Im Atelier – das Krankenlager Rudolf Steiners

1. Oktober 1924 bis 30. März 1925 – «Ein jähes Ende [der Septemberkurse]: die Krankheit Rudolf Steiners setzte ein. Eine vollkommen veränderte Lage trat ein. Ich verließ die Klinik, um Dr. Steiner zu pflegen, hatte keine Ahnung von den schweren Dingen, die kommen konnten», schrieb Ita Wegman im Rückblick.1 Am Dienstag, den 30. September 1924, sandte sie eilige Telegramme an ihre ärztlichen Kollegen Ludwig Noll und Eberhard Schickler und bat sie, nach Arlesheim zu kommen – zur Unterstützung in der Klinik in der Zeit ihrer Abwesenheit, Noll auch zur Hilfe bei der Behandlung Rudolf Steiners. Einen Tag später, am 1. Oktober, verabschiedete sich Steiner im Haus Hansi – «für zwei Tage gehe ich hinauf», sagte er zu Helene Lehmann. Er war am Ende sechs Monate krank in seinem Atelier des Schreinereikomplexes und kehrte nicht mehr zurück. «Auf mein erschrecktes Gesicht hin tröstete er mich noch», so erinnerte sich Helene Lehmann.


Marie Steiner-von Sivers war einen Tag zuvor, am 30. September, auf eine wochenlange Tournee mit dem Goetheanum-Eurythmie-Ensemble nach Deutschland gereist. Angesichts von Steiners Gesundheitszustandes hatte sie eigentlich nicht gehen wollen. Am 2. Oktober informierte er sie über seinen Umzug zur Behandlung und Pflege: «So bin ich denn hier und bleibe so lange es notwendig ist.»

Der Beginn des Krankenlagers

Steiner ging nicht in das Klinisch-Therapeutische Institut Ita Wegmans in Arlesheim, sondern in seinen vertrauten Raum am Goetheanum, in dem er seit nahezu zehn Jahren gewirkt hatte – in sein ‹Bildhauer-Atelier›, in dem aber auch viele andere Arbeiten und überaus wichtige Gespräche stattgefunden hatten. Er ging zum Ort der hölzernen Christusplastik, neben der er sechs Monate später sterben sollte. Die sechs parallelen Septemberkurse mit 70 Vorträgen, 400 Einzelgesprächen und unzähligen anderen Aktivitäten hatte er gerade noch physisch bewältigt,2 auch die kurze Ansprache am Vor-Michaelstag; dann waren seine Kräfte erschöpft. «Es war, als ob Rudolf Steiner alles daran setzen wollte, einiges [durch die Septemberkurse] noch zu erreichen geistig, was noch zu erreichen war», schrieb Ita Wegman; er habe aus einem «Pflichtgefühl gegenüber höheren Mächten» so gehandelt, teilte Steiner Marie Steiner-von Sivers am 6. Oktober aus dem Atelier mit. Immer wieder sollte er in den folgenden Wochen betonen, dass er die Kräfte für die Kurse im September sehr wohl noch aufbringen konnte, nicht jedoch für die endlosen persönlichen Anliegen, Sorgen und Wünsche der Mitgliedschaft.

Mit einem handschriftlichen Anschlag am Schwarzen Brett in der Schreinerei sagte Rudolf Steiner am 2. Oktober die angekündigten nächsten Vorträge ab; eine Woche später, am 10. Oktober (und bald danach auch im Nachrichtenblatt der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›) verbat er sich weitere Mitgliederspekulationen über seinen Gesundheits- bzw. Krankheitszustand, die «Gerüchte-Bildung in anthroposophischen Kreisen». Er hoffe, dass durch die «einzigartige opfervolle Pflege meiner lieben Freundin Ita Wegman und ihres treuen Helfers Dr. Noll» es gelingen werde, ihm bald wieder auch ein «physisches Tun, ohne das ja leider auf Erden das Geistige nicht wirken kann, wenigstens bis zu einem Maße zu ermöglichen». Er fügte jedoch hinzu: «Aber zuletzt muss ja alles das schicksalsgemäß (karmisch) empfunden werden.»

