Den inneren Konflikten war sie die Klärung, der medialen Kritik und Häme bot sie mit dem Bekenntnis zu Öffentlichkeit die Stirn, der organisierten Anthroposophie wurde sie zum Geburtsmoment: die Weihnachtstagung von 1923. Jetzt, 100 Jahre später, stellen sich diese Fragen neu, ist dieser Impuls Rudolf Steiners und seiner Gefährten und Gefährtinnen noch einmal Inspiration, bevor er nach drei Generationen nun ganz Geschichte wird. Vier Voten, wie es mit und aus dem Gründungsmoment nun ins zweite Jahrhundert geht.
Der Weg vor uns
Johannes Kronenberg
Ein radikaler Akt der Geschwisterlichkeit, so könnte man die Neugründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft an Weihnachten 1923 verstehen. Die gewählte Form für diese Arbeit, eine kosmopolitische Gesellschaft, ein Verein für alle, beansprucht direkt das Recht der ‹Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit›. Dies wurde erst etwa ein halbes Jahrhundert vorher als Recht veranlagt und 1948 sogar als universelles Menschenrecht auf Weltebene deklariert. Es ist eine Form, in der das kulturell-geistige Leben frei walten darf, eine Form, die Jahrhunderte bekämpft wurde und jeden Tag an Relevanz gewinnt. Es ist eine Form, die danach fragt, Verantwortung zu übernehmen. Sie trägt die Aufgabe und Möglichkeit, die Anthroposophie als Schulimpuls in weitesten Sinne mit der Welt zu verweben und damit allen Zeitgenossen und -genossinnen Zugang zu den Fragen nach dem Geistigen in Mensch, Erde und Kosmos zu bieten. Jetzt, nach 100 Jahren, fragt sie ihre Mitglieder und Mitarbeitenden: Wie geht es mit der Arbeit? Wie geht es euch? Wo können wir Entwicklungsschritte machen? Sowohl in der Ausrichtung nach innen als auch bei den Aufgaben nach außen – denn der Weg vor uns ist weit.
Drei Impulse rund ums Geld
Marc Desaules
Mit der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft schuf Rudolf Steiner auch einen neuen Umgang mit Geld. Am 28. Dezember 1923 formulierte er: «Der Mitgliedsbeitrag wird durch die einzelnen Gruppen bestimmt; doch hat jede Gruppe für jedes ihrer Mitglieder […] an die zentrale Leitung am Goetheanum zu entrichten», so Statut 12. Diese feste Haltung der Vorstände der Landesgruppen fehlt heute oft noch in der Welt. Der Kreis der Schatzmeister deutet besonders darauf hin, damit mehr empfunden wird: ‹unser› Goetheanum. Dann am 31. Dezember: «Ich stelle das nicht als einen Wunsch, nicht als eine Möglichkeit hin, sondern nur als eine Illusion, aber eine sehr reale Illusion. Hätten wir die 75 Millionen Franken, wir würden tatsächlich das leisten können, was unbedingt zu leisten notwendig ist», so Rudolf Steiner, begeistert durch die Forschungsresultate von Lili Kolisko, aber auch real bewusst der Willenskräfte seiner Mitmenschen. Dieser Appell an die anthroposophische Forschung gilt heute mehr denn je. Haben wir Projekte für die nächsten zehn Jahre, die existenziell ums Überleben der Anthroposophie ringen? Heute könnte das Geld zusammenkommen. Und an Neujahr: «Ich glaube nicht, dass irgendetwas einzuwenden ist gegen das Schaffen einer solchen Form von Mitgliedern zu einem Goetheanum-Verein oder dergleichen, innerhalb dessen man nicht Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft ist.» Der ‹Fonds Goetheanum› in der Schweiz ist ein Versuch einer solchen losen Mitgliedschaft, er hat doppelt so viele Mitglieder wie die Landesgesellschaft.
