Dieses Frühjahr sind im ‹Goetheanum› Artikel zur Frage ‹Gibt es eine anthroposophische Kunst?› erschienen; es fand auch eine Podiumsdiskussion Ende März im Rahmen einer Ausstellung statt. Die Frage ist wichtig, denn sie betrifft das Selbstverständnis vieler Künstler sowie die Entwicklungsbedingungen der Kunst im anthroposophischen Leben. Entfacht wurde die Debatte durch die von Reinhold Fäth kuratierte und mit einem Katalog (1) begleitete Ausstellung ‹Aenigma – hundert Jahre anthroposophische Kunst›, die 2015 in Olmütz und Halle an der Saale präsentiert wurde.
In seinem Katalogbeitrag tritt Reinhold Fäth nachdrücklich für den Begriff ‹anthroposophische Kunst› ein. Seine Argumentation kommt mir jedoch recht widersprüchlich vor. Aus seiner Sicht heraus würde ich seine Abhandlung folgendermaßen zusammenfassen: Fäth wagt hier einen ‹historischen› Gesamtblick auf eine Kunstrichtung, die noch ‹heute› existiert: die anthroposophische Kunst. Der Gründer dieser Kunstrichtung heißt Rudolf Steiner; er hat zu diesem Zweck ein ‹Manifest› verfasst. Die anthroposophische Kunst ist eine klar definierbare Kunstrichtung mit deutlich erkennbarem Stil. Stilmerkmale beschreibt Fäth allerdings nicht, weil es um Kunstwerke geht, die so individuell gestaltet sind, dass sich eine unüberschaubare Vielfalt darin zeigt. Die Weltanschauung, die dieser Stilrichtung zugrunde liegt, nennt sich Anthroposophie. Anthroposophische Kunst ist somit ‹Weltanschauungskunst›, und zwar mit ‹Mysteriencharakter›. Deshalb hat Fäth seine Ausstellung ‹Aenigma› (Rätsel) genannt; ein Name, den er einer anthroposophischen Künstlergruppe entlehnt, die von 1918 bis 1952 existierte.
So weit meine Zusammenfassung. Ich übernehme jetzt wieder die eigene Sicht und komme auf die «Stimmen zur Problematik der ‹anthroposophischen Malerei›» zu sprechen, die ich im ‹Goetheanum› nr. 47/2018 veröffentlicht hatte (2):
Reinhold Fäth berichtet in seinem Katalog-Beitrag von Künstlern und Künstlergruppen, die die Bezeichnung ‹anthroposophische Kunst› für sich in Anspruch nahmen. Er erwähnt auch, dass viele Künstler, deren Kunstschaffen von der Anthroposophie impulsiert war, ihre Kunst dennoch nicht als anthroposophische Kunst tituliert haben wollten. In dem Buch ‹Kunst und Anthroposophie›, das Andreas Mäckler 1990 veröffentlicht hat (3), melden sich einige dieser Maler zu Wort. Walther Roggenkamp zum Beispiel hat die Impulse, die er durch Rudolf Steiner bekommen hat, immer betont. Gleichwohl erklärt er: «Es ist ja immer mehr das ‹Wie› einer Darstellung als das ‹Was› – und das ‹Wie› liegt auch im Material und in der Technik. Dass aus solcher Anschauungsweise heraus keine ‹anthroposophische Kunst› entstehen kann, wohl aber ein aus der anthroposophischen Geisteswissenschaft neu und individuell geprägter Gestaltungswille, wird immer deutlicher erkennbar.»
Fäth indes stellt diejenigen Künstler, die wie Roggenkamp den Ausdruck ‹anthroposophische Kunst› ablehnen, so dar, als wollten sie sich bei der (nicht anthroposophischen) Moderne anbiedern. Mithilfe eines Zitats von Hella Krause-Zimmer unterstellt er ihnen, sie hätten «nicht merken lassen» wollen, dass ihre Kunst «etwas mit Anthroposophie zu tun hat». (4)
Anthroposophische Weltanschauungskunst?
