Wissenschaft. Nicht einmal um richtig oder falsch. Es geht um die Verständigung auf angemessene Regeln für das Zusammenleben freier Individuen. Da muss ich aushalten, dass mein Nachbar anderen Überzeugungen folgt als ich selbst. Regeln muss ich doch nur, wenn die Wahrnehmung dieser Freiheiten einander ausschließt, den Einzelnen oder das Ganze in nicht annehmbarer Weise stört oder schädigt. Doch solange jemand der Schulmedizin folgt, um seine Krankheit zu überwinden, während ich mich mit Wickeln ins Bett lege, hat keiner von uns Anspruch, das dem anderen zu verbieten. Wo wäre hier die Begründung eines staatlichen Eingriffs?

Die Begründung ist: Schutz des Individuums. Man sagt, wenn wir so unwissenschaftliche Methoden zulassen, wenn die Bürger für Behandlungen bezahlen, die im schlimmsten Fall mutmaßlich wirkungslos sind, werden sie vielleicht sterben, und davor muss man sie schützen. Das sind die Argumente gegen Homöopathie.

Was heißt hier ‹unwissenschaftlich›? Und was ‹keine Wirkung›? Das ist mir zu pauschal und polemisch. Wenn wir das sinnvoll beantworten wollen, müssen wir an den Wissenschaftsbegriff heran, der sich in einer bestimmten Weise und über lange Zeit hin so entwickelt hat, dass man sich ganz am Modell der klassischen Naturwissenschaften orientiert hat, wo nur noch das Zählbare, Messbare, Wiegbare, das Klassifizier- und Reproduzierbare als gesichert anerkannt wird. Das ist aber ein massiver Wissenschaftsreduktionismus. Der vorgeschriebene Standard in der Arzneimittelzulassung ist das Doppelblindverfahren: Ich weiß nicht, was ich verwende, ich weiß auch nicht, wer es verwendet und wer es bekommt. Doppelt materiell, doppelt abstrakt – doppelt blind. Der Mensch als Faktor soll völlig ausgeschlossen werden. Dabei geht es doch genau um ihn!

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In der Demokratie geht es ja nicht um Wissenschaft, nicht einmal um richtig oder falsch. Es geht um die Verständigung auf angemessene Regeln für das Zusammenleben freier Individuen.

In ganz vielen Bereichen der Wissenschaft, selbst in der Physik, wird heute längst anerkannt, dass der Betrachter mit einbezogen werden muss in das Beobachtete, wenn man zu einem gültigen Ergebnis kommen will. Gerade jene, die die wesentlichen Durchbrüche im letzten Jahrhundert geschafft haben – in der Physik zum Beispiel Max Planck, der die kleinsten Teilchen erforscht hat –, weisen darauf hin, dass eine Kraft zugrunde liegen muss, die aus der Materie nicht erklärbar sein kann. Planck nennt sie entweder ‹intelligenten Geist› oder ‹Gott›. Er sagt ganz deutlich, dass wir hier als Physiker anerkennen müssen, dass wir an unsere Grenze kommen. Das können wir nicht messen, sondern nur auf einer anderen Ebene erfahren. So ist es in der Medizin auch. Was ist denn Krankheit? Man kann sie als reparaturbedürftigen Defekt an einer Art höherer Maschine verstehen – oder als ein individuelles, weit tieferes, biografisches Geschehen. Es gibt Zugänge allopathischer Art, wo ich beispielsweise ein Fieber als entzündlichen Prozess auffasse – den ich durch Gabe bestimmter Medikamente unterdrücken bzw. beenden kann. Diese Wirkung kann ich in Blind- und Doppelblindstudien untersuchen, es wird immer das Gleiche entstehen. Aber es gibt auch andere Zugänge: beispielsweise eine Medizin, die nach dem Sinn des Fiebers für den Patienten fragt und entsprechend anders ansetzt, weil sie nicht von außen die Entzündung zum Verschwinden bringen, sondern vielmehr dem Menschen helfen will, die Entzündung von innen, von sich aus zu überwinden. Sie versucht auf das ganz persönliche Krankheitsgeschehen in der Entwicklung der Biografie eines bestimmten Menschen zu schauen und kommt so zu ganz anderen Behandlungswegen. Eine solche Medizin kann nicht mehr abstrakt, sondern muss immer individuell sein. Sie lässt sich deshalb auch nicht abstrakt testen. Daher werden, wenn behauptet wird, nur das im Doppelblindtest Erforschte sei medizinisch und wissenschaftlich vertretbar, der Medizin- wie der Wissenschaftsbegriff selbst inakzeptabel reduziert und eingeschränkt.