Dennoch bedrängten viele Mitglieder Rudolf Steiner weiterhin mit Briefen voller Fragen, Wünschen und Anliegen. «Der Doktor ist gerade deshalb krank geworden, weil man ihn immer mit solchen Fragen belästigt hat», antwortete Ita Wegman, und: «Man scheint nicht zu wissen, wie krank der Doctor eigentlich ist.» An Marie Steiner-von Sivers schieb Steiner zur Krankheitsätiologie, er habe ihr ja schon vor längerer Zeit gesagt, «wie seit Januar 1923 die Verbindung der höheren Glieder meiner Wesenheit mit meinem physischen Körper nicht mehr voll war». Er sei seinem physischen Leib «sehr entfremdet» worden, «außer der Verbindung» mit ihm, was ein «labiles Gleichgewicht in den physischen Kräften zur Folge» habe. Es habe eine «starke Lockerung des Ätherleibes bis zur teilweisen Trennung des Ätherleibes vom physischen Leibe» stattgefunden, betonte Ita Wegman im Rückblick. «‹Im Vergleich zu anderen Menschen bin ich auf Erden eigentlich schon gestorben›, war öfter sein [Rudolf Steiners] Ausspruch, ‹mein Ich und mein Astralleib dirigieren den physischen Leib und ergänzen das Ätherische.›» Mit übermenschlichen Willenskräften, so Ita Wegman, habe sich Steiner nach der Brandzerstörung des Goetheanum noch in seinem Leib gehalten, nach einem Anschlag, der keineswegs nur dem Bauwerk, sondern auch dem Baumeister und dessen Lebenskräften gegolten habe. Schwierig und immer schwieriger war seither seine Ernährung, die Verinnerlichung der Fremdsubstanz, die des ätherischen Leibes bedarf.

Grundriss: Das Atelier Rudolf Steiners, Grundeinrichtung 1923–1925 nach Angaben F. Gränichers: 0 Vorraum, 1 Tisch, 2 Holzstatue, Mittelfigur, mit Arbeitspodest, Abstellflächen, 3 Bett (ab Herbst 1923?), 4 Schreibtisch, 5 Eisenofen auf Steinplatte, zuzüglich zur Zentralheizung, 6 Einfache Holzstühle, 7 Schrank, 8 Hochatelier mit Originalmotiven der Holzplastik, 9 Eurythmie-Übungsräume, 10 Schopf, 11 die Ahriman-Gruppe, 12 Die Christus-Statue (beides Holz), OL Oberlicht-Fenster, PF Pfette, DB Dachbinder

Stille und Kampf

«Wir lebten in stiller Abgeschlossenheit», betonte Ita Wegman – und Marie Steiner-von Sivers fragte Rudolf Steiner in einem Brief vom 9. Oktober 1924: «Siehst Du eigentlich Menschen außer denjenigen, die dich pflegen?» In einem seiner Briefe konnte sie indirekt die Antwort lesen: «Es strengt mich gerade aller Verkehr mit Personen furchtbar an.» Sein Sekretär Guenther Wachsmuth mit der täglichen Post, Albert Steffen wegen der Wochenschrift und Ernst Aisenpreis in Baufragen durften noch für kurze Momente des Tages zu ihm kommen, auch Mieta Waller vom Haus Hansi sowie Marie Steiner-von Sivers nach ihrer Rückkehr von der Tournee. Er schrieb von seiner notwendigen Erholung und der Hoffnung auf baldige Besserung, des Weiteren: «ich muss alles ‹Zerstörende› abhalten». Von dem «kurzen Leben», das ihm noch zur Verfügung stehe, hatte er bereits in einem Vortrag des Jahres 1919 gesprochen.

