Vor 100 Jahren erschienen die beiden Bände eines monumentalen Werks der Geschichtsphilosophie: ‹Der Untergang des Abendlandes› von Oswald Spengler (1880–1936). Der erste Band wurde 1918, der zweite 1922 veröffentlicht. Spengler unternimmt den Versuch, die Weltgeschichte als ein Ganzes in organischer Logik anzuschauen und das Gesetzliche oder ‹Symbolische› der historischen Erscheinungen darzustellen. Mit seinem universalhistorischen, also Nationen und Kontinente übergreifenden Ansatz hatte das Buch großen Einfluss auf Historiker des 20. Jahrhunderts wie Arnold J. Toynbee, Francis Fukuyama oder Samuel Huntington.
Spengler beruft sich auf zwei Ahnherren, die auch für Rudolf Steiner wichtig waren: Goethe, den Naturforscher, sowie Friedrich Nietzsche. «Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen», heißt es im Vorwort.(1) Die Goethe’sche Morphologie als Lehre von der Gestalt und dessen Methode der Analogie werden hier auf die Erscheinungen der Weltgeschichte angewendet. Weltanschaulich ist Nietzsches Gedanke eines ‹Amor fati› als ästhetische Erscheinungsform eines Fatalismus bestimmend. Spengler betrachtet acht Hochkulturen (von der ägyptischen bis zur abendländischen), deren jede nach einer Jugend- und Erwachsenenphase notwendig ihrem Greisenalter oder Untergang entgegengeht. Die Phase der Zivilisation ist eingeleitet, die durch Niedergangserscheinungen in sämtlichen Lebensbereichen gekennzeichnet sei. Geschildert wird in eindringlicher Konsequenz auch der Untergang der abendländischen Kultur, die zunehmend auf einem technischen Wissen gründet und in der ein abstrakter Verstand als Widersacher des Lebens fungiert.
Im Spengler-Jahr 2018 erlebten Autor und Werk ein bescheidenes Comeback. Die jüngst gegründete Oswald Spengler Society (2) konferierte und verlieh dem französischen Schriftsteller Michel Houellebecq – diskutiert wegen seines Romans ‹Die Unterwerfung› (2015) – in Brüssel den ersten Oswald-Spengler-Preis. Doch die Präsenz war, wie auch in den Jahren zuvor, nur flüchtig. Die Geschichte vom ‹Untergang› ist spätestens seit Spenglers Tod eine Geschichte des Vergessens. Und wer dieses Buch las, hatte es weitgehend missverstanden. Missverstandene Bücher teilen das Schicksal mit vergessenen Büchern: In beiden Fällen wartet das Buch noch auf einen ihm entsprechenden und fähigen Leser. Der Philosoph Theodor W. Adorno schreibt über den Grund dieses Vergessens: «Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht.» (3)
Doch wovor flieht ein potenzieller Leser, ließe sich fragen? Ein Leser, den Adorno nicht erwähnt, der sich aber dem Werk bereits gestellt und Spenglers Gedanken in fruchtbarer Weise zu Ende gedacht hatte, war Rudolf Steiner. In Steiners Betrachtungen werden die geistigen Konsequenzen augenfällig, zu denen eine wirkliche Auseinandersetzung mit Autor und Werk führen könnte. Die Furcht vor diesen Konsequenzen mag Ursache des Vergessens oder Missverstehens von Spenglers Werk sein. 1922 und 1923 kommt Steiner wiederholt auf das Phänomen des ‹Spenglerismus› zu sprechen. Dabei handelt es sich, zusammenfassend gesagt, um einen Zweifel an der Wirksamkeit des Denkens, einen Unglauben daran, dass aus dem Denken neue, zukunftsfähige Ideen geboren werden können, und um einen Unwillen, durch Erweiterung der Erkenntniskräfte aus einer Art Traum- oder Schlafzustand geistig zu erwachen.