Übrigens versteht man Krankheit falsch, wenn man glaubt, sie sei nur mit einer der beiden Sichtweisen aufzufassen. Ein guter Arzt wird immer beide Sichtweisen einbeziehen. Und ein guter Patient muss wissen, wer ihm in der jeweiligen Situation am besten helfen kann. Manchmal ist es nicht nur ein Arzt, sondern es sind zwei. Anthroposophischen Ärzten fehlt es im Allgemeinen nicht an Respekt vor den enormen Erkenntnissen und herausragenden Leistungen der (Schul-)Medizin – setzt doch die Zulassung als anthroposophischer Arzt eine vollständige Ausbildung und Approbation in allgemeiner Medizin voraus. Sie werden, wo immer möglich, das Beste der beiden Wege verbinden. Doch geht das nur, solange beide Wege offenstehen und möglich sind.

Verkauft sich die ökologische Bewegung oder die Anthroposophische Medizin, wenn sie Wirksamkeit und Erfolg mit konventionell wissenschaftlichen Studien belegt?

Ich möchte keinesfalls gegen die moderne Naturwissenschaft sprechen, sondern vielmehr über diese hinaus darauf hinweisen, dass wir unsere Erkenntniszugänge erweitern können – und damit auch unsere Handlungs- und Heilmethoden – und dass man da offen bleiben muss. Das gilt auch für unser Verhältnis zur Natur. Darin liegt keine Ablehnung wissenschaftlicher Forschungsresultate. Im Gegenteil! Die muss man prüfen, ernst nehmen und zum Ausgangspunkt seines Handelns machen. In der Medizin stört mich nicht die Wissenschaftlichkeit – sondern der Anspruch, andere Zugänge abzusperren.

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Das können wir nicht messen, sondern nur auf einer anderen Ebene erfahren. So ist es in der Medizin auch. Was ist denn Krankheit? Man kann sie als reparaturbedürftigen Defekt an einer Art höherer Maschine verstehen – oder als ein individu­elles, weit tieferes, biografisches Geschehen.

