Helferin in der Not

Das neue Büchlein von Manfred Kannenberg-Rentschler zeichnet die Lebenspilgerschaft von Anna Samweber (1884–1969) nach. Ab 1915 war sie eine sehr wichtige Mitarbeiterin von Rudolf Steiner und der anthroposophischen Bewegung.


Der Autor ist ein Chronist der Erinnerung, er begründete 1976 die Bücherei für Geisteswissenschaft und soziale Frage im Berliner S-Bahnhof Mexikoplatz und führte diese bis 2007. Im Vorwort zu Kannenberg-Rentschlers neuem Buch schreibt Thomas Keil: «Er hat die Geschichte der anthroposophischen Bewegung in der Zeit des Wirkens Rudolf Steiners umfassend bearbeitet. So in Vorträgen und Büchern über Johanna Mücke, in seinen Büchern ‹Rudolf Steiner in Berlin› und ‹Christian Morgensterns Weg der Verwandlung des Politischen›. Pointiert, lebendig und tief verbunden gelingt es Manfred Kannenberg-Rentschler, Vergangenes als Gegenwärtiges erlebbar zu machen.» Das neue Buch ist ein weiteres Zeugnis davon.

Für Kannenberg-Rentschlers pointierten Blick wird der 9. November 1923 zu einem Kristallisationspunkt der Interpretation des abenteuerlichen Lebens von Anna Samweber, die als Erzieherin, Dolmetscherin und Haushälterin tätig war und von München über Odessa und Wien nach Dornach und Berlin kam. An diesem Tag bittet sie Rudolf Steiner um eine geistige Wegzehrung für schwierige Zeiten, da beide bei der Nachricht über den Hitler-Ludendorff-Putsch in München die drohende mitteleuropäische Katastrophe erahnen. Steiner schreibt sofort das Mantram ‹Den Berliner Freunden›, welches in dem Buch eine zentrale Rolle spielt.

Kannenberg-Rentschler ordnet den 9. November an 18 geschichtlichen Großereignissen von der Münchner Rätebewegung im Jahre 1919 bis zum Mauerfall 1989 in einen großen historischen Zusammenhang ein. Am 9. November 1923 spürt Rudolf Steiner, dass er Berlin verlassen muss, und Anna Samweber organisiert den Umzug von der Berliner Motzstraße 17 in das schweizerische Dornach. «Wenn diese Herren in Deutschland an die Macht kommen, kann mein Fuß Deutschland nicht mehr betreten» (Steiner 1923). Immerhin war Berlin 20 Jahre lang ein wichtiges Zentrum der geisteswissenschaftlichen Bewegung.

Anna Samweber lebt nach dem Bau der Berliner Mauer bis 1968 im Ostteil der Stadt und stirbt 1969 bei Freunden in Berlin-Frohnau. Ilse Jahn, die von 1960 bis 1962 zu Anna Samwebers Arbeitskreis gehört, schreibt in ihren Erinnerungen ‹Wissen, worum es geht›: «Anna Samweber übermittelte Rudolf Steiners Intention mit folgender Episode: Als er vor dem Erscheinen der Neuauflage der ‹Philosophie der Freiheit› 1918 vom Verlag den Blindband (mit leeren Seiten) erhalten hatte, blätterte er darin und sagte: ‹So müsste die ‚Philosophie der Freiheit‘ eigentlich aussehen: jeder müsste sie individuell schreiben!› Das überzeugte mich, dass es keineswegs um eine ‹Lehre› geht, sondern um ein Beispiel (Paradigma im eigentlichen Sinn) für eine Vorausbewegung in Richtung auf die neu gezeigte Geisteswissenschaft. Nach Anna Samweber habe Steiner in dieser Schrift seinen Weg als Beispiel und Anregung zu individueller Arbeit vorgelegt.»

Manfred Kannenberg-Rentschler arbeitet seit Jahren im Institut für soziale Gegenwartsfragen (Freiburg) für eine geisteswissenschaftliche Interpretation der politischen, sozialen und ökonomischen Zeitfragen. Es geht ihm vor allem um eine möglichst objektive Durchdringung von geistigen Zeitfragen, getragen von lebendigen Personen. Anna Samweber, Christian Morgenstern, Johanna Mücke sind gute Beispiele für eine ‹christliche Lebenspilgerschaft›. Anna Samwebers Lebenspilgerschaft zeigt, dass sie ihre örtliche Heimat mehrfach verlassen musste, um ihre eigentliche Aufgabe zu finden. Das Buch ist ein kleines, bescheidenes Juwel aus dem Verlag Edition Immanente Berlin.


Manfred Kannenberg-Rentschler, Helferin in der Not, Edition Immanente 2019, ISBN 978-3-942754-69-9

Titelbild: Ausschnitt aus dem Buchcover

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