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Höhere Erkenntnis im Sommer

Der Sommer ist der Tag der Sinne. Von den Übungen an Naturobjekten in ‹Wie erlangt man …› bis zu Übungen an Kupfer in ‹Das Initiaten-Bewusstsein› bringt Rudolf Steiner Anregungen für einen Schulungsweg an und mit der Sinneswelt. Es geht darum, den Geist in der Sinneswelt mitzuschauen. Steiners sinneszugewandter Schulungsweg, der zur Wesensbegegnung in der Natur führt, ist ein Schulungsweg des Sommers. Einer, der draußen stattfindet. Verliere dich, um dich zu finden.


«Wir müssen […] lernen, dasjenige, was uns sichtbarlich entgegentritt, wie eine Art von Sprache zu empfinden. […] der Morgen sagt uns etwas anderes als der Abend und der Mittag sagt uns etwas anderes als die Nacht; ein mit Tauperlen besetztes Pflanzenblatt sagt uns etwas anderes als ein trockenes Pflanzenblatt.» (Rudolf Steiner in GA 190, 29.3.1919)

Steiner schreibt schon 1904, die Hälfte der Lotusblüten seien bereits offen (ohne bewusst erworben zu sein). Wir sind also bereits zu 50 Prozent hellsichtig. Wir sind eben beides, sinnliche und übersinnliche Wesen: inkarnierter Geist. Und damit in beiden Welten zu Hause und wahrnehmungsfähig – anfänglich. Auffällig ist: Steiners Übungsbeispiele sind von Beginn seiner Lehrerschaft an fast ausschließlich an der Natur gegeben (etwa in ‹Wie erlangt man …›). Von der Samenkornübung über die Ton-Laut-Wahrnehmungsübung oder die Wachsen-und-Verwelken-Übung geht es darum, den Geist mit-‹sehen› zu lernen, an der Natur – ganz im Sinn eines Miterlebens und Mitwahrnehmen-Lernens des Übersinnlichen im Sinnlichen. (1) Das ist genial, denn: «Natur, dein mütterliches Sein, ich trage es in meinem Willenswesen.» Wir sind auch Natur und Wille. Anhand dieser Schicht, wo sich der Übergang zwischen innen und außen am klarsten nachvollziehen lässt, können wir Geist ‹erwischen›. Im Kurs ‹Das Initiaten-Bewusstsein› (GA 243) tönt es radikal und als ob es ganz einfach wäre: nicht jahrelanges, geduldiges Mantren-Meditieren, sondern man betrachte die Metalle, etwa das Kupfer, schlüpfe seelisch hinein und befinde sich im Bereich der Verstorbenen und, so etwa in GA 231, in Kommunikation mit der zweiten Hierarchie, welche mit einem spricht wie mit einem Freund. (2) Ganz so einfach ist es wohl nicht. Auch hier braucht es vor allem Mut und innere Anstrengung. Aber es kompliziert und unerreichbar zu halten, täuscht über die verblüffende Direktheit und Machbarkeit hinweg, welche Steiner hier, 1923/24 vorzuschweben schien. (3)

Wenn Geist mitten unter uns ist, miterlebbar in der Sinneswelt, müssen wir auch dort einen ‹Schulungsweg› betreiben. Hier, im Äußeren der Natur erkenntnisfähig zu werden, kann erst einmal heißen, Ebenen zu unterscheiden. Dazu regt Steiner an, in der Sinneswahrnehmung differenzieren zu lernen nach den Seinsebenen Imagination, Intuition und Inspiration – ganz im Hier und Jetzt, in jeder Wahrnehmung, ausnahmslos. (4) Gemeint ist ein Schulungsweg, der ganz diesseitig, irdisch bzw. sinnesliebend ist, einer, der nicht im Kämmerchen stattfindet, sondern etwa angesichts des Frühstückzubereitens, angesichts eines Sonnenuntergangs oder einer Kinderbesprechung möglich ist – denn alles Sinnliche ist zugleich Geist.

Die Erkenntnis ist hier abhängig von der Wahrnehmung, nicht vom Denken. Wobei im Wahrnehmen ja auch ein Wille liegt und man das Denken auch – aber erst im Nachhinein zum Festhalten und Bewusstwerden des Erlebten – benötigt. Die Seele ist tätig, denn sie soll ‹hineinschlüpfen› in die Dinge und dann, gleichsam von innen, in den Dingen, die uns in der Sinneswahrnehmung gegeben sind, erlebnisfähig werden.

