Kindern ist die Nahsicht viel natürlicher als die Fernsicht. Die glitzernden Tauperlen auf dem Blattrand des Frauenmantels erregen die Aufmerksamkeit, nicht der Blick über Täler und Berge. Beim Gang durch die Wiesen und Wäldchen am Niederrhein entdeckte der junge Joseph Beuys die erstaunlichsten Sachen.
Sie faszinierten ihn so, dass er begann, sie einzusammeln, ja er begeisterte seine Kameraden so, dass sie mitsammelten und am Ende das Gefundene ausstellten. «Ich fing an», so berichtet er, «mich für Pflanzen, für Botanik zu interessieren, und kannte, da ich es in vielen Heften zu Papier brachte, fast alles, was es auf diesem Gebiet überhaupt gab. Mit anderen Kindern wurden regelrechte Exkursionen veranstaltet, wir legten Sammlungen an und machten diese öffentlich zugänglich.» (Adriani et al. 199, 12 f.). Im (stilisierten) Lebenslauf/Werklauf heißt es: «‹1930 Donsbrüggen Ausstellung von Heidekräutern nebst Heilkräutern› (S. 8). Die Pflanzen erregten sein Hauptinteresse und er begann lebenslang, Blätter zu sammeln, zu pressen und aufzukleben.» Das Leben mit der Natur machte ihn hellfühlig und hellhörig für den «Ton der Welt. Er ist hörbar, man sieht ihn wohl auch […]. Es ist wohl unsichtbar-sichtbare sakramentale Substanz. Und wer das heute merkt, sind weniger die Menschen als die Bäume», sagte er in einem Gespräch mit Friedhelm Mennekes (Christus denken, S. 61).
Als Beuys nach dem Krieg in die Düsseldorfer Kunstakademie kommt, wird er von Ewald Mataré angeregt, auf geometrisierende Weise Naturstudien zu machen. Unter den verschiedenartigen Blättern nimmt er zum Beispiel das des Tulpenbaums und spannt es in Rechteck und Kreis. Die lebendig flutende Wasserfarbe steht dabei im Kontrast zur kristallinen Form. Solche Gestaltungen kommen in seinem späteren Werk nie vor. Ihn interessierte Folgendes: Nicht die von außen wirkende Form, sondern die von innen her wirkende Formung, der Formungsprozess, die Gestaltung, die Frage nach dem Lebendigen, dem er als Kind so nah war. Und da erstaunlicherweise ein großer Teil der in Matarés Klasse Studierenden anthroposophisch arbeitet, begegnen ihm mit ihnen die Grundschriften Rudolf Steiners. In den ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauug› lernt er erkenntnistheoretisch den Unterschied von anorganischer und organischer Naturbeschreibung kennen, in der ‹Theosophie› den Begriff des Lebensleibes, des Älterleibes oder des Bildekräfteleibes. Seine Kindheitserlebnisse und seine Kondition ermöglichten ihm die für diese Darstellungen notwendige Offenheit – die Ergebnisse finden eine Ergänzung in Begriffen.
Beuys interessierte nicht die von außen wirkende Form, sondern die von innen her wirkende Formung.
Von besonderer Bedeutung wird für ihn das Studium einer Schrift von Gerbert Grohmann: ‹Botanische Beiträge und Erläuterungen zum Verständnis der Vorträge Dr. Rudolf Steiners ‚Geisteswissenschaft und Medizin‘, ein Versuch›. Grohmann fasst hier zusammen, was Steiner im fünften und sechsten Vortrag des Zyklus ‹Geisteswissenschaft und Medizin› (GA 312) über Pflanze und Alchemie darstellt – Alchemie und ihre Tria Principia als drei Gestaltungsprinzipien, die zur Form, zur Formverwandlung und zur Entformung führen.
Steiner schildert die alchemistischen Prozesse im Mineralischen, im Pflanzlichen und im Menschen, ja im Kosmos, woraus deutlich wird, dass es sich nicht um chemische Prozesse handelt, sondern um Weltprozesse, um Prinzipien, die in allen Naturreichen wirkend gedacht werden, als Prozess mit sich identisch, als Erscheinung dem Reich entsprechend, in dem die Prozesse wirksam sind.