Die Situation war schwierig. «Seine Krankheit hat er mit Geduld und Würde ertragen», hielt Ita Wegman fest, aber auch: «Er litt unsagbar darunter, die physischen Kräfte allmählich schwinden zu fühlen, immer mehr Pflege in Anspruch nehmen zu müssen.» Davon ist auch in Rudolf Steiners Briefen an Marie Steiner-von Sivers sporadisch die Rede; er sei so «gar nicht eingerichtet» darauf, «die Stunden der eigenen Pflege zu widmen.» «Man kann andern so gut gesundheitlich helfen – selbst muss man an andrer Hilfe appellieren.» «Die Sache ist ja recht wenig in dem Stile, in dem ich eigentlich leben und arbeiten möchte.» Rudolf Steiner wollte und musste weiter in einer entscheidenden Situation mit der anthroposophischen Bewegung, so nach Berlin, zu einer Vielzahl von Treffen und zu öffentlichen Veranstaltungen in großen, gemieteten Sälen wie der Berliner Philharmonie. Daran war nun jedoch nicht mehr zu denken. Alles war seit der Weihnachtstagung, der Neugründung der Gesellschaft und der Hochschule noch im Anfang begriffen, darunter der Aufbau der einzelnen Hochschulabteilungen (Fachsektionen), der innere Lehrgang der Michael-Schule und die Weiterentwicklung der bestehenden anthroposophischen Institutionen. Nun aber war Rudolf Steiner gestoppt worden und konnte sein Atelier nicht mehr verlassen. «Versuchen Sie mit allen in Frieden auszukommen. Es ist jetzt wichtig, die Michael-Strömung vorwärts zu bringen. Wer zu Ihnen Vertrauen hat, wird schon kommen, die anderen bleiben einfach weg, das müssen sie dann selbst wissen. Machen Sie nur die 1. Klasse-Stunden inhaltsreich und ernst, dann werden Sie schon eine gute Arbeit leisten», schrieb Ita Wegman am 16. Oktober an die Klassenvermittlerin Anna Wager Gunnarsson, die sich wegen Fragen zur Weitergabe der Klassen-Mantren und zur schwedischen Übersetzung an sie gewandt hatte.

Was Rudolf Steiner – neben allem anderen – schwer zu schaffen machte, waren die Auseinandersetzungen um den zweiten Bau, die ‹Michaelsburg›, wie er den Bau gegenüber Ita Wegman nannte, die Stätte der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, die mit Veränderungsimpulsen und -initiativen in vielen Lebensbereichen der gefährdeten Zivilisation tätig werden sollte, als reale Hochschule Michaels im Zeitalter Ahrimans. Steiner hatte zwar im September 1924 die Baugenehmigung durch den Kanton Solothurn trotz Einsprüchen der Schweizerischen Vereinigung für Heimatschutz erhalten, die das geplante Gebäude als «übergewaltiges Denkmal» und «Anmaßung» mit «grotesken» Formen taxiert hatte, als «wahnwitzige Überheblichkeit» und «dauernde Beleidigung des Auges» – und darin im Juni 1924 von der Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten unterstützt worden war, die einen Schaden für die gesamte Schweiz durch das «beschämende Kulturdenkmal» voraussah. Rudolf Steiner wollte «so rasch als möglich» bauen; er erlebte jedoch auf dem Krankenlager mit, wie energisch die Gegenseite nach der erteilten Baugenehmigung zu Werke ging. Am 25. Oktober erschien die reich bebilderte Dokumentation ‹Das sogenannte Goetheanum in Dornach› der ‹Schweizerischen Bauzeitung›, die als Sonderdruck in hoher Auflage in vielen Lokalblättern beilag, so dem ‹Tagblatt für das Birseck, Birsig- und Leimental›. Die Brandzerstörung des ersten Baus wurde darin begrüßt und das «Verschwinden des fremden Eindringlings im Landschaftsbild des Birseck» gefordert; Steiner sei der «Ketzerei und Volksverführung» verdächtigt.

