Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die Gehirne von Sprecherin und Zuhörer koppeln. Ein Beleg für den Gedankensinn?
Rudolf Steiner beschreibt den Gedankensinn als den Sinn für das Wahrnehmen der Gedanken der anderen Menschen. Dieser Sinn wird besonders gepflegt, wenn man beispielsweise die Rede eines anderen Menschen inhaltlich wiedergibt, bevor man seine eigene Meinung kundtut. Das vorherrschende Modell für die Kommunikation beruht auf dem Prinzip der Codierung und Decodierung von Gedanken mittels der Sprache. Man stellt sich den Prozess folgendermaßen vor: Person A hat einen Gedanken. Sie codiert ihn in Sprache. Sie spricht. Die Sprache gelangt zum Ohr des Zuhörers B. Dieser nimmt den Laut wahr, decodiert die Sprache und erfasst zuletzt den Gedanken von A. Wie zwei Höhlenbewohnende in ihrer Höhle, die sich mit Rauchzeichen verständigen. Sie nehmen einander überhaupt nicht wahr, sondern nur ihre verschlüsselten Botschaften. Geht so wirklich Kommunikation? Im Gehirnscan müsste demnach eine zeitliche Verzögerung bei B festzustellen sein, da es vom Gedankenprozess bei A bis zur Gedankenwahrnehmung bei B einen Moment dauert. Genau dieser Versuch wurde 2010 für eine Studie an der Princeton University gemacht. Person A wurde in den Magnetresonanztomografen (MRT) gelegt mit dem Auftrag, eine Geschichte zu erzählen. Diese wurde aufgezeichnet, die Gehirnaktivitäten gemessen. So hatte man schließlich zu jedem Sekundenbruchteil des Geschichtenverlaufs fotografische Bilder der Gehirnaktivitäten. Nun begab sich Person B in den MRT und es wurde ihr die Geschichte vorgespielt, während ihre Gehirnaktivitäten aufgezeichnet wurden. Jetzt konnte man untersuchen, ob die beiden Gehirne zeitversetzt die gleichen Muster aufwiesen. Das Ergebnis war erstaunlich! Zu einem großen Teil verliefen die Prozesse absolut synchron, das heißt: ohne die geringste zeitliche Verzögerung. Teils war der Sprecher voraus und teils sogar die Zuhörerin!
Gekoppelte Gehirne
Offensichtlich geht Kommunikation ganz anders, als man sich bisher vorgestellt hatte. Die Autoren der Studie bezeichnen den Vorgang als neuronale Koppelung. Aus meiner Sicht ist der Begriff jedoch bereits eine Interpretation. Bei zwei Synchronschwimmerinnen sprechen wir ja auch nicht von einer Koppelung sondern nur von Synchronität. Bei einem Vortrag hören wir einer Rednerin zu. Wir hören ihre Sprache mit dem Ohr, aber wir gehen schon bald mit dem Gedanken der Rednerin mit. Wir tauchen ein und sind zeitgleich im selben Gedanken. Manchmal erahnen wir schon im Voraus, was kommen wird, manchmal sind wir aber auch überrascht von einer plötzlichen Wendung oder einem Gedankensprung. Diese einfache Beobachtung wird nun durch die Studie vollends bestätigt. Wir sind nicht die einsamen Höhlenbewohnenden, sondern als Zuhörende mental eine Einheit mit dem anderen. Diese Studie ist meines Erachtens ein eindeutiger Hinweis auf das Vorhandensein des Gedankensinns und bietet einen völlig neuen Ansatz für das Verständnis von Kommunikation.
Link zur Studie Speaker-listener neural coupling underlies successful communication