Sal, Sulfur, Merkur
Die Universalität der drei in Zusammenhang wirkenden alchemistischen Prinzipien stellt Beuys bei seinen Vorträgen und Statements auf Wandtafeln und auf Papier immer wieder in Figurationen dar, in denen sich alles mit allem unter dem Gesichtspunkt der Alchemie in Beziehung setzen lässt; am systematischsten in zwei DIN A3 großen Zeichnungen, die sich im Basler Kupferstichkabinett bzw. bei mir befinden. Beuys zeichnet auf Seite 22 der Grohmann’schen Schrift neben den Text eine Reihe von kleinen Figuren, die er in steter Metamorphose zu einem abschließenden Diagramm zusammenfasst, das das Urdiagramm der 20 Jahre später entfalteten Plastischen Theorie ist. In der Außenform zeigt es Abbreviaturen der drei Bildeprinzipien: oben eine kleine in sich kreisende Figur, unten die Außenkante von etwas kristallin Erstarrtem, in der Mitte den Rand eines Tropfens. Die Innenzeichnung gibt wieder, was Steiner als Bildetendenzen der dreigliedrigen Pflanze charakterisierte: oben ein Kreis, der nach innen hin strahlt, unten eine starre Form, die nach außen strahlt, in der Mitte dynamische Linien, die nach unten hin tropfenförmig geschlossen und nach oben hin geöffnet sind. Diese drei Zeichen weisen darauf hin, dass die Blüte als vom kosmischen Umkreis her gebildet gedacht werden muss, dass die Wurzel wie Kristalle von innen nach außen wächst und dass in den Blättern metamorphosierte Formen zwischen beiden Prinzipien entstehen.
Das Sal genannte Prinzip ist ein Prinzip des sich Abgrenzens von der Umgebung, der Erstarrung aus dem Flüssigen, der Erhaltung des Vergänglichen, des Bleibens und Bewahrens.
Merkur ist das Prinzip des flüssig-flüchtig Beweglichen, der Verwandlung, der Gestaltung und Umgestaltung, der Bildung und Umbildung, der Metamorphose. Er ist proteusartig.
Sulfur ist das Prinzip des Verbrennens, Verflüchtigens, das zum Ding gewordene Stofflichkeit zerstäubt, zu Staub und Asche werden lässt und die vorher gebundenen Imponderabilien Licht und Wärme frei werden und ausstrahlen lässt.
Sal formt, Merkur verwandelt, Sulfur chaotisiert. Im Anorganischen nimmt die Gestalt von Kristallen von innen nach außen in immer gleichem Formprinzip Schicht auf Schicht bildend zu, fließend-strömende Flüssigkeiten bilden an Hindernissen rhythmische Wirbelstraßen, Feuerflammen schweben über dem verbrennenden Material.
Die Pflanze zeigt diese Bildeprinzipien in der Art, wie Beuys sie 1977 während der Documenta 6 in Kassel typisierend auf einer Wandtafel skizziert: die Zentralwurzel zeigt nach unten in die Schwere und gliedert in Reihen untereinander in gleichen Winkeln Seitenwurzeln ab; die Blätter durchlaufen eine Metamorphose von rundlichen Formen unten, die sich zu größeren, gegliederten Formen entfalten und dann in Hochblättern zusammenziehen; einfache Blüten bilden radiäre Gestalten, oftmals in Gelb- und Rottönen leuchtend, in deren Mitte die Fruchtsamenanlage liegt. Die Pflanzenbildung vollzieht sich den drei alchemistischen Gestaltungsprinzipien gemäß.
Ebensolche parallele Bildeprozesse zeigt die Pflanze selbst, wenn die Gestaltung eines Blattes komplexer ist als beim Olivenblatt: Wird das Blatt einer Kartoffelrose (Rosa rugosa) so gelegt, dass die Endfieder nach unten zeigt, die in den Stiel übergehenden Rippen nach oben, wo den Blattgrund breite, runde Nebenblätter begleiten, zeigt sich die Parallele zur einjährigen Blütenpflanze. Die Blattrippen entsprechen dem Wurzeltypus, die Metamorphose der Fiederblättchen entspricht der Metamorphose der Blätter zwischen Wurzel und Blüte, und die sich weich und rund ausbreitenden Nebenblättchen, die in der Mitte eine Knospe tragen, die, dem Samen entsprechend, künftig einen neuen Spross ermöglicht, entsprechen dem Bild der Blüte. Die drei Bildeprinzipien zeigen sich im Einzelblatt wie in der ganzen Pflanze und man könnte Beuys paraphrasierend sagen: Ist denn nicht auch das Rosenblatt eine Erkenntnis in Bildform?! – Bild einer Formel? Der Figur in Grohmanns Buch entsprechend, zeichnet Beuys damals eine dreigliedrige Pflanze, deren Wurzelgebilde dieser Figur entspricht, in der Mitte stehen nur zwei Blätter, die das Blattprinzip repräsentieren, oben steht inmitten des kosmischen Umkreises eine Blütengestalt mit Fruchtknoten.
