Rezension zu Helmut Zanders Buch ‹Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik›.
In der Einleitung seines neuen Buchs ‹Die Anthroposophie› (1) schreibt der Historiker und katholische Theologe Helmut Zander: «Ich möchte versuchen, etwas von dem weiterzugeben, was ich von Anthroposophen und der Anthroposophie verstanden habe – und wie ich es verstanden habe. Aber diese Deutung bleibt ein Blick von außen.»
So bedauerlich dieser auf das Äußere beschränkte Blick ist, so erfreulich ist, dass Helmut Zander dies am Eingang des Buches öffentlich zugibt, um damit deutlich zu machen, was seine Beobachtungen und Schlüsse nicht leisten können. Diese ‹Entschuldigung› lässt sich allerdings auch als eine Strategie lesen, um legitimiert zu sein, nun alles nach seinem Äußeren zu beurteilen.
Denn das Buch ist ein Blick von außen auf die Äußerlichkeiten der Anthroposophen und der Anthroposophie. Was Anthroposophen, Rudolf Steiner und die Anthroposophie von innen bewegt, als geistig inspirierende Kraft, vernehmen wir nicht. Dieser inneren – und wesentlichen – Kraft der Anthroposophie kann Helmut Zander, trotz der beeindruckenden Lektüre, die er über Anthroposophie gesammelt hat, scheinbar dennoch nicht begegnen, und er kann sie wohl auch nicht wahrnehmen. Hier ist eine innere Bewegung notwendig, den geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweg zu gehen oder ihn zumindest gedanklich nachzuvollziehen – davor scheint Helmut Zander zurückzuschrecken. Damit verschließt er sich gegenüber einer anderen erkennbaren Wirklichkeit, als es die seinige ist, die ich als die materielle bezeichnen möchte. Die Existenz einer übersinnlichen Welt ist für Zander eine Sache des Glaubens, nicht des Erkennens. Damit versteht er die Anthroposophie nicht und geht an ihrer Kernaufgabe vorbei.
Was hat das Buch ‹Die Anthroposophie› dann noch zu bieten? Es ist eine alphabetische Kompilation in 48 Kapiteln über allerlei Fakten und Themen, die Zander mit der Anthroposophie in Verbindung bringt; kurz, eine Kartografie von insgesamt 275 Seiten, beginnend mit dem Buchstaben A wie Alnatura und abschließend mit W wie Weltanschauung/Religion/Wissenschaft. Banken, Heilpädagogik, Masern, Politik, Steiners Schriften, Unternehmen, Waldorfpädagogik usw., usw. passieren Revue. Aber weil Zander die lebendige Kraft der Anthroposophie nicht wahrnehmen kann oder will, sind seine Ausführungen eher Steine statt Brot. Zander greift stattdessen, weil er also die eigentlich treibenden Kräfte in den Ideen, Ursachen, Hintergründen und Motiven nicht in den Blick nehmen kann, zu Spekulationen und macht das Wörtchen ‹vermutlich› zu seinem Anwalt. Er verwendet auch Äquivalente davon in Formulierungen wie «es scheint», «scheinbar», «es könnte sein», «es dürfte sein», «möglicherweise», «vielleicht» usw. Wir begegnen damit Helmut Zander in seinen persönlichen Interpretationen, die aber meistens nur Zerrbilder der, wie er selbst schreibt, «hochkomplexen anthroposophischen Welt» liefern. Es stimmt, wenn Zander sein Buch «kein wissenschaftliches Buch» nennt, aber es erhebt dennoch den Anspruch, «die schwer überschaubare Welt der Anthroposophie» zu kartieren!