Rudolf Steiner meldete sich daraufhin – nolens volens – noch einmal zu Wort und veröffentlichte Ende Oktober und Anfang November 1924 zwei Artikel in Basler Zeitungen (‹Der Wiederaufbau des Goetheanum› bzw. ‹Das Zweite Goetheanum›), mit Abbildungen des Baumodells. Am 23. November rief das Aktionskomitee gegen den Bau zu einer großen Massenprotestversammlung auf dem Schulhof von Arlesheim auf und verabschiedete eine Resolution, die vier Tage später vom Dornacher Gemeinderat zurückgewiesen wurde. Am 3. Dezember dankten Rudolf Steiner und Ita Wegman dem Dornacher Gemeinderat im Namen der Anthroposophischen Gesellschaft mit einem Brief aus dem Atelier, wiesen aber auch darauf hin, «dass es für uns derzeit wohl am besten sein werde, uns darauf zu beschränken, zu bauen, und uns an den öffentlichen Diskussionen nicht zu beteiligen. Wir möchten nirgends irgendwie den Frieden stören und deshalb so lange nicht an Diskussionen in der Öffentlichkeit teilnehmen, als es nur irgend möglich ist.» «Ich muss alles Zerstörende [von mir] abhalten». Gleichwohl antwortete Steiner auch dem Vorsitzenden der Schweizerischen Vereinigung für Heimatschutz auf dessen Vorschlag zur Ausschreibung des Bauprojektes mit einem Ideenwettbewerb unter Einschluss nicht-anthroposophischer Architekten persönlich. Die vorgeschlagene architektonische Verleugnung der Anthroposophie in ihrem eigenen Haus sei nicht möglich – «Das wäre wahrhaftig nichts Geringeres als geistiger Selbstmord von meiner Seite.» Am meisten gekränkt habe ihn der erhobene Vorwurf, «dass die Größe des Baues eine Folge des Hochmuts, der Anmaßung, oder gar irgendwelcher Machtgelüste sei, da ich mir doch dessen voll bewusst bin, dass ich nur aus der Notwendigkeit der Sache heraus handle.»

Ita Wegman im Atelier Rudolf Steiners, 21. März 1925. © Ita Wegman Archiv

Michael, Ahriman, Christus

In den Morgenstunden, von ca. 5 Uhr bis 8 Uhr, schrieb Rudolf Steiner im Atelier täglich weiter – an den Leitsatzbetrachtungen und Leitsätzen (später als ‹Michael-Briefe› bezeichnet) und an seiner Autobiografie ‹Mein Lebensgang›, die die Weimarer Zeit behandelte. All diese Texte erschienen jede Woche im öffentlichen (‹Mein Lebensgang›) wie im internen Teil (‹Leitsätze›) der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› und erreichten damit weltweit Menschen. Steiner konnte nicht mehr reisen, keine Vorträge mehr halten und keine längeren Unterredungen mehr führen. Dennoch sprach er über diese Texte weiter zu Menschen und stellte das Wesen der Anthroposophie und die spirituelle Aufgabe der anthroposophischen Bewegung im Drama des 20. Jahrhunderts dar. Seine im Atelier verfassten Texte datierte er – und sie erschienen mit diesem Datum. Er war noch da, erkennbar für seine Freunde und Gegner. Bis Mitte November 1924 erschienen Ausführungen über den ‹Michaels-Weg› und über ‹Michaels Aufgabe in der Ahriman-Sphäre›, über Michaels ‹Erfahrungen und Erlebnisse während der Erfüllung seiner kosmischen Mission›, über ‹Menschheitszukunft und Michael-Tätigkeit›, über das ‹Michael-Christus-Erlebnis im Menschen›, über ‹Michaels Mission im Weltenalter der Menschen-Freiheit›, und schließlich, in kaum zu überbietender Dramatik, über ‹Die Weltgedanken im Wirken Michaels und im Wirken Ahrimans›. Nicht nur das «Gleiten in eine andere Weltgeschichte» seit Beginn der Neuzeit und dem Zugriff Ahrimans auf die frei gewordene menschliche Intelligenz wurde darin den Mitgliedern verdeutlicht, sondern die ganze Aufgabe, vor und in der die Anthroposophische Gesellschaft mit ihrer Hochschule stand. Auch über Zeitgenossen wie Adolf Hitler schrieb Steiner, ohne Namensnennung und unter spirituellen Gesichtspunkten: «Indem der Mensch seine Freiheit entfaltend in Ahrimans Verlockungen fällt, wird er in die Intellektualität hineingezogen, wie in einen geistigen Automatismus, in dem er ein Glied ist, nicht mehr er selbst. All sein Denken wird Erlebnis des Kopfes; allein dieser sondert es vom Eigenherzerleben und eignem Willensleben ab und löscht das Eigensein aus.»