Eine inkarnierte und wesenhafte Welt

Welt erscheint so in mir und durch mich. «Die Welt fängt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort» ist ein schöner Ausdruck dafür. Die Welt wird erst lebendig, wesenhaft, wenn mir ein sinnlich-übersinnlicher Blick auf die Welt gelingt. Ohne diesen bleibt die Welt stumm und tot, da ich entweder tote Sinnesdaten, mit denen ich nichts anzufangen weiß, habe (Objektivismus) oder rein innerliche Erlebnisse (Subjektivismus) ohne Bezug zur Welt, ob nun als geistige Welt gedacht oder als materielle äußere. (5)

Diese zwei Gefahren, die in unserem heutigen distanzierenden, trennenden, aber klaren, bewussten Denken liegen, bedeuten, dass wir meist entweder im Äußeren stecken zu bleiben drohen (‹dort ist dies und das, unabhängig von mir›) oder im Inneren gefangen sind (‹diese Empfindung ist nur subjektiv›). Zumeist geschieht uns beides. Man sieht etwas, vermeintlich ist es da draußen, und ich habe ein vermeintlich nur subjektives Erlebnis daran. Gefahren sind es, weil beide Denkweisen uns aus der Wesenssphäre herausschmeißen und unser Potenzial als Mitschöpfer Mensch negieren. Steiner nennt die durch den Menschen geschöpfte Welt die Sohneswelt. Sie entsteht als neue Wirklichkeit nach der Formel: In mir, durch mich, anhand des sinnlich Erscheinenden. ‹In mir› heißt hier natürlich nicht innerhalb meines Subjektes, sondern als Objekt der Welt, aber individuell ergriffen.

Das Zauberwort ist das Erkennen der Zusammengehörigkeit beider Seiten (der äußerlichen, sinnlich gegebenen und der innerlich erlebten) durch mich in mir, schaffend! Untersucht man diesen Schöpfungsakt aber genauer, bemerkt man: Ich ja, aber nicht ich alleine, sondern ‹es› in mir. Das ‹in mir, durch mich› darf nämlich wiederum nicht als von mir willkürlich erzeugt und an mir haften bleibend gedacht werden, sondern eher als Gnadenakt, von dem ich ergriffen werde – aber dennoch mitgestaltend, aktiv, produktiv. So wie ich, im Sommer vom Kosmos geküsst, mich selbst finden kann als Gnade. Aber damit sich das ereignen kann, braucht es eben meine Beteiligung, meine Vorbereitung, mein Bewusstsein, meine Bereitschaft, mich als Bühne, auf der das Ereignis als Weltgeschehen zur Aufführung kommen kann, bereitzustellen. Es geht darum, mich zu begreifen als der, der sich kreativ zur Verfügung stellt, damit sich Welt ereignen kann. Zugleich ist es aber auch Wahrnehmen von etwas, das wie ein Appell an mich zur Aufführung drängt.

Welt als immer schon sinnlich-übersinnlich aufzufassen, erzeugt ein Lebensgefühl, welches geistig, wesenhaft empfunden nicht fremd und nicht fern ist. Es bewirkt eine Blickwendung, die innerlich und äußerlich zugleich das Geistige immer mitempfinden und nach und nach zu differenzieren lernt. Die Anmutung einer heiter-innerlichen Stimmung im Hochsommer unter einem Apfelbaum wird zu einem Ort, der als Leib eines Wesens ‹geschaut› werden kann. Die vermeintlich nicht ohne Weiteres zugänglichen geistigen Wesen werden greifbar, artikulierbar: erst brabbelnd, stammelnd, nach Worten ringend – denn wir haben hierfür bisher kein Wortreservoir –, aber mit der Zeit immer konturierter und benennbarer. Wesen werden in ihrer Leiblichkeit ganz diesseitig erlebbar. Wobei Erleben und Erkennen (wie es Künstler tun, die im Schaffen erkennen) eins werden. Wir betreten eine Welt, wo Kunst, Wissenschat und Religion sich aussöhnen. Eine Welt, in der Mensch und Welt in ihrer Zusammengehörigkeit immer deutlicher werden, eine Welt, die neu durch den Menschen geschaffen wird, eine lebendige Welt, eine Sohneswelt. (6)

Höhere Wesen und ihr Leib

Beispiel Sprache

«In der Sprache lebt etwas so Wesenhaftes wie im Menschen selbst. Was mit der Sprache an den Menschen herankommt, darinnen leben Wesen, die durchaus zu ihrem gewöhnlichen Leben das Geistselbst so ausgeprägt haben wie der Mensch die Ich-Organisation. Diese Wesen inspirieren uns; diese Wesen leben in uns dadurch, dass wir sprechen.» (GA 317, S. 143)

