Als ich mich vor Jahren auf einen Pilgerweg begab, bewegte mich die Frage: Wie könnte ein zeitgemäßes Christentum aussehen? Die bedeutenden Theologen Karl Rahner (katholisch) und Jörg Zink (evangelisch) beantworten diese Frage, indem sie den Frommen von morgen als einen verstehen, der sich auf einen inneren Weg begibt, um das Göttliche ‹unmittelbar› zu erfahren.
Auch Rudolf Steiner äußerte, dass mit dem Ende des 20. Jahrhunderts die Weisheit der Anthroposophie verinnerlicht werden müsse, wenn diese noch eine Bedeutung für die kommenden Generationen haben soll. Um die Forderungen der Theologen und Rudolf Steiners zu erfüllen, müssten wir über das Stadium der Hingabe an das Gehörte und des aufmerksamen Studiums der Anthroposophie hinausgehen. Die Stufen einer inneren Entwicklung können anhand einzelner Stellen des Neuen Testaments aufgezeigt werden.
Aufmerksamkeit und Hingabe
Für welchen inneren Weg wir uns auch entscheiden, er wird von zwei Grundkräften unserer Seele bestimmt, der ‹Aufmerksamkeit› und der ‹Hingabe›. Diese sind uns im Neuen Testament durch die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland, den ‹Heiligen Drei Königen›, und den Hirten überliefert. Am Anfang müssen diese Seelenkräfte getrennt geübt und verstärkt werden, da sie ihrer Natur nach sehr verschieden sind. Je nach unserer Veranlagung werden wir uns zunächst für den einen oder anderen Weg entscheiden.
Gehen wir den Weg der ‹Könige›, die ihren Blick als Sterndeuter zum Himmel erheben, um die darin waltenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, so suchen wir die Erweiterung unserer Seelenfähigkeiten durch die ‹Geisteskraft der Aufmerksamkeit›. Wir studieren mystische Texte von Menschen, die uns vorangegangen sind und vom inneren Weg der Seele zu berichten wissen. Zunächst werden wir durch unsere Erkenntniskraft vorwärtsgedrängt, erfahren jedoch mit der Zeit die Grenze ihrer Möglichkeit und gehen durch Steigerung der Aufmerksamkeit in eine meditative, imaginative Haltung über; diese lehrt uns schließlich, in Demut hingegeben dem Stern zur Krippe zu folgen.
Auf dem Weg der ‹Hirten› mit ihrer ‹Seelenfähigkeit der liebenden Hingabe› wird unsere Seele durch die Erzählungen religiöser Texte erwärmt. Die gesteigerte Hingabefähigkeit führt uns zu einer Selbstlosigkeit, die sich der Weisheit des Lebens anzuvertrauen vermag. Verweilen wir in dieser selbstlosen Stimmung, so werden wir wie die Hirten inspiriert, durch das Licht der Engel erleuchtet und ‹erkennen› den inneren Weg zur Krippe.
Welchen Weg wir am Anfang auch wählen, schließlich werden sich die gesteigerte ‹Aufmerksamkeit› und die ‹Hingabe› harmonisch in der Seelenhaltung der ‹Kontemplation› ergänzen, die uns das Sein frei von körperlicher Gebundenheit erfahren lässt, sodass wir vor der Krippe, dem Wunder der jungfräulichen Geburt, knien.
Reine Wahrnehmung
Eine solche in sich ausgeglichene Seele ist in der Lage, über ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen hingegeben zu wachen, und verlangt schließlich nichts mehr für sich. Das unruhige Gedankenleben wandelt sich zu einem in sich ruhenden reinen Wahrnehmen, sodass sich die Forderung Christi erfüllt: «Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.» (Mt 6,7)
Kontemplation ist ein gegenwärtiges ‹Gebet›, sodass sich das Bewusst-Sein eines jeden Augenblicks gewahr wird. Auf diese Weise begegnen wir der Sorge eines über Jahrhunderte hin unbekannt gebliebenen christlichen Mystikers: «… ich möchte deutlich machen, wie wichtig es auf dem inneren Weg ist, sich einer jeden Seelen- oder Gedankenregung gegenwärtig zu sein, um darüber zu entscheiden, ob sie dir hilfreich oder hinderlich sei … Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, dessen Leben mithilfe der Gnade vom Bemühen, auf die Zeit zu achten, durchdrungen ist, nicht in Gemeinschaft mit Jesus, Seiner reinen Mutter, den Engeln und Heiligen sein könne.»1 Eine solche Haltung erfordert einen hohen Grad an Freiheits- und Wahrheitsliebe uns selbst gegenüber. Dabei geht es nicht um ein intellektuelles Betrachten, sondern um ein unmittelbares Schauen aller Vorgänge, seien sie innerlich oder äußerlich, geistiger, seelischer oder körperlicher Art. Wir wenden uns dem Guten und Wahren zu, unabhängig davon, ob es unserem Eigeninteresse nützt oder widerspricht.