Suspekt scheinen diese Künstler auch deswegen für Fäth, weil mehrere von ihnen das Argument anführten, sie wollten keine Weltanschauungskunst produzieren. Dieses Argument hält Fäth für Selbstbetrug. «Weltanschauungskunst», so schreibt er, «passte nicht in das propagierte westliche Weltbild freier Kunst, die sich ‹ideologiefrei› präsentierte, doch selbst nichts anderes als eine neue postulierte Weltanschauungskunst sein konnte, da dem Zirkel der je eigenen weltanschaulichen Theorie- und Ideologie-Horizonte niemand enthoben ist.» (5) Aber bedeutet der Verzicht auf Weltanschauungskunst, wie er von jenen Künstlern gemeint war, nicht etwas, was für jeden Waldorflehrer selbstverständlich ist? Erziehungs-Kunst heißt nicht, den Schülern anthroposophisch-weltanschauliche ‹Inhalte› zu vermitteln.
Fäth scheint nicht an die Freiheit in der Kunst zu glauben; er hält sie für eine Illusion des «propagierten westlichen Weltbildes». Sich um diese Freiheit nicht zu bemühen, hieße allerdings, sich von jeglicher Kunst zu verabschieden! Die Künstlerin Anneli Schwager dazu: «In der Tat gibt es bis heute einen Spuk, der verhindert, dass kulturelle Leistungen von Anthroposophen als Option öffentlich neben anderen genannt werden. Ein selbstgeschaffenes Problem besteht darin, dass Waldorf-Kunstpädagogik und Kunsttherapie in der Gesellschaft ihren Stand gefunden haben und unter anderem auch als Repräsentanten für anthroposophische Kunst stehen. Da Pädagogik und Therapie methodisch-didaktisch arbeiten und im Falle von Waldorfschulen auch viel tradieren, kann es sich aber nicht um Kunst handeln. […] Kunst ist frei! Darüber stolpern alle – wenige merken es. Im Umkehrschluss kann man – wenn man die Anthroposophie wirklich ernst nimmt und versucht zu leben – sagen, dass alle gute Kunst anthroposophisch ist. […] Das oberste Gesetz der Kunst, die Freiheit, steht im krassen Widerspruch zur geforderten Unterordnung. Es gilt heute mehr denn je, sich von allem Tradierten vollkommen frei zu machen, wenn man am eigentlichen Schöpfungsakt bleiben will. Das ist hart, ein sehr harter Opfergang ohne äußere Sicherheiten … und einsam.» (6)
Die Überwindung des Tradierten betrifft auch die anthroposophischen Traditionen, so brauchbar auch gewisse anthroposophische Ansätze und ihre Vermittlung in Kunstschulen und -akademien sein mögen. Damit aber bleibt die Kunst, die aus anthroposophischen Impulsen schöpft, ungreifbar, und jeder Versuch, sie mit Begriffen wie «anthroposophische Kunst» oder «anthroposophischer Kunststil» dingfest zu machen, muss scheitern.
Anthroposophischer Kunststil?
Eine Bemerkung von Andreas Mäckler verdeutlicht gleichfalls das Problem der Erkennbarkeit ‹anthroposophischer Kunst›: «Wer dahingehend die Werke seit Steiner bis zu Joseph Beuys betrachtet, wird mit den Mitteln der Stilanalyse keine sichtbare Verbindung der Arbeiten zueinander finden. Die Suche nach äußeren Bestimmungsmerkmalen, mittels derer in der Vielzahl von Werken sinnvolle Einteilungen zustande kommen können, setzt nämlich nicht nur eine abgeschlossene Epoche als Bezugsrahmen voraus, sondern auch die Prämisse des Rezipienten, Prozesse als abgeschlossen betrachten zu wollen.» – Wann aber sollen diese Prozesse abgeschlossen sein? Sollen sie es überhaupt?