Der jetzigen Veröffentlichung gehen die Biografie über Rudolf Steiner (2016) sowie ‹Anthroposophie in Deutschland› (2008) voraus. Es ist das Verdienst Lorenzo Ravaglis, in seiner 440-seitigen Studie ‹Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes ‚Anthroposophie in Deutschland‘› (2) (2009) Zanders voreingenommene und defizitäre Bilder der Anthroposophie nachgewiesen zu haben. Auch auf der Website www.zander-zitiert.de kann man die lange Liste von falschen Behauptungen, falschen Kontexten, falschen Zitaten und dubiosen Quellen diesbezüglich finden – ebenso wie ihre Korrektur.
Drei Beispiele falscher Darstellungen
Dass Helmut Zander diese Kritiken aufnimmt, ließ sich aber bisher noch nicht beobachten, im Gegenteil, in der neuen Publikation gibt es wieder falsche Darstellungen. Hier drei Beispiele: Im Buch wiederholt er immer wieder und wieder, dass es bei Rudolf Steiner und der Anthroposophie Rassentheorie und Rassismus gebe («Steiners Rassismen»). Dazu verwendet er auch den Zwischen- und Schlussbericht (die er nachlässig miteinander verwechselt) der niederländischen Untersuchungskommission ‹Anthroposophie und die Frage der Rassen› (Schlussbericht, 1. April 2000, 720 Seiten (3)). Um seine Meinung zu belegen, gibt er eines der drei Forschungsresultate unvollständig – und damit unrichtig – wieder (4); die zwei übrigen vor allem wichtigen Schlussfolgerungen, die die Kommission nach vierjähriger Forschungsarbeit bezüglich der 89 000 Seiten der Gesamtausgabe zieht, werden nicht genannt, nämlich: Es gibt bei Rudolf Steiner und in der Anthroposophie keine Rassenlehre und keinen Rassismus. Mit dem Auslassen von Text und dem Verschweigen dieser beiden wesentlichen Forschungsresultate macht Zander es sich einfach, seine Meinung zu behaupten. Zweites Beispiel: Zander schreibt: «In 1998 installierte der französische Staat eine Kommission für den ‹Kampf gegen die Sekten› und stufte die Anthroposophie genau hier ein, als Sekte.» Dass der französische Richter im März 2000 verordnete, Anthroposophie sei keine Sekte, sondern eine Weltanschauung, und dass er den Vorsitzenden der Kommission, der die Anthroposophie in der Presse als Sekte betitelt hatte, deswegen zur Bezahlung von Bussgeld und von Schadenersatz verurteilte, verschweigt Helmut Zander. Drittes Beispiel: Um die von ihm beschriebene Distanzierung der Triodos-Bank von der Anthroposophie zu dokumentieren, schreibt Helmut Zander: «Bei der Triodos-Bank sucht man auf der Homepage und in den Prospekten einen Bezug auf die Anthroposophie oder gar auf Rudolf Steiner vergebens … Die völlig fehlenden Hinweise auf der Website zur Geschichte der Bank riechen aber ein wenig nach Verdrängung.» Die Hinweise findet man aber – zugegeben, man muss ein bisschen suchen (5) – auf der Website der Triodos-Bank Deutschland in der Satzung unter ‹Articles of association (statuten)/Preamble›: «The anthroposophical movement and the movement for religious renewal, the Foundation Christian Community, were the sources of inspiration for the people who established Triodos Bank. Triodos Bank is – entirely freely – associated with the philosophy initiated by Rudolf Steiner, anthroposophy, which movement represents a key principle for the work of Triodos Bank.» Also keine Distanzierung von der Anthroposophie!
