Ita Wegman in Bildern

Über Leben und Werk von Ita Wegman sind in den letzten dreißig Jahren etliche Arbeiten und Studien erschienen – eine Fotodokumentation war bisher nicht dabei.


Es liegt im Medium der Schwarz-Weiß-Fotografie begründet, dass sie – anders als das geschriebene und noch mehr das gesprochene Wort – nur Sekundenaugenblicke verflossener Ereigniszusammenhänge festhält und sie durch Fixierung im Sinne eines Beweises gleichsam überzubewerten droht. Über die Individualität einer Persönlichkeit sagen Fotografien bekanntlich wenig aus. Denn beim Blick auf historische Fotos hat man sich stets zu vergegenwärtigen, dass der betreffende Mensch auf dem Weg nach dem Tod bis zur nächsten Inkarnation mit dem zurückliegenden Erdenleben im fotografischen Sinne nicht mehr das Geringste zu tun hat. Seine geistige Existenz ist im Gegenteil nunmehr eine äußerst bewegte und sich in kompliziertester Weise mit übersinnlichen Wesen durchdringende Kraftgestalt.

Und dennoch ist man über die Existenz historischer Fotografien aus zwei Gründen dankbar. Einmal, wenn das fotografische Material im Bewusstsein der geistigen Dimension der verstorbenen Persönlichkeit und mit Respekt vor deren Individualität ausgewählt, inhaltlich präzise kommentiert und grafisch (W. Schildt) zurückhaltend gestaltet aufbereitet ist. Zum anderen, wenn es sich bei der Persönlichkeit um eine solche handelt, deren Leben von über das persönliche Schicksal hinausreichenden Zielen getragen und durchleuchtet war. Beides ist – dank der Initiative von Miranda Faldey – in dieser fotografischen Dokumentation des Lebens und Werks von Ita Wegman umfassend berücksichtigt.

Auf ein Vorwort (Peter Selg) folgen chronologisch neun Abschnitte unterschiedlicher Jahreslänge aus dem Leben von Ita Wegman, denen jeweils ein biografischer Abriss (G. Pörksen) vorangestellt ist. Die Zäsuren liegen bei den Jahren 1911, 1920, 1925, 1929, 1933, 1935 und 1941. Die biografischen Hinweise auf die jeweiligen Zeitabschnitte sind zentral, auch deshalb, weil sie ein Datengerüst bilden, das sich mit den Fotografien stimmig verschränkt. Zu sehen sind nicht nur Fotografien, sondern auch andere Archivalien wie Briefe, Notizbücher, Manuskripte, Zeitungsausschnitte, Meditationen Rudolf Steiners für Wegman, Prospekte sowie amtliche Dokumente. Die Zeitabschnitte (und manche Archivalien) sind farblich dezent voneinander abgesetzt. Nur eine Handvoll Fotografien dürften den Lesenden bekannt sein; das Richtfest des Zweiten Goetheanum etwa (1926) oder Rudolf Steiner, in der Schreinerei vortragend (1914), sowie Ita Wegman, das Holzhaus betretend (1926).

Zunächst wird man in der Fotodokumentation vielleicht blättern, sich von einzelnen Abbildungen assoziativ beeindrucken lassen, dann weiterblättern, vor und zurück, später vielleicht die eine oder andere Bildlegende studieren oder die Handschrift von Briefen entziffern wollen, schließlich wohl gerne die biografischen Abrisse lesen. Immer wieder aber kehrt man zu den Abbildungen zurück. Darüber entstehen Fragen – selbst für denjenigen, der bereits das eine oder andere über Leben und Werk von Ita Wegman weiß. Später entdeckt man Motive, vielleicht sogar für diese Biografie und ihren Menschenumkreis charakteristische Gesichtspunkte.

Man begegnet Wegman in ihrer Zuwendung zu den Kindern, sieht sie strahlend das von Rudolf Steiner entworfene Holzhaus betreten, erlebt sie im Kreise ihrer Mitarbeitenden in verschiedenen Ländern, wobei man immer wieder Rudolf Hauschka entdeckt, man ahnt etwas vom besonderen Zusammenwirken mit einzelnen Menschen, wenn man sie 1935 in Amsterdam mit Daniel Nicol Dunlop und Peter de Haan über eine Brücke gehen sieht. Vielfach sieht man Wegman auch nachdenklich: 1925 am Strand von Den Haag, 1927 vor dem Haupteingang des Holzhauses oder im gleichen Jahr bei der Grundsteinlegung der Rudolf-Steiner-Klinik in Den Haag, 1934 auf der Schiffsreise nach Palästina, 1939 ebenfalls auf einer Schiffsreise nach Bulgarien oder 1940 in der Casa Andrea Cristoforo. Auf den Spuren alter Kulturen begegnet man der weltoffenen Ärztin und ihren Mitreisenden im Juno-Tempel in Agrigent auf Sizilien (1938), 1923 am berühmten Steinkreis von Penmaenmawr, in den Alpen (1922), in Venedig (1934), in Palästina (1934), Athen (1932), am Mont-Saint-Michel (1928) oder in Schottland (1929) und in Sólheimar auf Island (1936). Eine bemerkenswerte Sequenz zeigt Wegman in der Zeit von Rudolf Steiners Krankenlager (Winter 1924/1925). Man muss diese Fotografien mit anderen zusammen sehen: Dann entsteht eine Art Klang. Das letzte Foto (zugleich das Titelfoto) zeigt Ita Wegman vom Betrachtenden abgewandt in die Ferne blickend von hinten. Tatsächlich ist ihr arbeitsreiches, der Anthroposophie Rudolf Steiners und der Anthroposophischen Medizin gewidmetes Leben zugleich Frage und Aufforderung – an die Gegenwart.


Buch Mirela Faldey, Peter Selg, Ita Wegman und das Klinisch-Therapeutische Institut. Eine fotografische Dokumentation.Verlag am Goetheanum, Deutsch-Englisch, Dornach 2023.

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare