Ich ist die Stille des Bewusstseins

Ein Nachruf auf Alheidis Gräfin von Bothmer, 3.9.1928–25.4.2021


Fritz Graf von Bothmer spricht in seiner Gymnastik vom größeren Menschen, der durch Bewegung hereinragen kann. Wenn ich an Alheidis von Bothmer denke, sehe ich sie vor mir mit ihren großen Bewegungen als eine durchlebte, würdevolle Personifizierung von Weite, Höhe und Tiefe. Vor allem ihre Arme, Hände und ihr Antlitz waren in jahrelanger Praxis ‹gereift› und durchdrungen von den feingliedrigen Kräften der Raumdimensionen. Wenn sie die Gymnastikübungen machte, strahlte sie eine ruhige Souveränität aus, völlig eins mit sich selbst und dem Kreis der Bewegenden um sie herum. Die Begegnung mit ihr und dem größeren Menschen ist Begegnung mit erfülltem Schicksal. Bei Alheidis kann ich – auch heute noch – leibhaft erleben: Der «infinite größere Mensch» verbindet uns alle. Das hat sie sich in vielen Jahren hart erarbeitet. Unendliches und Endliches bedingen sich, sind Pole, stehen manchmal im Widerspruch zueinander. Das eingeengte Alltagsmensch-Sein, verbunden mit Bedingungen oder Festlegungen, machten Alheidis immer zu schaffen. Wenn dies überhandnahm, ist sie – bis zuletzt – ihren eigenen Weg gegangen. Wie offen, großzügig und verbindend sie in der Gymnastik war, so war sie privat eigenständig, unabhängig, autark, argwöhnisch. Sie gehörte nämlich der Generation an, die nicht viel darüber redete, wie sie die Macht und Ohnmacht des 20. Jahrhunderts tragen und ertragen musste, gekennzeichnet von Nationalismus, Krieg, Flucht, damaligen Ansprüchen an die Frau, mehreren radikalen Berufswechseln und Trennungen, oft nicht wissend, was sie erwartete.

Wahr und echt

Alheidis’ Lebensgang war zugleich verbunden mit einem untrüglichen Gespür für das, was wahr und echt ist. So auch in ihrer Begegnung mit der Bothmer-Gymnastik, welche durch ihren Mann Hans Jörg, dem Sohn Graf von Bothmers, in ihrem Leben auftauchte. Die ersten Wahrnehmungen der Gymnastik lösten in ihr zunächst eine große Skepsis aus. Erst die Bewegungen des Engländers Knut Ross bei einer Bewegungstagung 1964 führte sie zu der Gewissheit, dass diese Gymnastik etwas verkörperte, was sie suchte. Ihr eigener größerer Mensch erkannte das unmittelbar. Es gehört zu ihrem Wesen, dass sie dann wieder alles hinter sich ließ. Sie zog nach Stuttgart, um ihre Lehrerin Gretl Krause-Eppinger zu unterstützen und sich ganz der Bothmer-Gymnastik zu widmen, angefangen mit Kursen in fast allen Stuttgarter Ausbildungsstätten. Als sich 1977 – unglaublich, die ewig junge Alheidis war dann schon 49 Jahre alt – eine Handvoll unbedarfter junger Menschen aus den USA, Belgien, Holland und Deutschland in Stuttgart zusammenfand, um Bothmer-Gymnastik zu lernen, gab es noch keine veritable Schule. Alheidis empfand sich damals noch nicht als Leiterin oder Lehrerin, sondern als eine Mitsuchende, eine Lernende. Sie war sich nicht zu schade, zusammen mit uns Studenten und Studentinnen ‹die Schulbank zu drücken›, griechisch zu tanzen oder zu plastizieren, obwohl sie sich oft beharrlich für ungeeignet erklärte. Von der ersten Stunde an war ihr Unterricht aber gekennzeichnet von Freiheit in griechischer Einfalt und Klarheit, in der Umkehr aus dem Unendlichen bis in den Körper hinein, in stillem Dialog mit den Kräften des Raumes. Jeder fühlte sich von ihr ‹für wahr› genommen. Dabei ging sie uns in dialogischer Souveränität und Großzügigkeit voran im Erforschen dessen, was die Bothmer-Gymnastik noch alles zu offenbaren vermag. Das hat uns inspiriert und erfüllt. Alheidis von Bothmer wuchs sichtlich an den sich stetig erweiternden Aufgaben, nicht nur im Aufbau und in der Leitung der dreijährigen, internationalen Ausbildungsstätte, in intensiver Zusammenarbeit mit Jaimen McMillan, sondern auch in der Begegnung mit unzähligen Waldorflehrerinnen, Eurythmisten, Priesterinnen, Anthroposophen, Sport- und Bewegungsfreaks, verteilt über die ganze Welt.

Unendliches und Endliches bedingen sich, sind Pole, stehen manchmal im Widerspruch zueinander.