Die Ökologiebewegung ist primär nicht eine Bewegung für Wissenschaftlichkeit, auch wenn es heute so scheinen könnte. Sie entstand eher aus der Empfindung des Zusammenhangs und unserer Verantwortung für das Ganze. Erst ganz allmählich kommt das auch in der Wissenschaft an. Das war nicht immer so. Die Zerstörung der Welt durch Dioxine, Furane, Pestizide, Herbizide, Mikroplastik, radioaktive Strahlung usw. war vielmehr eine Folge angewandter reduktionistischer Wissenschaft, die sich um die Konsequenzen für das Ganze nicht scherte. Das taten erst Menschen, die empfanden, wie es ist, wenn nach dem Einsatz eines bestimmten Pestizids, Herbizids usw. die Vögel nicht mehr wiederkommen oder das Klima sich erwärmt. Das kann man mit eigenen Augen sehen. Man kann sehen, dass die Gletscher zurückgehen, dass Brände zunehmen, dass das Meereis schmilzt, dass Extremwetter sich häufen. Diese beobachtbaren Veränderungen finden ihren Niederschlag auch in empirischen, wissenschaftlichen Forschungsarbeiten. Inzwischen gibt es unglaubliche Mengen an Daten und Methoden, die immer komplexere Entwicklungen modellieren können. Das alles ist eindeutig – und kann nicht in Zweifel gezogen werden. Aber es ist auch nicht die Wirklichkeit, sondern ein Versuch, sich dieser mit Methoden des Beobachtens, Zählens, Messens und Wiegens, des Rechnens, Simulierens und Modellierens zu nähern. Interpretieren müssen wir selbst und auch die Konsequenzen tragen bzw. ziehen. Das sind keine Fragen der Wissenschaft mehr, sondern solche der menschlichen Urteilskraft, unserer Vernunft und unseres Handlungswillens. Es sind auch Fragen der Politik, der Demokratie, der Wirtschaftsordnung. Ich finde es sehr verkürzend, wenn behauptet wird, wir müssten nur der Wissenschaft folgen. Sie trägt zu unserem Wissen, zu unserer Erkenntnis bei. Aber entscheiden und handeln müssen wir selbst.

Streit gibt es – neben ein paar Verrückten, die selbst gut belegte Fakten anzweifeln – doch vor allem um die Frage, was man tun muss. Das ist auch in der Medizin der entscheidende Punkt: Was heilt, was hilft in Zukunft? Und hier würde ich auch bei der Frage der Ökologie zwar wissenschaftliche Empfehlungen ernst nehmen, aber weit über die Wissenschaft hinausgehen wollen. Ich glaube, dass wir den Planeten nicht retten können, indem wir nur den CO2-Ausstoß begrenzen, sondern dass sich unser Verhältnis zur Erde grundsätzlich ändern muss. Das ist dann mehr eine seelische, geistige, spirituelle und soziale Frage. Wie ist mein Verhältnis zur Erde? Zum Klima? Zu den Pflanzen und Tieren? Zu meiner Mit-, Um- und Nachwelt? Kann ich erleben, was in der Umwelt passiert, im Jahreslauf, ob eine Pflanze leidet, was die Tiere brauchen und wie sie mit uns verbunden sind? Kann ich erleben, dass Geben und Nehmen in einem ständigen Kreislauf sind – und dass ich nicht nur von der Erde nehmen darf, sondern ihr auch etwas geben muss? Was ist mein/unser Beitrag, auf den die Erde sehnlich wartet, den sie braucht? Wie werde ich zu diesem Beitrag fähig?

Das ist mehr, als nur Berechnungen von Emissionen anzustellen und linear zu extrapolieren. Aber auch die rein naturwissenschaftliche Forschung ist notwendig, um die Zusammenhänge erkennen zu können. Verstehen aber – und erst recht heilen – können wir sie damit allein nicht. Daher würde ich dringend empfehlen, nicht dabei stehen zu bleiben.

Du hast vielleicht Erfahrungen in Bezug auf die Frage der Korruption im Bereich wissenschaftlicher Forschungen. Das ist in der Geschichte schon geschehen. Man hat den Aspekt, dass die Wirtschaft sich auch einmischen kann.

Korruption im eigentlichen Wortsinn ist eher selten – jedenfalls dort, wo ich Einblick habe. Trotzdem ist diese Frage wichtig, und es lohnt sich, ihr nachzugehen. Denn es geht um einen Milliardenmarkt. Materielle Interessen spielen hier eine kaum zu überschätzende Rolle. Jene, die diesen Milliardenmarkt bedienen, die multinational tätigen, großen Arzneimittelhersteller, leisten sich teure Lobbyabteilungen. Ihre Beauftragten gehen in den Parlamenten aus und ein, entsenden Mitarbeiter in Ministerien, geben Stellungnahmen ab, schreiben sogar Gesetzestexte für die Regierung. Sie laden Mediziner, Forscher, Nachwuchswissenschaftler, Journalisten, Beamte und Politiker zu teuren Kolloquien oder Tagungen an den schönsten Orten der Welt ein. Sie finanzieren – offen oder geheim – meinungsbildende Studien oder Kampagnen, fördern und honorieren Veröffentlichungen, die in die erwünschte Richtung gehen. Gegenüber der Politik stellen sie eine enorme Macht dar. In der Schweiz werden, wenn ich es richtig im Kopf habe, 22 Prozent des Bruttosozialprodukts mit Chemie und Pharmazie gemacht. Wenn die sagen, eure Politik gefällt uns nicht mehr, wir verlagern unseren Standort, dann geht der Staat sehr schnell in die Knie.