Bleibt die Frage, ob man im historischen Sinn, also bezogen auf einen weiter zurückliegenden Zeitraum, von «anthroposophischer Kunst» reden kann. – Man kann, und man tut es auch, selbst im unhistorischen Sinn: Da kommen beispielsweise die ab’en Ecken ins Spiel oder die Aquarell-Lasurschicht-Technik oder bestimmte Motive wie Ahriman und Luzifer. Bei dieser reduziert-verallgemeinernden Sicht werden jedoch Gegenwart und Zukunft ausgeblendet.
Auch Wolfgang Zumdick (Autor von ‹Rudolf Steiner und die Künstler› und Bücher über Joseph Beuys) ist der Ansicht, dass es «anthroposophische Kunst im genuinen Sinn» nicht gibt. Es gibt wohl «Anthroposophen, die Kunst machen», auch solche, die sich «an Formen anlehnen, die Rudolf Steiner angeregt hat. Ob dies Kunst ist, muss die Kritik im Einzelfall entscheiden.» (7) Ein Künstler wie Beuys hätte diesen Kunststil jedoch für sich nicht akzeptiert, sondern boykottiert.
Hätte Fäth seine Ausstellung ‹Hundert Jahre Kunst aus anthroposophischem Kontext› genannt, so hätte sich niemand daran gestört. Die Autorin Dorothea Rapp hatte zudem in einem der Mäckler-Interviews vorgeschlagen, von «anthroposophisch orientierter Kunst» zu sprechen (später schlug man auch ‹inspiriert› vor). Diese wende sich an das Geistige, und zwar nicht in einem äußerlich darstellenden Sinn oder in einer einheitlichen Formensprache, sondern in dem gleichen Sinn, wie es Kandinsky in seiner Schrift ‹Das Geistige in der Kunst› beschrieben hat. (8) Wenn man also unbedingt einen Namen braucht, warum greift man nicht die Anregung von Dorothea Rapp auf und nimmt es etwas genauer als diejenigen, die aus irgendwelchen generalisierenden Vorstellungen heraus von ‹anthroposophischer Kunst› reden?
Ein Manifest Rudolf Steiners?
Weil Rudolf Steiner hie und da den Ausdruck ‹anthroposophische Kunst› verwendete und im Hinblick auf das Goetheanum auch von einem ‹neuen Baustil› sprach, fühlt sich Reinhold Fäth zu der Behauptung veranlasst, Steiner habe das «Manifest eines neuen, eigenen anthroposophischen Stils für die bildende Kunst» proklamiert; ein Kunstmanifest, das man sich aus seinen Schriften und Vorträgen «wie eine Art Puzzle, konsistent zu einer Definition zusammensetzen möchte». (9)
Dazu ist zu sagen, dass man sich aus Steiners Gesamtausgabe so allerlei zusammensetzen kann, was man zusammensetzen möchte. Steiner hat kein Manifest eines anthroposophischen Stils proklamiert. Das würde seiner Wesensart völlig widersprechen. Meines Erachtens gibt es sehr viel mehr Äußerungen, die das Gegenteil besagen. Hinzu kommt, dass wir uns heute nicht mehr auf Aussagen berufen können, die Steiner auf seine spezielle Zeitsituation bezog. Nicht alles, was zu Steiners Zeit noch zutraf, ist auf die Gegenwart übertragbar. Mit einem ‹Steiner hat gesagt› machen wir uns die Sache wirklich zu einfach!
Vollkommen unverständlich ist auch, warum Fäth es von der Befürwortung des Begriffes ‹anthroposophische Kunst› abhängig macht, ob man «sich über die Bedeutung der anthroposophischen Kunstimpulse Rudolf Steiners, seiner Schulungsskizzen, seiner beispielgebenden Kunstwerke für das individuelle Kunstschaffen offen und fair» austauschen kann. Für Fäth kann ein solcher Freiraum nur dann entstehen, wenn «die jahrzehntealte Streitfrage, ob es anthroposophische Kunst gibt, kunstwissenschaftlich ad acta gelegt ist» (10), das heißt für ihn, positiv beantwortet wird.