Gliedmaßenweisheit

Intellektualismus und Geltungssucht waren ihr zuwider. Ihr Beitrag war immer dienend, mit einer aus der Mitte stammenden flexiblen Ruhe in Bewegung. Das hatte eine lösende Wirkung. Sobald sie einer Persönlichkeit begegnete, die etwas vom größeren Menschen im Leben ergriffen hat, pflegte sie in aller Stille eine private, langjährige, treue Beziehung. So verbanden sie tiefe Freundschaften mit namhaften Priestern wie Friedrich Benesch, Gérard Klockenbring, Diethard Jaehnig in Sacramento, mit der New Yorker Chekhov-Theatergruppe um Ted Pue oder mit dem Anatomen Johannes Wilhelm Rohen. Sie beide inspirierten sich gegenseitig zu einem neuen Zugang zur Anatomie. Es war Professor Rohen, der sie auch ermutigte und unterstützte, ein Buch über die Bothmer-Gymnastik zu schreiben.1 Darin wird deutlich, wie tief Alheidis die vielseitigen Beziehungen zwischen körperlich-leiblichen und seelisch-geistigen Entwicklungen an der Bewegung und am Leben ablesen konnte. Dadurch konnte sie – neben der exakten Beschreibung der Bothmer-Übungen – nicht nur pädagogische, sondern auch therapeutische Gesichtspunkte zu jeder Übung anfügen. Sie setzte in aller Stille das fort, was Fritz Graf von Bothmer erahnt und gerne noch Rudolf Steiner gefragt hätte.2 Mehr noch: Wer diese Gymnastik über 30 Jahre täglich und ganztägig praktiziert, bewegt so viele Jahre in geistiger Substanz.

Von Alheidis ging eine Weisheit aus, die nicht vom Kopf, sondern aus weitreichenden Bewegungserkundungen mit ihren Gliedmaßen stammte. Jeder spürte, wie sie in verschiedenen tiefmenschlichen Ebenen und Schichten die Höhen und Tiefen, Weiten und Engen, das Fallen und Aufstehen mit ihren Wendungen durchdrungen hat. Das führte dazu, dass sie für viele Bothmer-Gymnasten und -Gymnastinnen wie nebenbei zu einer Lebensberaterin wurde, zur Mutter einer immer größer werdenden Bothmer-Familie. Jeder, der sie – auch nach der Schließung der Gymnastikschule – aufsuchte, wurde mit ihren weit ausgebreiteten Armen empfangen und mit Rat, Tat und Kuchen versorgt. Ihr Wirken entfaltete sich noch einmal in wunderbarer Weise als Gast an der Hochschule für Waldorfpädagogik, Stuttgart, und in der Durchführung eines letzten dreijährigen Stuttgarter Kursus in ‹Bothmer Movement International›. Typisch für sie: Erst nach Vorbehalt und erst durch eine explizite Anfrage verband sie sich noch einmal im hohen Alter in liebevoller Hingabe mit jedem einzelnen Studenten und jeder einzelnen Studentin. An Alheidis konnte man leibhaft wahrnehmen, wie diese Gymnastik in Einklang mit den Kräfteverhältnissen des Raumes, aufbauend, sogar verjüngend wirkt. Wenn sie sich bewegte, vergaß ich immer, wie alt sie war. Das änderte sich dann rapide, als sie endgültig mit der Gymnastik aufhörte. Unsere letzte, von ihr gewünschte Begegnung war geprägt von ihrem Entschluss zum Rückzug ins Eigene, ins Grenzenlose zu sich zurück. Welch tiefe Schicksalsmächte walten hier, wenn jemand bei der Kremation von Fritz Graf von Bothmer berichtete, dass er von sich sagte: «Wenn ich einmal zum Liegen komme, wenn es einmal zum Sterben geht, dann will ich nicht mehr hier in Stuttgart wohnen. Dann zieh ich vorher fort, weit fort, damit mich keiner sieht. Nein, das will ich nicht.»3 So ist auch Alheidis von Bothmer nach stillem Leiden in Krefeld, in der Nähe ihrer Tochter, verstorben. Ich empfinde es als ein großes Geschenk, dass ich im Laufe der vielen Jahre durch sie erfahren durfte, wie der endliche Mensch zugleich Bestandteil des unendlich größeren Menschen sein kann. Wenn ich nach ihrem Tod die Bothmer-Übung ‹Das Kreuz› mache, sehe ich sie vor mir und der Raum ist von ihrer anwesenden, unbeschränkten Freude erweitert und erfüllt.


Titelbild: Alheidis Gräfin von Bothmer.

Der Titel ist ein Zitat von Fritz Graf von Bothmer.

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Footnotes

  1. Alheidis von Bothmer, Die Bothmer Gymnastik. Pädagogische und therapeutische Anwendungsmöglichkeiten. Schattauer-Verlag, Stuttgart 2004.
  2. Fritz Graf von Bothmer, Die Biografie mit Selbstzeugnissen. Zusammengestellt von Alheidis Gräfin von Bothmer, in privater Herausgabe, 1. Auflage, September 1997.
  3. Fritz Graf von Bothmer, Gymnastische Erziehung. Hg. von Gisbert Husemann, Pädagogische Sektion am Goetheanum, Dornach 1959.

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