(4) Aufgrund dieser nicht eigens erkannten und nicht überwundenen Feinde der Erkenntnis charakterisiert Steiner den ‹Untergang› als ein «Buch der Ratlosigkeit» (5). Auch in einer Reihe von Artikeln widmet Steiner sich ausführlich dem kulturmorphologischen Werk Spenglers. Die Lektüre zeichnet sich dadurch aus, dass Steiner das Buch nicht auf die ausgesprochenen Inhalte hin liest, sondern vor allem den verborgenen, drängenden Geist des Autors und die implizite Bewegung herausarbeitet, in der sich die Gedanken Spenglers auseinanderentwickeln. Diese gegenläufige Lesart Steiners lässt Einsichten zutage treten, die ein unausgesprochenes seelisches Ringen des Autors freilegen. Dieses sei für die gegenwärtige Kulturepoche symptomatisch und zugleich der gesamten Menschheit als Aufgabe gegeben: «Spengler denkt zu Ende, was in anderen zur Hälfte oder zu einem Viertel seelisch durchlebt wird.» (6) Bei der Aufgabe handelt es sich um die Überwindung des abstrakten Intellekts und ein bloßes ‹Bildwissen› (verstanden als ‹Abbildwissen›) zugunsten der Entwicklung eines lebendigen, imaginativen Denkens.
Das Wachleben erscheine für Spengler, so Steiner, «abgerissen vom kosmischen Dasein» (7). Der Geist zeige sich ihm nur in abstrakter Form. Da Spengler nur diesen unlebendigen Verstand kenne, müsse er das Denken neben das Leben stellen. Das Denken würde für Spengler zu einem bloßen ‹Nachdenken› über das Leben, es sei nicht das Leben selbst. Dem abstrakten Denken der gegenwärtigen abendländischen Zivilisation ging jedoch in früheren Epochen ein lebendiges, bildhaftes Denken voraus. Verhält sich dann jenes nicht zu diesem wie ein Rückschritt in der geistigen Evolution des Menschen? Tatsächlich betont Steiner, dass es sich um keine kontinuierliche Progression in der geistig-kulturellen Geschichte der Menschheit handelt. Im Gegenteil, manche «Rückschritte» seien «notwendig», denn nur «sie führen die Menschheit durch Erlebnisse hindurch, die gemacht werden müssen» (8) auf dem Weg zur individuellen Freiheit. Deshalb wäre jeder aufklärerische Fortschrittsoptimismus unbegründet und kein wirksames Gegenmittel für Spenglers Nihilismus und Agnostizismus. Bei den notwendigen Erlebnissen handelt es sich um Grenzerfahrungen, die allein an einem abstrakten, unlebendigen Bildwissen gemacht werden können. Der Mensch steht mit dieser Art des Wissens zugleich an einem Abgrund, der ihn trennt von allem Lebendigen, vom Wesen der Dinge. Indem diese Erfahrungen vertieft und Vorstellungen und Begriffe für die Erlebnisse gebildet werden, kann der Mensch zugleich über diesen Abgrund hinausgehen, und die scheinbaren Rückschritte erweisen sich als ein Fortschritt. Zu einem atavistischen Bilddenken oder zu einer alten «Mystik» (9) kann also nicht zurückgegangen werden, es sei denn um den Preis eines tatsächlichen Rückschritts auf dem Weg zur Freiheit.
Anstatt nun an diesen Grenzerlebnissen zu erwachen, wählt Spengler einen gegenläufigen Weg und wird in das traumhafte, halbdunkle Pflanzendasein zurückgetrieben. Er schildert, was der Mensch erlebt, der vor seinem eigenen Erwachen zurückschreckt und an der Grenze von Traum und Wachbewusstsein zurückprallt. Mit der Metapher eines schlafenden Pflanzendaseins beginnt auch leitmotivisch der zweite Band vom ‹Untergang›. Steiner bezeichnet daher den Geist, der Spenglers Werk zugrunde liegt, als ein «glänzendes abstraktes Denken, das Angst vor sich selber hat und sich im Traume ertränken möchte» (10). Die Niedergangskräfte des menschlichen Geistes wirkten in Spengler aktiv, in anderen Menschen nur passiv. Spengler spreche aus, so Steiner, «was für viele Tatsache ist, aber von ihnen nicht bemerkt wird» (11).