Fragen ad acta legen zu wollen, hat mit Wissenschaftlichkeit nichts zu tun. Wissenschaft lebt ja gerade davon, dass Dinge immer wieder neu infrage gestellt werden – in dialogischer und ergebnisoffener Weise. Natürlich ehrt es Reinhold Fäth, wenn er sich für die Bekanntwerdung von Werken aus anthroposophischen Kreisen einsetzt. Doch muss auch Kritik erlaubt sein. Und wenn Fäth suggeriert, dass Steiners Vortrag über ‹Goethe als Vater einer neuen Ästhetik› (11) speziell auf eine ‹anthroposophische Kunst› gemünzt sei, dann ist das nicht bloß unwissenschaftlich, sondern auch manipulativ. Steiner hat in seinem Vortrag nicht von ‹anthroposophischer Kunst› gesprochen, sondern von Kunst allgemein. Und Stephan Stockmar hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die «spirituelle Vertikalität», mit der Fäth die Steiner’sche Ästhetik vereinfachend ins Bild bringt, kein Alleinstellungsmerkmal «anthroposophischer Kunst» ist. (12)
Anthroposophismus?
In der bildenden Kunst gilt heute mehr denn je, dass sie, wenn sie zeitgemäß sein will, durchlässig sein muss: über die Grenzen von Religionen, Weltanschauungen und allgemeine Stile hinweg. Das entspricht auch dem Wesen der Anthroposophie.
Dennoch beginnt Fäth seinen Artikel im ‹Goetheanum› Nr. 5/2019 mit der Frage: «Wer käme ernsthaft auf die Idee, zu fragen, ob es futuristische Kunst gibt?» Die Botschaft, die Fäth uns hier vermitteln will, liegt auf der Hand: Wenn man die Existenz der futuristischen Kunst anerkennt, muss man auch die der ‹anthroposophischen Kunst› anerkennen. Und wie Filippo T. Marinetti der Begründer einer klar benannten Kunstrichtung ist, so soll man auch Rudolf Steiner als den Urheber eines eigenen Kunststils akzeptieren.
Diese Analogisierung ist irreführend und sagt wiederum etwas über Fäth selbst aus, wenn er die Anthroposophie mit jenem Gedankengut vergleicht, das sich in Marinettis Gründungsmanifest ausdrückt. Interessant ist der Vergleich nur insofern, als der Futurismus vielleicht einer der letzten Ausläufer der bereits zerfallenden Kunststile ist. Denn das Kunstschaffen wird immer individueller, daran führt kein Weg vorbei. Im Grunde kann man heute nur noch von ‹individuellen› Stilen sprechen.
Michael Bockemühl schildert diesen allmählichen Auflösungsprozess. Er führt aus, wie «mit dem Fortschreiten des letzten Jahrhunderts die Entwicklung nicht mehr in einzelnen voneinander zeitlich und räumlich trennbaren Stilen oder Gruppenrichtungen verläuft. Die sogenannten Ismen sind vielleicht noch bis in die 50er-Jahre voneinander zu trennen, aber bereits bis dorthin ist zu beobachten, wie sich die verschiedenen Stilrichtungen zeitlich ineinanderschieben.» (13)
Diese Ansicht wird von etlichen Kunstwissenschaftlern geteilt. Sie deckt sich auch mit dem, was die Künstlerin Claudia Schlürmann konstatiert: «Seit den 70er-Jahren hat sich die Auseinandersetzung mit dem Kunstgegenstand radikal gewandelt. Die Kunst entgrenzt sich, verliert ihren Objektcharakter und lässt sich kaum einzelnen Stilen zuordnen. Sie wird zum Instrument, um den ganzen Menschen zu verlebendigen.» (14)
Diese Prozesse gehören zur heutigen Zeit. Anthroposophie ist auf Weiterentwicklung angewiesen. Dasselbe gilt für die Kunst. Ein Anthroposophismus, vergleichbar dem Futurismus, kann nicht erstrebenswert sein. Gäbe es ihn, so wäre wahrhaftig etwas zum Ende gekommen, was glücklicherweise noch in vollem Gange ist. Die anthroposophischen Impulse innerhalb der Kunst wären dann erloschen und man könnte sie tatsächlich und endgültig … ad acta legen.