Hitler arbeitete in seiner Landsberger Haft zeitgleich an seinen eigenen ‹Leitsätzen›, seiner polaren Programmschrift ‹Mein Kampf›. In einer spirituellen Schilderung Ita Wegmans, in Erinnerung an eine Unterredung mit Steiner noch vor dem Krankenlager, heißt es: «Es war eines Tages, dass mir von Rudolf Steiner mitgeteilt wurde, wie Anti-Michael-Dämonen rücksichtslos an die Arbeit sich begeben, das Werk Michaels nicht aufkommen zu lassen und zu zerstören.» Entscheidend, so Steiner damals, würde sein, ob die michaelischen Impulse, die mit der Weihnachtstagung so kraftvoll eingesetzt hatten, trotzdem zum Durchbruch kommen würden. «Meine bange Frage war: was wird geschehen, wenn dies nicht gelingt? Und die Antwort lautete: dann wird Karma walten.» Dass Steiners Krankenlager eine Zeit der heftigen geistigen Auseinandersetzung in diesem Sinne war, deutete Ita Wegman in einem biografischen Vortrag am 27. Februar 1931 in London an: «Ich übergehe hier die schmerzhaften Stunden, Wochen und Monate seines Krankenlagers, das im Atelier der Schreinerei war und die ich überwacht habe. Wie in diesen stillen Stunden gekämpft wurde gegen den Anprall feindlicher Mächte, ist eigentlich nicht möglich zu beschreiben.»

«Dämonen Kämpfe jede Nacht», heißt es in einer Aufzeichnung Steiners. Ita Wegman notierte sich manche seiner Aussagen: «Ich hoffe sehr wieder gesund zu werden.» «Es muss bald die Entscheidung fallen, entweder oder …» Das Allermeiste der sechs Monate aber ist nicht bekannt und die überlieferten Schriftstücke können allenfalls als Fragmente eines größeren Zusammenhangs gelten. Ohne Zweifel aber arbeiteten Rudolf Steiner und Ita Wegman auch unter den schwierigen Bedingungen weiter eng zusammen – «Christian Rosenkreutz spielte in diesen [gemeinsamen] Meditationen eine große Rolle», betonte Wegman. Trotz aller Einschränkungen versuchte Rudolf Steiner, die Hochschule mit ihren Sektionen und Grundlagenarbeiten zu entwickeln. Auf seine Aufforderung bat Ita Wegman Karl Schubert am 21. November um seine Transkription der Stenogramme des Heilpädagogischen Kurses für eine baldige Edition (als Hochschulschrift); über die beabsichtigte Edition der Karma-Vorträge vom September 1924 schrieb sie nur eine Woche später an eine Zweigleiterin in Stuttgart: «Das wird die allernächste Arbeit vom Dr. sein und sobald es seine Gesundheit zulässt, wird er damit beginnen.» Rudolf Steiner empfing im November auch Emil Leinhas für kurze Zeit zur Aktiengesellschaft ‹Der Kommende Tag›, die liquidiert werden musste («Ich erschrak über seinen Anblick. Er war zum Skelett abgemagert.») sowie Ludwig Graf Polzer-Hoditz, mit dem er über die Zukunft der Michael-Schule und ihre Klassen sprach.