 


Zeichnung: Sofia Lismont

Zeichnung: Sofia Lismont

 

Zudem wird gezielt und strategisch die öffentliche Meinung beeinflusst. Beim Tabak als Beispiel ist all das sehr gründlich erforscht. Ich habe es selbst erleben müssen. Ich habe, als ich lernte, dass jedes Jahr weltweit etwa 600 000 Menschen an den Folgen des Passivrauchens sterben, 1988 ein Gesetz zum Schutz vor unfreiwilligem Passivrauchen – das ‹Nichtraucherschutzgesetz› – verfasst und in den Deutschen Bundestag eingebracht. Es bewegte sich übrigens ganz in dem Spannungsfeld, von dem vorher die Rede war. Dieses Gesetz, das nicht das Rauchen verbieten, sondern Menschen, die bewusst nicht rauchen wollen (sowie Kinder, Alte, Kranke) davor schützen sollte, gegen ihren Willen passiv mitrauchen zu müssen, gilt heute in Deutschland und den meisten ‹zivilisierten› Ländern (u. a. das Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz; Rauchverbote in Gaststätten und öffentlichen Gebäuden etc.). Damals war es anders. Ich stand fast allein gegen die übermächtige Tabakindustrie. Ich wurde bekämpft, diffamiert, verspottet – auch in den Medien. Es gibt kaum Industrien, die so gut organisiert sind wie die Tabak- und die Pharmaindustrie. Da gibt es massive Einflüsse auf Politik und Journalismus. Und doch: Wir haben gewonnen! Es war die Kraft einer sinnvollen Idee und einer sich unaufhaltsam verändernden öffentlichen Haltung der vielen.

Kommen wir zurück zu Medizin und Homöopathie. Hier spielt noch etwas anderes eine Rolle: das Geld. Wo werden die großen Summen verdient? Wo lohnt sich Forschung am meisten? Nehmen wir die Arzneimittelforschung. Forschung mit natürlichen, beispielsweise pflanzlichen Wirkstoffen bringt letztlich kein Geld. Die Arnika, den Bärlauch oder das Johanniskraut kann man nicht mehr patentieren. Die gibt es schon. Was ich zur Anwendung finde, kann auch ein anderer nutzen und vertreiben. Wenn ich aber im Labor mit künstlich hergestellten Substanzen forsche, kann meine Firma die Wirkstoffe (oder deren Kombination) patentieren – und dann auf lange Zeit den alleinigen wirtschaftlichen Nutzen davon haben. Allein das ist schon ein Grund, warum der Anteil der Forschungen im Bereich von Homöopathika und Naturheilkunde weniger als ein Promille dessen ausmacht, was in die Erforschung allopathischer Mittel investiert wird. Absurd dabei ist, dass auch der Staat dieser ökonomischen Tendenz folgt. Nehmen wir Deutschland als Beispiel: Alle Forschungsmittel der Deutschen Forschungsgesellschaft, der Bundesregierung und der EU für naturheilkundliche Heilverfahren zusammengenommen betragen weniger als ein Prozent der Summe, die die öffentliche Hand für allopathische Forschung ausgibt. Da gibt es keine Waffengleichheit, sondern extrem ungleiche Verhältnisse. Die Idealisten, die sich um andere Wege als die wirtschaftlich ausbeutbaren bemühen, werden nicht im erforderlichen Maß unterstützt. Für Insider stellt sich ohnehin schon länger die Frage: Kann im Bereich der homöopathischen und anthroposophischen Arzneimittel überhaupt noch in ausreichendem Maße geforscht werden?