Einfluss anthroposophischer Lehren?
Begreift man Anthroposophie nicht als Lehre, sondern als Methode, so muss man – in Übereinstimmung mit David Hornemann v. Laer – den Ausdruck ‹anthroposophische Kunst› als einen «Widerspruch in sich» (15) erleben. V. Laer hat sich gründlich mit der von Rudolf Steiner entworfenen Skulptur des ‹Menschheitsrepräsentanten› beschäftigt. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass Steiners künstlerische Herangehensweise «nicht einem einmal gefundenen Stil verhaftet» bleibt, sondern «immer wieder neu von den ‹Urelementen›» ausgeht, «das heißt von der konkreten Anschauung und daraus entspringenden ‹ursprünglichen Gedanken›.» (16) Somit ging es Steiner auch in seinem eigenen Schaffen nicht um ein stilbildendes Tun, sondern um Prozesse des Wahrnehmens. Diese, nicht ein Stil, sollten vermittelt werden.
Das deutet sich auch in einem Zitat von Steiner an, das Fäth gleichwohl als Bestätigung seines Manifest-Gedankens interpretiert. Es handelt sich um die Antwort auf eine Frage. Ein Zuhörer wollte wissen, ob «die Kunst unter dem Einflusse anthroposophischer Lehren nicht eine Tendenz haben» würde, «eintönig zu werden» und «einen anthroposophischen Stempel» zu tragen. Mit seiner Antwort wollte Steiner unmissverständlich klarstellen, dass von einem Einfluss «anthroposophischer Lehren» nicht die Rede sein kann:
«Wenn man dasjenige, was aus anthroposophischer Geistesrichtung als Kunst wirklich hervorgehen kann, erfasst, richtig erfasst, so wird man, wie ich meine, die Frage gar nicht so aufwerfen, und man wird nicht zu dem Glauben verführt werden können, dass Anthroposophie jemals anstreben könnte, dass Kunst beeinflusst würde durch anthroposophische Lehren. Irgendwie anders zu denken, als dass das Künstlerische aus dem Erleben des im Material flutenden Geistes, des Zusammenlebens mit dem Material hervorgehen könne, kann eigentlich aus anthroposophischer Gesinnung heraus gar nicht angenommen werden. […] Man kann nicht dasjenige, was Lehre ist, ins Kunstwerk hineintragen.» (17)
Rudolf Steiner erwähnt hier ein ganz zentrales Kriterium: das «Erleben des im Material flutenden Geistes». Bezogen auf die Malerei ist das ‹Material› des Künstlers in erster Linie die Farbe. Es geht also darum, dass der Künstler die Farbe in ihren vielfachen Wechselwirkungen, ihrer Dynamik und ihren Ausdruckswerten lebendig erfasst. Von dem intensiven Zusammenleben mit der Farbe hängt es ab, ob er sie in ihren geistigen Wirkungen wahr- und ernst zu nehmen vermag. Mit anderen Worten: Er muss heute dahin kommen, das Geistige im ‹Sinnlichen› zu gewahren, statt ‹Geistiges› (als Vorstellungsinhalt) in ein sinnliches Material zu ‹verpacken›. Auf diese Fähigkeit zielte Steiners Kunstimpuls. Es ist der Wahrnehmungsaspekt, aus dem sich der Mysteriencharakter ableitet.