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Programm der Weihnachtstagung am Goetheanum mit Korrekturen Rudolf Steiners. Dornach, 20.12.1924. © Rudolf Steiner Archiv

Weihnachten und Jahreswende 1924/25

Steiner vergaß auch nicht die Einladung zu einer Feier für Albert Steffen, der am 10. Dezember 1924 40 Jahre alt wurde und sandte einen Brief in die Zusammenkunft, die Steffens Arbeit würdigte, auch seinen Einsatz für die Anthroposophische Gesellschaft. Noch immer hoffte Rudolf Steiner auf das Wirksamwerden der Anthroposophischen Gesellschaft, auf die Einigkeit im Willen im Sinne Michaels, auch wenn er keine Klassenstunden und Karma-Vorträge mehr halten konnte.

Am 24. Dezember begrüßte Rudolf Steiner die zu Weihnachten ans Goetheanum gekommenen und im Saal der Schreinerei versammelten Mitglieder mit einem Brief, den Marie Steiner-von Sivers vorlas. Er erinnerte an die entscheidende Weihnachtstagung am selben Ort ein Jahr zuvor, durch die der Gesellschaft «ein neues Leben» gegeben und ein geistiger Grundstein gelegt worden sei. Wieder sprach Steiner von der «beispiellos opferwilligen Pflege der Freundin Dr. I. Wegman» und richtete Grüße von ihr aus. Von einer Besserung seines Zustandes und einem Wiederbeginn seiner Arbeit war in dem Brief jedoch nicht die Rede; in den Tagen zuvor hatte er abendlich Fieber gehabt und war in einer elenden Verfassung gewesen. Dennoch wurden drei neue, lange und tief eindrucksvolle Texte von ihm in der Weihnachtszusammenkunft von Marie Steiner-von Sivers verlesen (am 24. Dezember 1924, 1. und 2. Januar 1925), beginnend mit: «Weihnachtsbetrachtung: Das Logos-Mysterium». Am 28. Dezember 1924 wurde erstmals die gesamte Grundstein-Meditation, nunmehr mit der vierten Strophe, eurythmisch im Saal der Schreinerei aufgeführt. Am 2. Januar 1925 hieß es im Abschiedsbrief Rudolf Steiners an die Teilnehmenden: «Ich konnte diesmal nur im Geiste mit Euch hier vereint sein. Dennoch hoffe ich, dass in Euren Herzen die Kräfte, die durch die Weihnachtstagung vor einem Jahre angefacht worden sind, einen neuen Anstoß erhalten haben.» Er erhoffe das «sehnlichst». Erneut grüßte er von Ita Wegman.

Was die Mitglieder nicht wissen konnten, war, dass Rudolf Steiner am Neujahrstag durch eine existenzielle Krise mit einer zeitweisen Ohnmacht ging, am zweiten Jahrestag der Brandzerstörung und exakt ein Jahr nach dem Zusammenbruch beim ‹Rout› am Ende der Weihnachtstagung. Eine Woche später hieß es in einem Brief von Ita Wegmans Mitarbeiterin Mien Viehoff an Clarita Berger: «Frau Dr. [Wegman] ist ganz verzweifelt, weil Dr. [Steiner] immer schwächer wird.» Ita Wegman habe Hilma Walter gebeten, in den Nächten nun stets im Vorzimmer des Ateliers zu schlafen, «Frau Dr. [Wegman] findet es schrecklich einsam, dort allein zu sein.»