Was ist für Helmut Zander die Anthroposophie? Ich zitiere: «Die Existenz des Geistigen ist das eherne Fundamentaldogma, letztlich aber gehören eine Menge weiterer Vorstellungen zumindest für viele Anthroposophen in den Tabernakel der Dogmatik: von der Initiation bis zur Reinkarnation. Und die Anhänger haben die Grundlage für neue Dogmen produziert: Steiners Schriften sind die kanonische Basis der Anthroposophie.» Solche Anhänger sind, nach Zanders Perzeption, «betonharte Dogmatiker im Bunker der Rechtgläubigkeit», «Versteinerte», «autoritär Strukturierte, für die Dogmen anziehend sind», «Unterworfene unter Steiners höhere Erkenntnis, die eine Maschine der Produktion von Autorität» sei. Doch es gebe, nach Zander, auch «liberale Diskutanten, offene Anthroposophen, einige freie Geister» neben den «Betonköpfen» und alle möglichen Zwischenstufen. Rudolf Steiner schreibt in ‹Mein Lebensgang›, er habe seine Geisterkenntnis aus der Geistwelt selbst unmittelbar herausgeholt (Kap. xxvi). Doch Zander sät Zweifel. Ich zitiere: «Für Außenstehende ist es kaum zu verstehen, dass ein Teil der anthroposophischen Welt in panische Aufregung verfällt, wenn sich nachweisen lässt, dass Rudolf Steiner Vorstellungen nicht unmittelbar aus ‹höheren Welten› bezogen hat, sondern tief mit seiner Zeit und Umwelt verbandelt war.» Für Zander steht fest, dass Rudolf Steiner diese Vorstellungen aus theosophischen Theorien, zeitgenössischer Naturwissenschaft, Okkultismus und Freimaurerei geholt hat, um daraus auf kreative Art seine eigene neue Weltanschauung zu fabrizieren.
Seelenkälte im Stil wohlwollender Objektivität
Das ganze Vorgehen Zanders zeigt zwei Richtungen, die man als Leser nur schwer zusammenbekommt. Einerseits schreibt er im Stil einer wohlwollenden Objektivität, beispielsweise wenn er der Anthroposophischen Gesellschaft ein vitales kulturelles Leben zuspricht und sagt, die Anthroposophie sei ein Global Player und eine «Großmacht im alternativkulturellen Milieu», was er schätzen gelernt habe. Die Anthroposophie sei inzwischen aus dem okkultistischen Getto der Jahrzehnte um 1900 ausgebrochen und in der Mehrheitsgesellschaft angekommen. In der Verbindung von Pluralität und Kohärenz ist die Anthroposophie für ihn «ein hochinteressantes Phänomen weltanschaulicher Vergemeinschaftung». Aber andererseits strömt umso mehr Seelenkälte aus dem Buch – vor allem zu Rudolf Steiner. Das Buch enthält nach meinem Urteil viel Unsinniges: falsche Autosuggestionen, halbe und ganze Unwahrheiten, falsche Zitate, Auslassungen von wichtigen Tatsachen und klärenden Schlussfolgerungen usw. Vieles bleibt in der Grauzone von Vermutungen und Möglichkeiten, wie beispielsweise im Kapitel ‹Politik› über mögliche obskure Einflüsse von Anthroposophen, sodass im Laufe des Buches das mehr oder weniger bewusste, unangenehme Gefühl entsteht, man habe es vielleicht doch mit einer gefährlichen, obszönen Bewegung zu tun. (6)
Zuletzt dann kann man sich fragen: Welche Zukunft sieht Helmut Zander für die Anthroposophie voraus? Er sieht sie auf dem Wege der Säkularisierung, der – in seinen Worten – «Ent-Steinerung». Ihre Dogmatik, die auch ihre Kraft sei und ihr Autorität gebe, verliere seiner Meinung nach an Kraft und viele Menschen in der anthroposophischen Bewegung hätten mit Anthroposophie nicht viel oder nicht mehr viel am Hut. Die Anthroposophie werde längerfristig ihren autoritär-übersinnlichen Überbau entfernen wie zum Beispiel Steiners Dogma von den Sieben-Jahres-Schritten der menschlichen Entwicklung (wodurch, wie Zander schreibt, in Waldorfschulen «Jahrgangskohorten zementiert» würden). In Zanders eigenen Worten heißt es da: «Die autoritäre Matrix wackelt, zumindest diese Bewegung kann man wahrnehmen; wie weit sie fällt, ist eine andere Frage.»
