Der französische Philosoph und Ökologe Bruno Latour ist am 9. Oktober 2022 gestorben. Sein Werk und sein Denken leisten einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen weltweiten Denkströmung, die es der Moderne ermöglichen soll, die Demut der Erde wiederzufinden und das Feld der Erkenntnis auszuweiten.
«Bruno Latour ist tot, und dieser Tod erscheint aufgrund der Art und Weise, wie er sich in die Geschichte einreiht, als unzeitgemäß», schreibt der Philosoph Maniglier in einer Hommage.1 Einige, die Latour kannten, sagen, dass er wirklich seinen Tod vorbereitet, ihn aber auch so weit wie möglich hinausgeschoben habe, weil er den Eindruck hatte, der Welt noch einiges geben zu müssen. So kann man seine letzten Interviews auf Arte2 sowie seine letzten Bücher, die dicht nacheinander erschienen sind, wie sein Vermächtnis lesen.
Schon 2007 wurde Latour als einer der zehn am meisten weltweit zitierten Denker genannt. Mit seinem Tod verlieren wir eine wesentliche Figur der Philosophie und der Ökologie, gerade in einer Zeit, in der wir mehr denn je Menschen benötigen, die neue Wege des Denkens eröffnen können. Letzteres erfordert, dass man nicht in einer einzigen Fachdisziplin verhaftet bleibt. Latour war gleichzeitig Soziologe, Anthropologe, Philosoph, Ethnologe, Ökologe usw. Dies hat ihn für viele in ihrem Fach eingesperrte Akademikerinnen und Akademiker suspekt gemacht: Man kann doch nur Dilettant sein, wenn man durch so viele verschiedene Fächer geht! Aber ein Rückblick auf seinen Lebenslauf lässt dennoch einige Leitfäden erkennen, die essenzielle Türen für eine ‹bescheidenere› Wissenschaft geöffnet haben.
Die Illusion der Moderne
Zuerst hat Latour genau untersucht, wie das westliche (moderne) Denken die Erkenntnis aufbaut und die Objekte und Wesen definiert. In seinem Buch ‹Wir sind nie modern gewesen› (Suhrkamp) entlarvt er die Illusion der modernen Wissenschaft, die sich als die einzig Objektive darstellt. Er hebt verschiedene Perspektiven und Aspekte hervor: zuerst, dass wir gar nicht viel anders sind als die früheren Kulturen, obwohl wir das immer noch meinen. Maniglier schreibt dazu: «Die große Legende über die Erfindung der modernen Wissenschaften besteht einfach darin, dass sehr intelligente und intellektuell sehr freie Menschen (wie Galileo Galilei oder Newton) Mittel und Wege gefunden hätten, die Realität so zu beschreiben, wie sie ist, ohne uns von unseren Vorurteilen oder unserem Aberglauben parasitieren zu lassen.»3
Latour zeigt, dass es keine rein ‹objektiven› wissenschaftlichen Fakten, rein aus dem Sammeln der Ereignisse der Natur, gibt. Jedes Phänomen ist Teil verschiedener (sozialer, politischer, wirtschaftlicher usw.) Kontexte, die man ethnografisch studieren muss, um den ganzen Rahmen zu kennen. Und unsere sogenannte objektive Wissenschaft ist in diesem Sinne gar nicht höher zu bewerten als alle früheren oder anderen Weltanschauungen (sein Freund, der Ethnologe Philippe Descola, würde sagen ‹Kosmologien›).
Mit dieser Integration des Kontextes und der genauen Selbstbeobachtung des Wissenschaftlers erscheint hier eine Nähe zum goetheanistischen Ansatz.
Die Moderne ist nicht ‹geerdet›
Latour betont, dass der Begriff der Modernität und der Glaube an die Moderne (inklusive Kapitalismus, Kolonialisierung, Industrialisierung usw.) uns daran hindert, genau zu beschreiben, was seit der Renaissance geschehen ist, als diese neue Weltanschauung immer weitere Kreise über die Welt gezogen hat. Er zeigt auf, wie die Dualität Natur – Kultur, Subjekt – Objekt, Wissenschaft – Mythos, Personen – Dinge usw. durch die Moderne gedanklich aufgebaut wurde und uns so von der irdischen Wirklichkeit getrennt hat, dass wir jetzt ‹ungeerdet› leben.