Die Evangelien berichten weder weiter von den Weisen aus dem Morgenland noch von den Hirten, denn ihr Weg endet vor der Krippe. Auch der Weg, den wir aus unserer Kraft, unserem Willen heraus zurückgelegt haben, indem wir den Weisen und Hirten folgten, findet in der Kontemplation sein Ende. Obwohl unser Eigenwille notwendigerweise weiterhin in bestimmten Situationen unseren Alltag bestimmen wird, schweigt er in Bezug auf die spirituelle Entwicklung. Die von Selbstlosigkeit erfüllte Seele lässt schauend in ‹liebevoll achtsamer Hingabe› das Wahrgenommene über sich selbst sprechen. Eine solche kontemplative Haltung leitet eine neue Phase des inneren Lebens ein.
Die Himmelspforte
Kontemplation ist Hingabe an den göttlichen Willen. Wird diese selbstlose demütige Hingabe vertieft, so kann uns Gnade zuteilwerden, und wir erfahren auf der nächsten Stufe der Wandlung die ‹Wassertaufe›, von der uns im Neuen Testament erzählt wird: «Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen.» (Mt 3,16) Auf dem inneren Weg erlangen wir die Einsicht, dass sich in allen Offenbarungen der Geist Gottes einerseits in einem irdischen, andererseits in einem himmlischen Aspekt manifestiert.
Der Begriff ‹Seele› trägt in sich die sprachliche Entsprechung zu ‹der See› und ‹die See›. Je mehr uns die Haltung der Kontemplation erfüllt, desto mehr entfaltet sich in uns Stille und Weite, die der Oberfläche eines klaren ruhenden Sees gleicht. Wie der äußere Raum in seinem Sein alle Dinge zu beinhalten vermag, da er selbst leer aller Eigenschaften ist, so auch die Seele als Bewusst-Sein. Solange wir uns jedoch ausschließlich mit dem physischen Körper identifizieren, erfahren wir das Bewusst-Sein nicht unmittelbar, sondern in seinem irdischen Aspekt als einen sich stetig vollziehenden Prozess der Bewusstwerdung.
Im Bild der See, des Meeres, wird der himmlische Aspekt der Seele angesprochen, der durch die ‹Himmlische Jungfrau Maria› dargestellt wird. ‹Maria› ist die lateinische Form des hebräischen Namens ‹Mirjam›. Die Bedeutung von ‹Maria› ist ‹Meere›, die Silbe ‹jam› am Ende von ‹Mirjam› steht ebenfalls für das Meer. Dieses Bewusst-Sein der ursprünglichen Reinheit der Seele streben wir auf dem meditativen Weg an, um die Forderung zu erfüllen: «Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.» (Mt 18,3)
Unser gewöhnliches Ichbewusstsein erfahren wir in seiner Polarität von Ich und Du, von Männlich und Weiblich im Haupt. Ist die Seele bis zu einem gewissen Grade geläutert, vermag sie sich aus dieser Gebundenheit zu lösen und am Grund des ‹Beckens› ihre ‹Wassertaufe› zu erfahren, wie es im Psalm 131 festgestellt wird: «Wie ein kleines Kind bei seiner Mutter, so ist meine Seele in mir.»
In unterschiedlichen Märchen und in den von unbekannt gebliebenen christlichen Eingeweihten überlieferten Symbolen wird vom Fallen in einen Brunnen oder Turm und vom Wieder-Hinaussteigen erzählt. Auch im Bild vom Bad des Königs und der Königin, des Männlichen und Weiblichen, aus dem das androgyne Seelenkind Hermes hervorgeht, finden wir diesen Vorgang der Einweihung wiedergegeben.