Doch wie kann die verlorene Bildhaftigkeit des Denkens wiedererweckt werden? Wie kann dem Niedergang der abendländischen Kultur die Möglichkeit eines neuen Aufgangs entgegengestellt werden? Ein neues bildhaftes Denken sei nur durch Steigerung der Bewusstseinsfähigkeiten hin zu einer vollbewussten Imagination möglich: «Es [das abstrakte Denken] hat die Bildhaftigkeit verloren, die es als Traumerlebnis gehabt hat; aber es kann diese wieder erringen im Lichte eines intensiveren Bewusstseins.» (12) Dieses Ereignis stellt sich jedoch nicht von selbst ein, sondern muss vom Menschen gewollt sein und bewusst herbeigeführt werden. So schreibt Steiner: «Von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewusste Abstraktion zur ebenso vollbewussten Imagination: Das ist der Entwickelungsgang des menschlichen Denkens. Der Aufstieg zu dieser bewussten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit.» (13) Goethe habe mit diesem Denken einen Anfang gemacht. Daher könne nur ein so verstandener Goetheanismus den Keim legen für künftige Kulturepochen. Den möglichen Aufgang der abendländischen Kultur hätte Spengler in konsequenter Vertiefung von Goethes Methode der «exakten sinnlichen Fantasie» finden können. Es ist jedoch bei dem Versuch stehen geblieben, die Morphologie auf die äußere Erscheinung der geschichtlichen Ereignisse anzuwenden. Hätte Spengler diese auf das Denken selbst angewendet, wäre für ihn in allen Erscheinungen das Wirken eines übersinnlichen Wesens sichtbar geworden. Stattdessen blieb Spengler bei einem Agnostizismus stehen.
Für eine wirkliche Universalgeschichte, ganz im Sinne Friedrich Schillers, braucht es eine historische Imaginationskraft (sowie Inspiration und Intuition). Nur mit dieser können die geistigen Ursachen geschaut werden, die den Gang der Geschichte bestimmen. Ohne diese Fähigkeit muss jene als eine Abfolge von Taten und Ereignissen erscheinen, denen auf der anderen Seite ein kraftloses (Ab-)bilddenken abstrakte Gesetzmäßigkeiten oder Ursache-Wirkung-Zusammenhänge unterlegt, die mit den wirklichen (geistigen) Tatsachen nichts zu tun haben. Nur durch die Schulung zur voll bewussten Imaginationsfähigkeit könne der Mensch, wie Rudolf Steiner in seinen Artikeln zu Spengler ausführt, das abstrakte, technische Wissen überwinden. Einzig diese Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit kann Quelle eines neuen Aufgangs der Kultur sein.
(1) Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1918 u. 1922). München 1993, S. IX.
(2) www.oswaldspenglersociety.com
(3) Theodor W. Adorno, Spengler nach dem Untergang, in: ‹Der Monat› 1949, S. 115.
(4) Siehe GA 214, S. 117 ff.; GA 217, S. 79; GA 218, S. 104 f.
(5) Rudolf Steiner, Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1921–1925 aus der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›, in: Rudolf Steiner, Gesamtausgabe, Band 36 (GA 36), Dornach 2014, S. 89 f.
(6) Ebd., S. 91.
(7) Ebd., S. 86.
(8) Ebda., S. 91.
(9) Ebda., S. 88.
(10) Ebda., S. 90.
(11) Ebda., S. 89.
(12) Ebda.
(13) Ebda.
Titelbild: Oswald Spengler, Quelle: Wikipedia