Zugleich muss man in Bezug auf die Debatte über Homöopathie und Naturheilmittel sagen: Wenn wir in Volumina denken, ist es weniger als ein Promille des Marktes – für die Politik also kein ernst zu nehmender Faktor. Unter den Wählern aber ist es anders: Zwei Drittel bis 70 Prozent sagen, sie wollen solche Mittel. Das gibt mir Hoffnung, dass die Politik nicht, wie in Frankreich, Italien oder Schweden schon geschehen, überall den Rufen folgen wird, die Alternativen de facto aus dem Markt zu drängen, um die Menschen dann allein der Pharmaindustrie auszuliefern.

Was für ein Interesse hat der Staat, ein solches Verbot auszusprechen, wenn alle Beteiligten, Ärzte, Krankenkassen und Patienten, dieses Mittel wollen?

Gesundheit ist ein riesiger Markt, gerade auch in der Zukunft. Auch wenn das Volumen des Marktes für Homöopathika und Anthroposophische Medizin verhältnismäßig gering ist, gilt: Jeder Patient, der seine Erkältung mit Infludo und das Fieber mit Wickeln und nicht mit Antibiotika behandelt, ist als Kunde für die Pharmakonzerne verloren. Diese hätten perspektivisch den ganzen Markt sicher gerne für sich. Das erklärt aber nicht alles. Es ist in der Tat auch ein ideologischer Kampf. Es geht auch darum, einen materialistischen Wissenschaftsbegriff, eine materialistische Grundhaltung gegen jedwede andere Denkrichtung durchzusetzen. Nicht nur auf diesem Gebiet. Ein Drittes kommt hinzu: Wir sind Zeugen einer radikalen Veränderung von Öffentlichkeit und Politik. Anders als früher zerfällt Öffentlichkeit heute zunehmend in Teilöffentlichkeiten, die Teilinteressen durchzusetzen versuchen. Immer gröber, aggressiver und kampagnenartiger werden diese Kämpfe geführt – gegen alles geografisch, gedanklich oder sonst wie Fremde. Damit treibt man die Politik vor sich her. Hoffen wir, dass sie nicht in die Knie geht. Der Schutz ist eine massive öffentliche Aufklärung und Kampagne für die Vielfalt, nicht nur im Heilwesen, sondern auch in der Pädagogik, in Religion usw.

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Zur Wissenschaft­lichkeit gehört die Fähigkeit, scheinbar sicher Gewusstes neu infrage stellen zu können.

Es kann ja nicht sein, dass wir zunehmend in einem Land leben, in dem nur noch bestimmte Überzeugungen und Lebensentwürfe staatlich gutgeheißen werden und andere nicht. Die Folge des Streichens der Erstattungsfähigkeit ist ja, dass die Gesundheit von Menschen abhängig gemacht wird von ihrem Einkommen. Ich kann einen anthroposophischen Arzt, sobald es nicht mehr erstattet wird, nur noch dann aufsuchen, wenn ich genügend Einkommen habe, um mir das leisten zu können. Dann haben wir eine Gesellschaft, deren Freiheit vom Geld abhängt. Das kann aber doch nicht Ziel der Politik sein.

In Frankreich wurde die Erstattung bereits aufgehoben. Mit welcher Rechtfertigung geschieht das? Wie steht es um das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen?