Christus wird im Ägypter-Evangelium von seinen Jüngern gefragt, wann er sich offenbaren werde und sie ihn schauen dürften: «Wenn ihr die Kleider abgelegt habt und euch nicht mehr schämt.» Noch deutlicher antwortet Christus, als ihn Salome nach diesem Geheimnis fragt: «Wenn ihr das Kleid der Scham mit Füßen tretet und wenn die zwei eins werden, sodass es weder Männliches noch Weibliches gibt.»2
Das neugeborene Seelenkind lebt nicht mehr in der irdischen Polarität von Männlich und Weiblich, sodass sich über ihm die blaue ‹Himmelspforte› zu öffnen vermag. In diesem Augenblick erfährt die Seele die ‹Himmelfahrt› und erweitert sich über das Haupt hinaus jenseits von Raum und Zeit zum blauen, von Sternenfunkeln durchdrungenen Bewusst-Sein.
Wenn wir aus diesem Hintergrund heraus die Darstellungen Marias mit dem blauen, sternenbesetzten Mantel betrachten, verstehen wir, dass die christlichen Künstler diese Erfahrung ins Bild gebracht haben. Die geläuterte Seele ist in diesem Zustand reines Bewusst-Sein, reiner Geist, einem Meer gleich. Hier handelt es sich nicht mehr um den Prozess der Bewusstwerdung, sondern um einen von der Leiblichkeit losgelösten geläuterten Astralleib, ein intuitives Erfahren des Bewusst-Seins, welches sich seiner selbst ohne jeglichen äußeren Inhalt bewusst ist.
Die Ebene des reinen Geistes
Wie erhaben diese himmlische Erfahrung des Bewusst-Seins auch erlebt wird, lässt sie uns dennoch ernüchtert, gleichsam wie in einer ‹Wüste› zurück. Zwar hat sich die Seele über den Körper erhoben und hat die Weite des reinen Geistes jenseits von Raum und Zeit verwirklicht, aber sie hat keine Liebe darin erfahren. Das neue Testament berichtet, wie sich über Christus bei der Wassertaufe der Himmel öffnet und der Geist Gottes herabfährt und bei Ihm bleibt. Doch dieser Geist führt Ihn in die ‹Wüste›, in der Christus vom Widersacher angegangen wird. Christus weist die Versuchung zur Selbstbezogenheit zurück, indem Er sich an Gott, den Vater, wendet, und Er beginnt Seine Mission, die Erlösung der Schöpfung, ihre Rückführung zum Göttlichen.
Auch wir werden auf der kosmischen Ebene des reinen Geistes versucht. Neigen wir in den Tiefen unserer Seele, wenn auch nur in subtiler Weise, zum Egoismus, dann werden wir in dieser Erfahrung unsere eigene Erlösung sehen. Glimmt jedoch Verantwortung, Mitleid und selbstlose Liebe zur Schöpfung in uns, dann vermag sich Christus zu offenbaren und uns mit dem Heiligen Geist der Weisheit zu taufen; Christus lässt die Seele an Seinem Wesen schauen, dass die eigentliche Erlösung nicht möglich ist, ohne die ganze Schöpfung miteinzubeziehen.
Um diese Vorgänge zu verstehen, müssen wir die intuitive Erfahrung des Bewusst-Seins, des ‹Geistes›, vom ‹Heiligen Geist› unterscheiden. Obwohl der ‹Geist› als geläuterter Astralleib in seiner Bläue erfahren wird, verbleiben dennoch Seelenneigungen, aufgrund derer die Versuchung entstehen kann, losgelöst von allen irdischen Herausforderungen sein eigenes Heil darin zu suchen. Rudolf Steiner spricht in diesem Zusammenhang von der Begegnung mit dem ‹großen Hüter der Schwelle›, der uns in der Gestalt Christi aufzeigt, wohin wir uns entwickeln können, wenn wir dieser Versuchung widerstehen. Folgen wir Christus, so wird der Geist geheiligt, was Rudolf Steiner als ‹Geistselbst›, ‹Heiligen Geist› bezeichnet. Diese zwei Ebenen der Erfahrung zu unterscheiden, ist von Bedeutung.