Für ihn besteht die große Aufgabe darin, die bodenlos gewordenen Modernen (wir alle) landen zu lassen.4 Wir müssen die Füße wieder auf den Boden stellen. Aber wie können wir wieder terrestrisch werden, und welche Art terrestrische Wesen sind wir Menschen im Vergleich zu den anderen terrestrischen Wesen? «Die Herausforderung der Gegenwart besteht darin, die modernen Lebensweisen wieder in die irdischen Grenzen einzubetten.»5 Landen bedeutet daher, die Pluralität der Zukunft der Erde wiederzueröffnen. Wie können wir auf derselben Erde mit anderen Formen des irdischen Wohnens koexistieren, ohne sie auszurotten oder zu unterwerfen?
Dazu bezieht sich Latour auf die Arbeit von James Lovelock und Lynn Margulis, die unsere Erde, Gaia, als aktive Wesenheit sehen, die sich in enger, sogar zirkulärer Beziehung mit allen Lebewesen entwickelt hat.
Integration von nicht menschlichen Akteuren
Ein weiterer wichtiger Begriff von Latour ist der des nicht menschlichen Akteurs. Dieser Begriff baut eine Brücke zur biodynamischen Landwirtschaft. Wie der Forscher Jean Masson beschreibt: «Wenn die Umwelt als nicht menschlicher Akteur anerkannt wird, ist es nicht mehr die Forschung, die die Fragen stellt, sondern die Umwelt, die die Disziplinen herausfordert, die angesichts der Komplexität eine Form der Transdisziplinarität fördern. Das ist der Gedankengang der Biodynamik. Das umfassendere Konzept des nicht menschlichen Akteurs anzuerkennen, ist zunächst eine Art, die Augen zu öffnen. […] Dies würde ermöglichen, von einer Denkweise, die sich auf den Kampf gegen Krankheitserreger, gegen Stress, gegen den Klimawandel und gegen alles, was den Entwicklungszielen im Standardregime zuwiderläuft, konzentriert, zu einer umfassenderen Denkweise überzugehen, die sich nicht auf ‹damit umgehen› reduzieren lässt, denn das wäre ein Diskurs der Verlierer. Die Umwelt als nicht menschlichen Akteur zu legitimieren, bedeutet, die Komplexität genauer zu berücksichtigen und sie nicht zu einem Hindernis für das Verständnis und das Handeln, sondern zu einem Vorteil zu machen. Der nicht menschliche Akteur wird nämlich zu einem Gesprächspartner, einem Interaktanten.»6
Ein lösungsorientiertes Denken
Latour ist durch seine anregende Denkweise in letzter Zeit zu einem der Vordenker der neuen Anthropologie der Natur geworden, die sich weltweit, allerdings zum Teil unabhängig voneinander, entwickelt hat. Donna Haraway, Eduardo Viveiros de Castro, Anna L. Tsing, Eduardo Kohn, Philippe Descola, Vinciane Despret, Emanuele Coccia gehören zu dieser neuen Bewegung, die eine neue Ökologie entwickelt, wo der Mensch sich nicht mehr der Natur gegenübersieht, sondern als Teil der Natur versteht.
Grundsätzlich wollte Bruno Latour immer versuchen, Wege zur Lösung der Probleme zu finden. Das ist ein großer Unterschied zu vielen Intellektuellen, die die heutigen Krisen und Probleme sehr genau und glänzend analysieren, aber kaum Wege zu Lösungen zeigen können.
Was Freude macht, ist, dass man auf die Probleme einwirken kann – das war ein Credo von Latour. Er selbst strahlte viel Freude aus und arbeitete immer gern mit ganz verschiedenen Menschen zusammen: Philosophen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen usw. Bis an sein Lebensende ist er offen und entdeckungsfreudig geblieben. Es lohnt sich wirklich, sein Werk zu entdecken!
Titelbild Bruno Latour 2015 während eines Vortrages im Museum Quai Branly in Paris. Foto: CC by SA 4.0
Footnotes
- AOC, P. Maniglier, Bruno Latour : une mort à contre-temps, une œuvre pour l’avenir. 11.10.2022.
- Arte, ‹Im Gespräch mit Bruno Latour›, in zwölf Teilen.
- AOC, P. Maniglier, Bruno Latour : une mort à contre-temps, une œuvre pour l’avenir. 11.10.2022.
- Das terrestrische Manifest. Suhrkamp, 2018.
- AOC, P. Maniglier, Bruno Latour : une mort à contre-temps, une œuvre pour l’avenir. 11.10.2022.
- Masson Jean, biodynamie-recherche.org.
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Ich versuche die Texte der Wochenschrift online zu lesen aber es meldet mir immer das ich die Gratisartikel schon gelesen habe, obwohl ich ein Jahresabonnement bezahlt habe.Das finde ich gerade etwas frustrierend.
M. Brönnimann