Rudolf Steiners Auftrag
Das in diesen Zeichnungen Charakterisierte fasst Beuys 1971 in eine elementare Form zusammen, die, dem Pflanzenbild noch entsprechend und doch von ihm gelöst, die drei Prinzipien formelhaft abstrahiert/konkretisiert. Diese Formel liegt horizontal einer gespiegelten gegenüber, die den Pflanzenbezug nicht mehr erkennen lässt und doch in sich trägt: das Diagramm zur Plastischen Theorie, die Beuys Ende der 60er-Jahre zu formulieren beginnt und lapidar mit drei Begriffen begleitet: unbestimmt – Bewegung – bestimmt oder Chaos – Bewegung – Form. Dieses aus den alchemistischen Formungsprinzipien und der Pflanzengestalt gewonnene Diagramm stellt er in verschiedenen Einzeldiagrammen mit Morphologie und Physiologie von Tier und Mensch, mit den Seelenkräften des Menschen, Wollen – Fühlen – Denken, oder auch mit den drei Gliedern des sozialen Organismus, Wirtschaftsleben – Rechtsleben – Geistesleben, zusammen, die alle unter dem Gesichtspunkt einer alchemistischen Weltbetrachtung dem gleichen Prinzip folgen. Die hier abgebildeten Zeichnungen zeigen das.
Auf einer Zeichnung, die in dem Buch ‹Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle› auf Seite 376 abgebildet ist, setzt er sein Diagramm auch in Beziehung zur mittleren der drei Engelhierarchien, wie Steiner sie darstellt, mit den Worten ‹Geister der Form – Geister der Bewegung – Geister des Willens› (bei Steiner «Geister der Weisheit») und im ‹Ringgespräch Nr. 13› (vgl. Johannes Stüttgen: Der ganze Riemen, Köln 2008) wird die Kulturevolution mit den drei Begriffen ‹Vaterprinzip – Sohnprinzip – Geistprinzip› parallelisiert. Das von der Pflanze abgeleitete Diagramm wird zur Universalformel von den anorganischen Substanzprozessen bis hin zur göttlichen Trinität.
Wie Goethe in «anschauender Urteilskraft» die Mannigfaltigkeit der Farben so im Farbenkreis zusammenfasste, dass ihre Beziehungen zueinander unmittelbar anschaubar sind und zugleich ihre «sinnlich-sittliche Wirkung» zum Ausdruck bringen, und damit die Chromatik in eine anschaubare Formel brachte, so bringt Beuys die Tria Principia in einer einfachen Formel zur Anschauung, die auch ohne begleitende Begriffe lesbar wird, wenn man die in ihr wirksamen Gestaltungsgesten auf sich wirken lässt. Er führt damit das Trinitarische als ein Weltgestaltungsprinzip vor Augen, das von der sinnlichen Anschauung zur übersinnlichen Erfahrung werden kann, die Dualität von sinnlicher und geistiger Welt aufhebt und zu einem Monismus führt, der sich in seiner Wirksamkeit dreigliedrig entfaltet.
In dem Brief an Manfred Schradi schrieb er: «[…] ich weiß [, dass] gerade von ihm [Rudolf Steiner] ein Auftrag an mich erging, auf meine Weise den Menschen die Entfremdung und das Misstrauen gegenüber dem Übersinnlichen nach und nach wegzuräumen. Im politischen Denken, dem Acker, den ich täglich zu bearbeiten habe, gilt es, die Dreigliederung so schnell wie möglich Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Idee muss aus den Menschen herausgeholt werden, da sie in jedem Einzelnen in verschiedenem Grade vorgebildet ist. […] Behutsamkeit, Indirektheit, Unmerklichkeit, auch oft ‹Antitechniken› sind meine Möglichkeiten.» (In: Walter Kugler/Christiane Haid (Hrsg.): Beuys im Goetheanum, Dornach 2021)