Wie wir Zusammenhangschaffen
Karin Michael, Jean-Michel Florin
Lebenskräfte schwinden in Mensch und Natur. Wir erleben schon bei Kindern und Jugendlichen, dass sie nicht mehr gesund und kräftig gedeihen, sondern immer früher Erschöpfung und Burn-out sowie psychische Erkrankungen, insbesondere Essstörungen, Ängste und Depressionen, entwickeln. In der nie dagewesenen Zerstörung von natürlichen Ökosystemen sind auch Tiere und Pflanzen geschwächt und viele Arten sterben aus. Menschen leiden an zahlreichen Allergien und Unverträglichkeiten. Neue Infektionskrankheiten bedrohen Menschen und Tiere. Welche Wege können wir gemeinsam beschreiten, um die Lebenskräfte zu stärken?
Die Natur im Jahreslauf zeigt uns Urbilder dazu. Den Vortrag vom 13. Oktober 1923 ‹Das Miteinanderwirken der vier Erzengelwesen während des Jahreslaufs› (in ga 229) hat Rudolf Steiner vor 100 Jahren wie für unsere heutige Not gehalten. Er beleuchtet, wie mithilfe der vier Erzengel in Ernährung, Atmung, Nerven-Sinnes-System und Bewegung die ‹goldenen Eimer› (Goethe, ‹Faust›) für Gesundheit und Heilung gefunden werden können. In jedem Atemzug ist der Mensch heilsam mit der Pflanzenwelt verbunden – in Ernährung, Wahrnehmung und Denken müssen wir zur Gesundung Zusammenhänge und Ausgleich willentlich neu gestalten. In dieser Zeit, in der Konflikte, Trennungs- und Zerstörungskräfte sich behaupten, ist es uns ein besonderes Anliegen, herauszufinden, wie wir zusammenhangschaffende Kräfte und Gemeinschaftsbildung unterstützen. Diese enorme Aufgabe wird nur in fruchtbarer Zusammenarbeit und mit der darin möglich werdenden Hilfe der Engel gelingen.
Wille zu einer neuen Spiritualität
Nathaniel Williams
Bei der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft vor einem Jahrhundert betonte Rudolf Steiner den Zusammenhang zwischen Zeitgeist, völliger Offenheit und Transparenz. Er bezeichnete das als eine berechtigte Forderung der Zeit und skizzierte dies in den Statutenentwürfen für die Gesellschaft, die er auf der Weihnachtstagung 1923 vorstellte. Er schlug vor, dass diese Statuten einfach und klar sein sollten, sodass man sie in 15 bis 20 Minuten lesen und verstehen könnte, wobei Denkpausen eingeplant werden sollten. Er stellte sich eine Gesellschaft vor, die sich um Orientierungen und kontemplative Forschungspraktiken stellt, die Erkenntnisse über den Geist im Menschen und in der Welt hervorbringt.
Ins Zentrum der Gesellschaft wurde nicht eine Lehre, ein Programm oder ein Dogma gesetzt, sondern dort stand ein Wille, der zu einer neuen Spiritualität führen sollte. Alles, was sich aus dieser Arbeit ergab, die Erkenntnisse und praktischen Anwendungen, sollte für normales Denken verständlich sein, auch wenn die Methoden selbst Übung, Disziplin und eine Entwicklung des normalen Bewusstseins erfordern. Die Gesellschaft sollte Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihrem Geschlecht, ihrer sozialen Stellung oder ihrer Bildung aufnehmen. Die einzige Voraussetzung war, dass sie in einem Ort wie dem Goetheanum eine Berechtigung sahen. Diese Vision ist für so viele Menschen heute zugänglich, denn so viele Menschen vereint das Vertrauen und die Sehnsucht einer auf das Menschliche bezogenen Zivilgesellschaft.
Titelfoto Xue Li
Andere Fotos Xue Li; Marc Desaules, Quelle Anthroposophie.ch