Es scheint, als ob Zander dieser von ihm so gesehenen Säkularisierung nachhelfen wolle. Die Anthroposophie müsse erkennen, dass sie kein ‹Erkenntnisweg› ist, sondern ein Glaube, dass geistiges Forschen und Geisteswissenschaft unmöglich sind. Also schreibt er: «Wenn Steiner und, mein Eindruck, praktisch alle überzeugten Waldorfpädagogen, der Überzeugung sind, dass der Mensch ein geistiges Wesen sei, liegt darin ein tiefer anthroposophischer Glaube – den man gut finden mag oder auch nicht.» Ich zitiere: «Anthroposophen können im Katholizismus einen Geistesverwandten sehen und gerade deshalb eine Konkurrenz.»
«Der hagiografische Umgang mit Rudolf Steiner bröckelt.» Die höhere Erkenntnis habe, nach Zander, nicht geholfen bei der Lösung historischer Rätsel, nur viele Mythen wie von der Entstehungsgeschichte der Welt bis zur Atlantis-Erzählung kreiert. Der Schulungsweg scheine nach seiner Meinung erfolglos zu sein, Steiners Esoterik gerate so in den Hintergrund und drohe vielleicht ganz verloren zu gehen … «Zugleich wäre das der Befreiungsschlag, mit dem die Waldorfpädagogik die Mauern gegenüber einer universitären Pädagogik niederreißen würde.» Damit würde ihr die Welt offenstehen … Zander skizziert die Versuchung einer großen Zukunft mit wachsendem Einfluss und Macht, wenn die Anthroposophie sich ‹ent-Steinern› würde, wenn Rudolf Steiner endlich aus seinem Werk entfernt werde. Das ist der rote Faden, der sich durch das ganze Werk zieht. Das Buch ‹Die Anthroposophie› zeigt die dreifache Verneinung des Erkenntnisweges, der ‹Wahrheit› der Geisteswissenschaft und des menschlichen ‹Lebens› darin. Die tiefere Stimmung und Botschaft des Buches findet in mir die Worte: «Ich kenne den Menschen nicht.» Und alsbald krähte der Hahn! (7)
(1) Helmut Zander, Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik. Verlag Ferdinand Schöningh, Padaborn 2019.
(2) Lorenzo Ravagli, Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes ‹Anthroposophie in Deutschland›.
(3) Antroposofie en het vraagstuk van de rassen; Eindrapport van de onderzoekscommissie. 2000, Antroposofische Vereniging in Nederland.
(4) Zander schreibt: «Immerhin sah sich die niederländische Anthroposophische Gesellschaft gezwungen, die rassentheoretischen Äußerungen Steiners aufzuarbeiten und zuzugestehen, dass es in Steiners Werk Aussagen mit ‹diskriminierender Wirkung› gebe.» Die Kommission schreibt diesbezüglich, dass in dem Gesamtwerk Rudolf Steiners 16 Stellen zu finden sind, die, würden sie heute durch jemand als eigenen Standpunkt ausgesprochen oder geschrieben, eine diskriminierende Wirkung haben. Dieser kursiv gesetzte Text ist essenziell; die Kommission verurteilt Rudolf Steiner nicht postum; damals wurde anders gesprochen als jetzt. Den kursiv gesetzten Text lässt Zander weg.
(5) Website Triodos-Bank Deutschland: unter ‹Service›, Triodos-Bank, Welche Philosophie vertritt Triodos-Bank, Satzung der Triodos-Bank.
(6) Dieses Gefühl bekommt man auch durch die nachlässige Ausgabe mit schmuddeligem Grauschleier der Illustrationen und vielen Tippfehlern in dem Text.
(7) Matth. 26, 34, Markus 14, 30, 72, Lukas 22, 34, 54-72, Joh. 13, 38, 18, 17, 25, 26.
Foto: Lukas Blazek