Allen Widerständen zum Trotz begannen im Januar 1925 die Ausschachtungen für den zweiten Bau, nachdem der Berner Bundesrat eine neuerliche Eingabe des ‹Aktionskomitees› abgelehnt hatte; maßgeblich, so der Bundesrat, sei die Solothurner Entscheidung. Der Architekturprofessor Ernst Fiechter von der Technischen Hochschule Stuttgart kam zu einer Bau-Besprechung mit Rudolf Steiner nach Dornach. Steiner aber war zu schwach, um ihn zu empfangen; immerhin durfte Fiechter das Plastilin-Modell des Zweiten Goetheanum im Glashaus lange betrachten: «Man konnte ein unbeschreiblich erhabenes Bauwerk ahnend darin erkennen.» Professor Fiechter setzte sich in der Folge an der Stuttgarter Hochschule, bei Kollegen, vor Studenten und in Fachzeitschriften Deutschlands und der Schweiz sehr für das Bauprojekt ein. Sein zehnjähriger Sohn Nik, der im Sommer 1924 eine schwere Augenverletzung erlitten hatte, die im Stuttgarter Klinisch-Therapeutischen Institut mit Unterstützung Steiners behandelt worden war, wurde jedoch in Dornach zu Rudolf Steiner gelassen; Steiner bat Wegman ausdrücklich darum, den Jungen an Epiphanias sehen zu können. Dieser schrieb später über die Begegnung im Atelier: «Ich hatte einige Meter allein durch den Raum zu gehen. Der Weg schien mir unendlich lang. Da stand die mächtige Holzplastik, die zuerst den Blick fesselte. Vor dieser Christusstatue stand das Bett von Rudolf Steiner. Je näher ich kam, desto feierlicher und größer wurde diese letzte Begegnung. Rudolf Steiner setzte sich im Bette auf und sah mich aus Augen an, welche eine unbeschreibliche Liebe ausstrahlten. Der physische Raum verschwand, eine Weite entstand, begleitet von leuchtender Wärme. Was gesprochen wurde, weiß ich nicht mehr. Dann legte er seine Hand auf meinen Kopf und sprach die Worte, welche mich seither begleiteten: ‹Es ist gut so.›»

Rudolf Steiner: Das Modell des zweiten Goetheanumbaues. © Dokumentation am Goetheanum, Dornach

Die letzten drei Monate

Allein im Januar 1925 entstanden sechs weitere, lange und wegweisende Texte Rudolf Steiners mit ‹Leitsätzen›, die die Menschwerdung aus der Welt der geistigen Hierarchien, aber auch das vergangene und zukünftige Schicksal der Erde und des Makrokosmos betrafen. Es war kalt in Dornach, eine Grippe-Epidemie ging um, das Atelier war nur durch einen kleinen Ofen beheizbar – und alles weiterhin überaus schlicht bis armselig. Dennoch las Rudolf Steiner noch einmal seine ganze ‹Geheimwissenschaft im Umriss› für eine Neuauflage mit neuem Vorwort durch – «Alles, was ich seither sagen konnte, erscheint, wenn es an der rechten Stelle diesem Buche eingefügt wird, als eine weitere Ausführung der damaligen Skizze.» In der zweiten Februarwoche übergab er einen rituellen Text für die Einsetzung Friedrich Rittelmeyers zum Erzoberlenker der Christengemeinschaft und Ita Wegman am 22. Februar zu ihrem Geburtstag eine zentrale Ephesus-Meditation. Fünf Tage später wurde Rudolf Steiner im Atelier 64 Jahre alt. «Hoffentlich kommt dieser Brief zeitig an und bringt Dir meine ganze Liebe und Ehrfurcht und Dankbarkeit für mich und die Menschheit», schrieb ihm Marie Steiner-von Sivers aus Berlin. Albert Steffen sprach im Saal der Schreinerei über Steiners Lebenswerk und las die Grundstein-Meditation und die Michael-Imagination. Die Stuttgarter Waldorfschüler sandten ein großes Geschenkpaket, darin sich auch eine von ihnen selbst gebundene Ausgabe der Mysteriendramen in rotem und blauem Leder befanden («mit Schnitt, Vorsatz und Rücken, wie kein Buchbinder von Profession es sauberer machen könnte», A. Steffen). Am selben Tag, dem 27. Februar 1925, gründete Hitler die NSDAP neu und hielt eine Rede auf «Deutschlands Zukunft».

Nach wie vor wollte Rudolf Steiner unbedingt weiterarbeiten – «Ich muss bald arbeitsfähig sein, denn was nach allem, das sich abgespielt hat, wäre, wenn durch meine Krankheit der Bau unterbrochen werden müsste, ist gar nicht zu ermessen», schrieb er am 5. März an Marie Steiner-von Sivers. Die Einschalung der Säulen begann bereits, ihr Guss war für Ende März geplant. Am 23. März hieß es jedoch in einem anderen Brief an sie: «Bei mir geht alles furchtbar langsam; ich bin eigentlich recht verzweifelt über diese Langsamkeit.»