Bis jetzt können wir keine Entwarnung geben. Der Staat wird zunehmend gekapert von bestimmten Auffassungen. Die Lobby, die für einen einseitig materialistischen Wissenschaftsbegriff streitet und alternative Ansätze verhindern will, ist erstaunlich mächtig. Mir macht es Sorgen, dass sich so etwas selbst schon bei den Grünen breitmacht. Auffallend ist, dass das erst einsetzte, als die Grünen den Nimbus einer Partei von Idealisten ohne wirkliche Machtperspektive verloren und sich abzuzeichnen begann, dass sie vielleicht die nächste Regierung oder den nächsten Kanzler stellen könnten. Plötzlich werden auch bei den Grünen in ziemlich profithaften Kampagnen Interessen artikuliert, die früher die Politik anderer Parteien bestimmten. Als ob den Kreisen, über die wir hier sprechen, klar geworden wäre: Wenn wir mit unserem Geschäftsmodell auch in Zukunft gut fahren wollen, müssen wir jetzt Einfluss auf die Grünen bekommen. Auf einmal kamen Beschlussanträge zustande wie der, wonach die Grünen sich für die Wissenschaft und ergo gegen Homöopathie etc. aussprechen mussten – medial extrem gut orchestriert. Es scheint ein großes Interesse zu geben, die Grünen abzubringen von dem Weg der Anerkennung verschiedener Lebensformen und Weltanschauungen, pädagogischer und medizinischer Richtungen, und sie auf den Mainstream zu verengen, der die anderen Parteien und das Gemeinwesen noch immer bestimmt.

Das Argument ist die Wissenschaftlichkeit. Deshalb frage ich mich, wie die Stelle der Wissenschaft in der Gesellschaft ist. Sollte jeder Bürger ein Wissenschaftler sein?

Gute Frage. Ich würde es etwas anders formulieren: Jeder Bürger sollte ein Selbstdenker sein. Dazu gehört, er sollte mit wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen umgehen und sie einordnen können, um deren Voraussetzungen, Bedingtheit und Grenzen zu verstehen. Vor allem aber sollte er gesunden Menschenverstand und eigene Urteilsfähigkeit haben und nicht mit den Wölfen heulen. Und immer wichtiger (und verbreiteter) wird ein – nicht hinter die Wissenschaft zurück-, sondern über sie hinausgehendes – Ahnen oder gar Wissen um das, was jenseits beschränkter wissenschaftlicher Methoden durch seelische und geistige Übung erkannt werden kann.

Zur Wissenschaftlichkeit gehört die Fähigkeit, scheinbar sicher Gewusstes neu infrage stellen zu können. Die wissenschaftliche Gesinnung in jedem Bürger wäre also ein immer neues Hinterfragen wie auch ein Denken in verschiedenen Schichten. Es heißt, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Wirklichkeit aus weitaus mehr besteht als aus dem Materiellen, Zählbaren, Messbaren. Das halte ich für eine Voraussetzung, um im 21. Jahrhundert verantwortlicher Bürger und Zeitgenosse sein zu können.


Zur Titelillustration: ‹Das Untrügliche so trügerisch› Für den Brexit stimmten 52 Prozent der Briten, so die unbestechliche Zahl. Ist sie objektiv? Denn von den 18-24jährigen waren es nur 24 Prozent und von den 25-49jährigen nur 39 Prozent, die für den Austritt stimmten. (Umfrage YouGov/2016). Diejenigen, die der Brexit beruflich betrifft, die haben gegen ihn gestimmt. Welchen Wert, welches Recht haben also die 52 Prozent? Wie beim Eisberg ragt nur ein Teil der Größe ans Licht. Zahlen sind der parteiische Blick einer Objektivität, die verschweigt, was sie vom Leben ausser Acht lässt, um zum ‹unbestechlichen› Ergebnis zu kommen. Zahlen sind der Schattenwurf des Lebens, aber nicht das Leben selbst. Sie werden wahr, wenn man das Gesetz des Lebendigen befolgt, all das Drumherum in die Rechnung einzubeziehen. Bild: Adrien Jutard

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