Damit schließt sich der Kreis zu der anfänglich zitierten Äußerung Walther Roggenkamps. Das vorbehaltlose Eintauchen und intensive Versenken «in die Welterscheinungen, in die Materialien und Mittel des künstlerischen Schaffens hat Rudolf Steiner […] als ein Tun gekennzeichnet, welches geradezu verhindert, dass sich ein ‹typisch anthroposophischer Kunststil› im Sinne einer Kunstschule herausbildet», erläutert Roland Halfen. «Das ‹Erleben des im Material flutenden Geistes› wird hier von Rudolf Steiner selbst als zentrales Tun geschildert, das dann zu etwas ‹noch Ursprünglicherem› führen kann, als es die anthroposophische Lehre ist. Dies Ursprünglichere ist aber nichts anderes als der ‹Geist› selbst, aus dem heraus sowohl die anthroposophischen Ideen als auch die von Steiner entwickelten künstlerischen Modelle hervorgegangen sind.» (18)
Steiner nennt hier also ein zeitloses Kriterium anthroposophischen Kunstschaffens, und zwar (das ist das Entscheidende!) ein Kriterium, das nicht allein für ‹anthroposophische Künstler› gilt. Es ist eine stilübergreifende Intention, die zugleich weltanschauungsübergreifend ist. Mit einem Wort: Sie ist universell. Vieles, was uns zum Beispiel heute die Augen für das ‹Material› der Malerei – das Wesen der Farbe – öffnen kann, hat sich außerhalb der anthroposophischen Bewegung abgespielt. Man denke nur an Künstler wie Ricardo Saro, Johannes Gecelli oder Mark Rothko. (19) ‹Die Anthroposophen› haben ja das im Sinnlichen erfahrbare Geistige nicht für sich gepachtet. Sie können es allenfalls bewusster wahrnehmen, bewusster damit umgehen und die damit verbundenen Prozesse besser verstehen.
(1) R. J. Fäth: Sternbild Aenigma. In: Aenigma – Hundert Jahre Anthroposophische Kunst, Olomouc 2015.
(2) In ‹Goetheanum› Nr. 47/2018, S. 10 f. Mein Name fiel bei der Veröffentlichung unter den Tisch.
(3) A. Mäckler: Anthroposophie und Malerei. Gespräche mit 17 Künstlern, Köln 1980.
(4) R. J. Fäth: Sternbild Aenigma (a. a. o.), S. 16.
(5) Ebd., S. 43 f.6 Persönliche Mitteilungen von A. Schwager.
(7) Persönliche Mitteilung von W. Zumdick.
(8) W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Bern 1952.
(9) R. J. Fäth: Sternbild Aenigma (a. a. o.), S. 48 und 16.
(10) R. J. Fäth: Zum Thema ‹Gibt es Anthroposophische Kunst?›, ‹Goetheanum› Nr. 5/2019.
(11) R. Steiner: Goethe als Vater einer neuen Ästhetik, in: Kunst und Kunsterkenntnis (GA 271). Autoreferat vom 9.8.1888.
(12) S. Stockmar: Gibt es eine anthroposophische Kunst?, ‹Goetheanum› Nr. 47/2018, S. 7–9.
(13) Vgl. M. Bockemühl: Farbmalerei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus heutiger Sicht. In: Michael Fehr (Hrsg.): Die Farbe hat mich. Essen 2000, S. 365. (14) ‹Goetheanum› Nr. 5/2019.
(15) Persönliche Mitteilung von Dr. D. Hornemann v. Laer, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Witten/Herdecke.
(16) D. Hornemann: Streben nach Gleichgewicht. Das Buch ist noch nicht erschienen: D. Hornemann, M. Faldey (Hrsg.): Augenblicke des Gleichgewichts – Das ‹Mittelmotiv› in Rudolf Steiners Skulptur, Malerei und Glasradierung im ersten Goetheanum, Dornach, S. 13.
(17) R. Steiner: Kunst und Anthroposophie. (GA 77 b), Dornach 1996, Fragenbeantwortung vom 26.8.1921, S. 104–106.
(18) R. Halfen: Rudolf Steiners Ästhetik und die Gegenwartskunst, Teil 3. In: ‹Stil› 1/2011, (Epiphanias), S. 3–11.
(9) Siehe den Ausstellungskatalog ‹Konzept Farbe›. Stuttgart 1993.
Bilder: Anneli Schwager, Bilderzyklus ‹12 Monaden = Ein kosmischer Zyklus – Tierkreisstimmungen, Monate, Weltanschauungen›. Titelbild: Januar (Spiritualismus), 2011, Eitempera/Sand/Schlick auf Leinwand, 165 × 150 cm