Noch einmal empfing Steiner auch Graf Polzer-Hoditz und ihre Unterredung berührte erneut die Michael-Schule und deren Begründung auf die fragende Bitte Ita Wegmans hin: «Allein durch diese so gestellte Frage [Ita Wegman] wurde es ermöglicht, die Michaelschule auf Erden einzurichten. In dieser Schule liegt der Kern des Zukünftigen als Möglichkeit. Wenn dieses doch nur von den Mitgliedern verstanden werden würde: als Möglichkeit.» In diesem Zusammenhang sagte Steiner zu Polzer-Hoditz auch: «Wenn Sie die Klassenstunden, und wo immer auch, halten werden, bedenken Sie jederzeit, dass Sie während der Klassenstunde ja keinen lehrhaften Vortrag zur Verlesung zu bringen haben, sondern in einer Handlung stehen, eine Handlung zu vollziehen haben, die uns in Verbindung setzen kann mit dem Mysterienstrom aller Zeiten.» Noch am 28. März unterzeichnete Rudolf Steiner 13 blaue Karten für neue Hochschulmitglieder.

Auch seine Leitsatz-Aufsätze und den ‹Lebensgang› führte er bis zu seinem Tod weiter – bis zum vollendeten, letzten Aufsatz ‹Von der Natur zur Unter-Natur›. «Der Mensch muss die Stärke, die innere Erkenntniskraft finden, um von Ahriman in der technischen Kultur nicht überwältigt zu werden. Die Unter-Natur muss als solche begriffen werden. Sie kann es nur, wenn der Mensch in der geistigen Erkenntnis mindestens gerade so weit hinaufsteigt zur außerirdischen Über-Natur, wie er in der Technik in die Unter-Natur heruntergestiegen ist. […] Gerade durch das erkennende Aufnehmen derjenigen Geistigkeit, zu der die ahrimanischen Mächte keinen Zutritt haben, wird der Mensch gestärkt, um in der Welt Ahriman gegenüberzutreten.» Das Wort ‹erkennende› fügte Steiner noch zuletzt in sein Manuskript ein.

Am 29. März, als Hitler seinen ersten Besuch in Weimar machte, das er in den folgenden Jahren zu einer Prestige-Hochburg des Nationalsozialismus ausbaute (mit Gründung der SS und HJ in Weimar, des ‹Muster›-KZ in Buchenwald etc.) übergab Rudolf Steiner Ita Wegman die korrigierten Druckfahnen ihres medizinischen Buches, des ersten fachwissenschaftlichen Lehrbuches der Hochschule überhaupt. «Er war hoch erfreut, als er es mir übergab: ‹Bedeutsames ist in dem Buch gegeben worden.›» Steiner fragte, ob das Atelier nebenan bald fertig sein werde, «damit er für das innere Modell des neuen Goetheanums arbeiten könne». Am Tag danach, am Morgen des 30. März, starb Rudolf Steiner gegen 10 Uhr.


Buch Peter Selg: Rudolf Steiner Atelier, Die letzte Lebenszeit / The Final Years. 2019

Titelbild Rudolf Steiners Atelier, Schreinerei des Goetheanum. Foto: Walter Schneider

Fußnoten

  1. Alle Zitate des Artikels: Peter Selg, Die letzte Lebenszeit. Dornach, Oktober 1924 – März 1925. In: Peter Selg, Rudolf Steiner. 1861–1925. Lebens- und Werkgeschichte. Band 7. Arlesheim 2017, S. 2021–2115 bzw. Peter Selg, Rudolf Steiners Atelier. Die letzte Lebenszeit. Arlesheim 2019.
  2. Vgl. Peter Selg, «Weit über unser normales Bewusstsein hinaus …» Dornach, September 1924. Rudolf Steiners letzte Kurse. Arlesheim 2024.

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