Mit dem Sprachgeist (Hierarchie der Engel) sind wir ‹verwachsen›. Dieser inkarniert sich, sozusagen nach unten in uns, in diesem Fall in unserer Sprache, wie wir uns auch nach oben in das Wesen hinein entwickeln, mittels Spracherwerb und Sprachgestaltung, durch Sprache, was sie uns ist, bewusst oder auch unbewusst. Wir (der Mensch) und der Sprachgeist bilden zusammen in einer ‹Schnittmenge› einen sinnlich-übersinnlichen Leib, den wir Sprache nennen. Der Mensch wie auch die höheren Wesen sind voneinander abhängig, bilden eine Koexistenz, die menschliche Sprache bildet die Lebensgrundlage eines Wesens bzw. das Wesen macht es möglich, dass wir Sprache haben. Die Sprache kann wie ein sinnlicher Leib angesehen werden, in dem ein höheres Wesen sich inkarnieren kann (bzw. es immer tut – je nach Sprache und Art der Sprache eben unterschiedliche Wesenheiten). Dieser Leib ist sinnlich wahrnehmbar. Nehme ich Sprache auf diese Weise wahr, sinnlich-sittlich erlebend, zugleich wahrnehmend wie produzierend, versetze ich dieses höhere Wesen in den Bereich der Wirklichkeit, in diese Welt. Das ist wie Magie und in der Wahrnehmung Hellsichtigkeit.

Beispiel Vererbung und Sozialisation

Im Vortrag vom 24.11.1923 von GA 232 schildert Rudolf Steiner den ‹Leib› von Ahriman und Luzifer. Er charakterisiert diese Wesen nicht abstrakt, sondern beschreibt Naturphänomene und wie wir daran diese Kräfte in uns bzw. der Welt auffinden können. Oder umgekehrt ausgedrückt, er beschreibt Kräfte, mit denen wir leben, die uns bestimmen, aber auf die wir auch wirken können, und nennt diese dann Ahriman und Luzifer. Steiner beschreibt die Vererbungskräfte, die leibliche Grundlage der Vererbung, die Genetik, und wie wir damit an die Vergangenheit, das Gewordene geknüpft sind. Diese Kräfte ermöglichen uns den Leib, schränken uns aber auch ein, da wir sie als ‹Altlast› vererbt bekommen.

Alle Sozialisierung, Erziehung, Prägung durch die Umwelt ist eine andere Kraft, mit der wir derjenige werden, der wir auch sind. Diese Beeinflussung verbindet Zukunft mit uns, es sind Einwirkungen, welche die Vererbungskräfte modifizieren, in denen wir aber auch wenig frei sind. Ahriman hat seinen ‹Leib› in der ‹DNA› (aber nun bitte nicht als Moleküle vorgestellt!) bzw. den Vererbungskräften, die uns an die Erde fesseln, uns aber auch einen Leib als Inkarnationsvoraussetzung ermöglichen. Luzifer wirkt vom Umkreis auf uns in Erziehung, Bildung und Eigenständigwerden durch Erlebnisse, die wir erfahren. Er bildet seinen ‹Leib› in dieser ‹Prägung›, die sich ebenfalls, wie die Vererbungseigenschaften, zu unserer Person verbindet. Beide Kräfte sind in uns. Ja, sie sind wir. Vertiefe ich mich wahrnehmend in das, was Vererbung in mir ist, komme ich zu einer Ahriman-Erkenntnis. Vererbungskräfte werden wesenhaft erlebbar. Vertiefe ich diese Erlebnisse z. B. meditativ, verdichte ich mit anderen Worten ‹Vererbung› imaginativ, inspirativ, intuitiv, werde ich dem Wesen Ahriman begegnen. Die Quelle dieser ‹höheren› Erkenntnis ist eine sinnlich-übersinnliche, die ich streng genommen nie verlassen habe. Ohne exakte Beobachtung und Wahrnehmung, ohne eine Phänomenologie des Leibseins keine übersinnliche Erfahrung von Ahriman. Ahriman bliebe ohne diese ein Abstraktum. Geistige Wesen haben alle einen Leib, sie sind unsere Sinneswelt. Alles Sinnliche ist Geist. Diesen Satz vom Beginn dieses Aufsatzes kann man jetzt anders lesen.