Da die Menschen in naher Zukunft vermehrt die Erfahrung des reinen Bewusst-Seins, in seinem himmlischen Aspekt als ‹Geist›, haben werden, ist es wichtig, die Versuchung zu kennen, sich als von allem Irdischen vollkommen befreiter ‹Erleuchteter› zu verstehen, was zu Desinteresse und Lieblosigkeit gegenüber der Schöpfung führen kann. In Wirklichkeit offenbart sich in dieser Seinserfahrung das allgemeine Bewusst-Sein, der Geist in seiner Reinheit, welcher allem Sein zugrunde liegt. Der ‹Geist› auf dieser ersten Erfahrungsebene ist nicht der ‹Heilige Geist›, denn wie das Meer, das durch das Licht befruchtet wird, um Leben hervorzubringen, so wird der ‹Geist› durch Christus befruchtet, um schöpferisch zu werden.
Über diese Neugeburt aus dem Heiligen Geist spricht Christus, indem er feststellt: «Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes kommen.» (Joh 3,3) Die mit dem Heiligen Geist erfüllte Seele folgt dem Vorbild Christi, indem sie sich aus der himmlischen Weite der Erde zuwendet, um sich wie Christus mit ihrem Schicksal zu verbinden. Sie nimmt erneut, jedoch nun aus freiem Willen, das Kreuz des irdischen Seins auf sich, denn die Liebe Christi ist nur durch die Zuwendung zur Erde zu verwirklichen. Somit stellt diese vollkommene Reinheit der Seele keinen Selbstzweck dar, sondern die Vorbedingung, den Christus in sich zu gebären. Wie Christus sich bei seiner Versuchung in der Wüste an den göttlichen Vater wandte, so können wir uns an Christus wenden, um der Versuchung zur Selbstbezogenheit zu widerstehen.
Das brennende Herz
Auf vielen Darstellungen weist Christus auf das brennende Herz inmitten Seiner Brust, denn das Herz stellt das Tor zu Ihm dar. Die dem Vorbild Christi folgende Seele wird im Weiteren das Herz mit dem geheiligten Geist zu umschließen suchen. Es entsteht eine neue Art des Gebets, von dem Johannes feststellt: «Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.» (Joh 4,23–24)
Wird uns Gnade zuteil, öffnet sich dieses Tor des brennenden Herzens inmitten unserer Brust und die Seele, wie das Herz eingekleidet in Feuer und Licht, erhebt sich zu Christus, dem Feuer- und Lichtgleichen. Somit erfüllt sich die Aussage Johannes’ des Täufers: «Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber ein Stärkerer nach mir, dem ich nicht genugsam bin, dass ich die Riemen seiner Schuhe auflöse; der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen.» (Luk 3,16)
In einer innigen glückseligen Umarmung vollzieht sich durch den geläuterten Ätherleib, dem ‹Lebensgeist›, die Geburt des ‹neuen Adams›, denn «… der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel» (Kor 15,47). Wir erfahren in Christus unser und aller Selbst, was wir sind und werden sollen. So verstehen wir Christus, wenn er spricht: «Ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit.» (Joh 17.23)
Durch Christus wird uns der weitere feurige Weg angezeigt, an dessen Horizont wir ahnend den göttlichen Vater schauen. Und so erfüllen sich die Worte Christi: «Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.» (Mt. 5,8) Und: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen.» (Joh 14,5)
Zum göttlichen Vater vermag die Seele nur an der Seite Christi zu gehen, indem sie mit Christus an der Erlösung der Schöpfung mitwirkt. Auf diese Weise vollzieht sich das ‹Sein im Werden›, was auch im Neuen Testament Ausdruck findet: «Wir werden alle verwandelt werden. Denn das Vergängliche muss sich mit Unvergänglichkeit bekleiden und das Sterbliche mit Unsterblichkeit.» (1 Kor 15,52)
In Bezug auf das Verständnis des Christentums stehen wir erst am Anfang. Gehen wir den uns im Neuen Testament aufgezeigten Weg, so werden wir die geistige Quelle des Christentums erkennen und diese durch unmittelbare Erfahrung bezeugen können.