«Die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen, um uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu retten.» Diese Worte sind ein bekanntes Diktum von Dag Hammarskjöld aus seinem Vortrag in Kalifornien vom 13. Mai 1954. (1)
Sie werden oft und gern bei vielen Gelegenheiten zitiert, vielleicht ob ihres erlebten Realismus. So auch wiederum bei der kürzlichen ‹Soul of Europe›-Konferenz in Brüssel vom 23. bis 25. August 2019. (2) Es sind die Worte des hochgeschätzten Geistes und Autors der ‹Zeichen am Weg›, seines spirituellen Tagebuches. (3 )Diese Worte voll tiefer Lebensweisheit sprechen unmittelbar an, nüchtern, ohne Pathos und ohne Verbitterung. Doch trotz dieser schönen Worte darf und muss die Frage erlaubt sein: Wurden die Vereinten Nationen, vielleicht sogar die Europäische Union, wirklich deswegen geschaffen?
Vielleicht klingt in diesen Worten auch ein wenig Resignation mit, kein Aufbäumen mehr vor den Schrecken einer brennenden Welt – sondern: Lasst uns mit vollstem Ernst und Engagement Schlimmeres verhindern, das Übel eingrenzen, der Hölle entfliehen. Besser können wir es nicht. ‹Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.› Bescheiden wir uns besser mit etwas sicher Erreichbarem, als dass wir gar nach einer Lösung, einem ‹Erlöse uns von all den Übeln› strebten? Da gibt es viele mögliche Illusionen, Wendungen und Drehungen, immer in bester Absicht natürlich.
Die Lesenden werden ihr eigenes Empfinden und Verständnis beobachten und prüfen: Welche von den vielen Nuancen tritt da hervor oder wird angesichts der Not, der Widersprüche und Konflikte unserer Zeit, vom Brexit bis zum Amazonas und 5G, und der persönlichen Kräfte und Erschütterungen hineingelesen?
Bei allem Respekt entsteht eine Frage: Warum wird bei einer anthroposophischen Tagung über Europa und in deutlicher Anspielung auf die Europäische Union Dag Hammarskjölds Himmel-Hölle-Diktum zitiert und nicht etwa Rudolf Steiner? Wurde auch die EU geschaffen, um uns vor der Hölle zu retten? War dies die Absicht?
Sicher, ein passendes Zitat von Rudolf Steiner zur EU lässt sich nur schwerlich finden, aber in Ermangelung dessen gibt es zum Völkerbund von 1920, dem Vorläufer der heutigen Vereinten Nationen, von ihm viele, umfangreiche und sehr kritische weiterführende Stellungnahmen. (4) Welch ein Karma, dass Dag Hammarskjöld hiervon augenscheinlich nichts wusste. Wir jedoch wissen davon oder könnten davon wissen. Doch was bedeutet uns dies im Umgang mit Europa? Die EU wie ein Spatz in unserer Hand, um uns vor Schlimmerem zu bewahren? Nur Mut, die Hoffnung bleibt!
(1) Siehe: https://ask.un.org/loader.php?fid=11125&type=1&key=6bf400a0db526933d8577cce49f39ad2.
(2) http://soulofeurope2019.eu
(3) Siehe die Neuausgabe im Urachhaus-Verlag zum 50. Todestag von Dag Hammarskjöld: https://www.urachhaus.de/Kompetenz-in-Sinnfragen/Persoenliche-Entwicklung/Zeichen-am-Weg.html
(4) Ausgehend von den wenig bekannten ‹Memoranden› von 1917 (in GA 24 sowie in der kommentierten (!) Ausgabe von Wilbert Lambrechts, Antwerpen, ‹Die Memoranden des Jahres 1917 und die Erkenntnis der Menschenwesenheit›, Verlag des Ita-Wegman-Instituts, 1. dt. Aufl. 2017), siehe insbesondere Rudolf Steiner, Vortrag in Bern vom 11. März 1919, ‹Die wirklichen Grundlagen eines Völkerbundes in den wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Kräften der Völker› (GA 329), und zusammenfassend die Darstellung bei Markus Osterrieder, ‹Rudolf Steiner über den Völkerbund›, in: ‹Welt im Umbruch – Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg›, 1. Aufl. 2014, S. 1402–1405, m.w.N. voluptat.
Foto: Sofia Lismont