Beispiel Wolken

Der genannte Vortrag endet in einer weiteren Leibbeschreibung von Ahriman und Luzifer in den Wolkenbildungen. Steiner schildert den Nebel, wie er sich auftürmt in Wolken, die doch irgendwann an eine Grenze stoßen, wo sie nicht weiter aufquellen können, wo sie sich auflösen oder abregnen, um wieder zur Erde abzusteigen. Dies sei Ahriman – sein Wesen ist dort sinnenscheinbar, ja ist die Wolke. Luzifer macht sich geltend in den Licht- und Farberscheinungen der Wolken. Etwa im Abendrot, wenn die Wolken zu einem Farbspektakel werden. Dies seien seine Allherrschaftsträume, flüchtig und selbstgenießerisch über allem schwebend.

So kann man in jedem Phänomen, schaut man auf seine Wesensseite, Seinsebenen der geistigen Welt erkennen bzw. durch diese Art der Anschauung realisieren.

Steiners Beschreibungen der Erdentwicklung etwa in der ‹Geheimwissenschaft›, welche durch bestimmte hierarchische Wesen vorangetrieben wurde, ist ebenfalls eine Leibbeschreibung. Etwa die Geister der Form: Ihr Leib, der natürlich auch Wesensausdruck ist, ist eben Form. Alle wahrnehmbaren und denkbaren Formen sind Leib der Exusiai – bzw. ihr Aspekt, über den wir inkarniert mit ihnen Zusammenhänge bilden. So werden diese Wesen lebendig und aus ihrer Abstraktheit als Jenseitige oder ‹Höhere› befreit und letztlich erst wirklich. Welterkenntnis ist dann Selbsterkenntnis und umgekehrt, ganz im sinnlichen Hier und Jetzt.


(1) Ganz so, wie es in ‹Die Sendung Michaels› (GA 194) heißt, das Geistige in der Sinneswahrnehmung mitsehen zu lernen (wörtlich: «Wenn wir in der Natur das Seelische mitempfinden lernen mit der Sinnesanschauung, dann werden wir das Christus-Verhältnis zu der äußeren Natur haben. Da wird das Christus-Verhältnis zu der äußeren Natur etwas sein wie eine Art geistigen Atmungsprozesses.»). Diese Art zu schauen ist spätestens ab 1923 Steiners explizites Programm.

(2) In GA 231, Vortrag vom 18.11.1923. Das sinnlich-übersinnliche Durchdringen durch physische Oberflächen wird bei Steiner zum Motiv: «Wenn aber der Mensch dann mit dem imaginativen Bewusstsein an dieses fast härteste Gestein der Erde herantritt, dann dringt er gerade bei diesem härtesten Gestein unter die Oberfläche des Mineralischen. […] Man möchte sagen: Überall hinein in die Tiefen des Gesteins setzt sich die seelische Wesenheit des Menschen fort […]. Dadurch erweitert man das eigene Sein in den Kosmos hinaus, dadurch fühlt man sich als eins mit dem Kosmos.» (GA 232, 30.11.1923) Zum Kupfer im Speziellen: «Geht man auf die Form der Metalle, kommt man zu den Götterwesen. Geht man auf die Metallität, auf die Substanzialität, dann kommt man in die astralischen Welten hinein, in die astralische, in die Seelenwelt.» (GA 243, 13.8.1924)

(3) Siehe Aufsatz zu Steiners Aufruf an die Lehrer, zur sinneszugewandten Geistesschulung, in Renatus Derbidge: Rudolf Steiner und die Westlichen Mysterien, ‹Die Drei›, 12/2015, S. 11–18. Zum ‹Saturnweg›, dem mit der Kupferübung eingeleiteten neuen westlichen, sinneszugewandten Schulungsweg, in Dirk Kruse: Die Westlichen Mysterien als Anreger neuer Wege der Anthroposophie. Beide unter: www.sehenundschauen.ch

(4) Deutlich in diesem Zitat: «In die Lage kommen muss der Mensch, hinzuschauen auf den Baum, auf den Fels, auf die Quelle, auf den Berg, auf die Sterne, in die Lage kommen muss er, hinzuschauen und […] in der Verstärkung seiner eigenen Seelenkräfte es dazu zu bringen, dass ihm erscheint aus jeglichem physischem Dinge die dahinterstehende geistige Tatsache oder geistige Wesenheit.» (GA 238, 5.9.1924)

(5) Siehe Hans-Christian Zehnter: ZeitZeichen, Dornach 2011.

(6) Zum Begriff ‹Sohneswelt› bei Steiner siehe GA 201, Vortrag vom 16.5.1920.

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