Vor 30 Jahren fanden die Montagsdemonstrationen in Leipzig statt. Geblieben ist die Aufgabe, eine neue Gesellschaftsform jenseits von Kapitalismus und Sozialismus zu finden.
Wir standen zwischen Oper und Gewandhaus in Leipzig und hielten unsere Schilder in die Höhe. Auf ihnen stand: ‹Freie Schulen›. Vor allem junge Familien wünschten sich eine Alternative zum einheitlichen Schulsystem. Viele weitere, größere Formationen und Richtungen haben an den Montagsdemonstrationen im Umkreis der Friedensgebete teilgenommen – mit recht verschiedenen Anliegen. Unsere Gruppe bezog sich mit freien Schulen auf das Vorbild Waldorfschule.
Dass wir uns dafür öffentlich einsetzten, war nicht selbstverständlich, denn freie Demonstrationen waren in der DDR unüblich. Doch für uns war es einfach an der Zeit. Wir fühlten: Es muss sich etwas wandeln. Dabei war keineswegs garantiert, dass sich etwas ändern würde. Und doch hofften wir darauf. Uns war wichtig, dass wir unsere Anliegen friedlich vertreten.
Das anthroposophische Leben in der DDR fand weitgehend im Verborgenen und im Rahmen der Christengemeinschaft statt. Kam in eine Veranstaltung ein Unbekannter, konnte es sein, dass er ein Spitzel war. Und aus Weimar war ich gewohnt, dass wir bei einem Treffen (in diesem Fall in einem Privathaus) zeitversetzt einzeln eintrafen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dennoch waren die Montagsdemonstrationen in Leipzig für mich nicht mit Ängsten verbunden. Ich fühlte mich getragen und geschützt von der friedlichen Aufbruchstimmung.
Wir hatten uns also beim Gewandhaus getroffen, in meiner Erinnerung oft im herbstlichen Nieselregen. Aber das war uns egal. Uns war wichtig, dass wir uns zusammengefunden hatten, um uns für freie Schulen einzusetzen. Allmählich setzte sich der Zug aller Gruppierungen in Bewegung – ich war beeindruckt, wie viele Menschen wie beiläufig zusammengeströmt waren; für mich war es wie ein ruhiges Spazierengehen. Allerdings riefen wir beim Gebäude der Staatssicherheit «Sta-si raus!». Das ging ein paar Wochen so, jeden Montag.
Am 9. November 1989 hörte ich am Morgen im Radio, dass die Grenzen geöffnet seien. Ich dachte, mich verhört zu haben, und ging zu meiner Arbeit bei der Musikalienhandlung Oelsner. Im Schaufenster stand ein großer schöner Blumenstrauß mit einem Schild zur Freiheit. Es stimmte also: Die Grenzen waren geöffnet! Die Kolleginnen und Kollegen stießen mit Sekt an. Nun bekam die Hoffnung, dass sich etwas ändert und etwas Neues entsteht, Aufschwung. Ich war mir nicht sicher, ob die Grenzen offen bleiben würden. Doch die Züge nach ‹Berlin-West› und in die ‹BRD› waren übervoll, insbesondere an den Wochenenden.
Für mich bedeutete die Wende, dass ich meinem Wunsch, Eurythmie zu studieren, nachgehen konnte. Ich hatte zuvor immer wieder Eurythmiekurse besucht, die in einigen Städten der DDR, ebenfalls oft im Rahmen der Christengemeinschaft, stattfanden. Jetzt stand mir die Welt offen: Nürnberg, Berlin, Spring Valley wurden meine Ausbildungsorte.
Im Westen bemerkte ich, dass für mich als ‹Ossi› Anthroposophie und Eurythmie stark in einem innerlichen Raum gewachsen waren; wir konnten sie ja nicht nach außen zeigen. Zugleich fiel mir ein als selbstverständlich aufgefasster Wohlstand und ein Selbstbewusstsein auf, geübt darin, sich zu zeigen. Mir wurde bewusst, wie sehr man sich in der DDR gegenseitig geholfen hat und dass es einen starken Zusammenhalt beispielsweise unter den Nachbarn gab. Zum ‹goldenen Westen›, wo alles glänzt, wo man alles bekommt, wo man alles machen kann und alle Freiheit hat, gehörte auch der ‹schöne Schein›. Verheißungen wie Selbstbestimmung und Freiheit stießen auf einen Kapitalismus, der allem übergestülpt wurde und zur Schließung von Werken und zur Entlassung von Arbeitskräften führte. Dass die Werte des Lebens in der DDR so wenig Wertschätzung erfuhren, nichts zählten und übergangen wurden, irritierte, verletzte. Eine der Redewendungen gegenüber aus dem Westen kommenden selbst ernannten ‹Experten› war: «Kommt der Wessi und erklärt dem Ossi, dass man ‹Laffe› mit zwei ‹f› schreibt …»
Ich bin froh, dass ich den ‹Osten› und den ‹Westen› und diesen in verschiedenen Ländern erlebt habe. Die geistige Substanz, die ich in der Zeit der DDR innerhalb der Christengemeinschaft und von Freunden aufgenommen habe, trägt mich noch heute, ebenso die Unterstützung vor und nach der Wende durch die Menschen aus dem Westen, die unermüdlich in die DDR kamen, Kurse gaben und anthroposophische Bücher oder Heilmittel mitbrachten.
Und dann bildeten initiative Menschen tatsächlich Waldorflehrer aus und gründeten Waldorfschulen! In diesem Feld war also etwas erreicht. Zudem gab es jetzt die ‹Anthroposophische Gesellschaft der DDR›. Doch das Bedürfnis nach einer neuen Gesellschaftsform jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, die Arbeit an einem gemeinsamen Dritten, womöglich durch Einbeziehen der Anregungen zur ‹Dreigliederung des sozialen Organismus›, wurde vom pragmatisch-politischen Handeln nicht aufgegriffen.
Bild: Montagsdemonstration in Leipzig, 27.9.1989, Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv, 183-1989-1127-033