Es ist verblüffend, wie innig verwandt ihre Lebensläufe sich darstellen – bis in die Geburts- und Todesdaten –, die Motive könnten ähnlicher nicht sein. Der im März mit 93 Jahren verstorbenen katholischen Theologie-Professorin Uta Ranke-Heinemann ist nun am 6. April 2021, ebenfalls 93-jährig, ihr berühmter Kollege Hans Küng in die Geistwelt gefolgt. Beider Anliegen, für das sie sich lebenslang kämpferisch engagierten, war die Reformierung der katholischen Kirche.
Nun könnte man sich ganz naiv fragen: Wozu diese unerhörte Anstrengung, die mit Leid, Kränkung, Ablehnung und seelischer Verletzung verbunden war – schließlich wurde der Katholizismus ja buchstäblich reformiert vor Jahrhunderten? Doch handelt es sich eben wesentlich um die Frage der Ökumene. Als gelebte Praxis, jenseits aller Lippenbekenntnisse. Wir dürfen nicht vergessen oder gar ignorieren, dass die katholische Kiche bis zum heutigen Tag das gemeinsame Abendmahl, die Eucharistie zwischen den beiden Konfessionen untersagt. Eine Absurdität vor dem Hintergrund der Weltlage. Angesichts dieser Praxis kann kaum erwartet werden, Hindus und Moslems oder Sunniten und Schiiten von der westlich aufgeklärten Idee eines friedlichen Miteinanders zu überzeugen.
Hans Küng, der gebürtige Schweizer, war geweihter Priester, Autor, Friedensforscher und politischer Aktivist. Obwohl er die katholische Kirche erst als sterbenskrank und später als Diktatur bezeichnete, hasste er es, nach eigenem Bekunden, ständig als der Kirchenkritiker schlechthin zu gelten. Nicht die Kritik war sein Anliegen, sondern durch sie etwas zu bewirken. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint. Küng verstand sein kritisches Bestreben als Treue – aus Liebe.
Fast sein gesamtes Erwachsenenleben verbrachte der Theologieprofessor in Tübingen, wo er 2002 zum Ehrenbürger ernannt wurde. Seine Grabstätte auf dem Friedhof hatte er schon vor langer Zeit ausgesucht, neben seinem Freund Walter Jens. Anlässlich seines Todes wurde er in einer weltweiten Resonanz gewürdigt, nur zu dem einen kam es nicht, was er sich lebenslang herzinniglich wünschte: zu seiner umfassenden Rehabilitation durch die katholische Kirche.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann beschreibt Küng als einen für ihn persönlich «wichtigen und wegbereitenden Lehrer in Fragen des Glaubens, des ethischen Handelns und der Deutung des Weltgeschehens». Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb an Küngs Schwester, dass der Lebenslauf ihres Bruders beispielhaft zeige, «wie Philosophie und Politik zueinanderfinden, wie Denker die Politik befruchten könnten». Die Uni Tübingen verabschiedete sich von einem «produktiven Forscher, überaus schöpferischen Gelehrten und exzellenten Theologen». Dagegen konnte sich der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, nur dazu durchringen, ihm «trotz Spannungen und Konflikten der Vergangenheit für sein jahrelanges Engagement in der Vermittlung des Evangeliums zu danken». Das ist insofern bemerkenswert, als Hans Küng das Evangelium schon lange nicht mehr im Sinn der katholischen Lehre auslegte.
Die Erklärung der Bischofskonferenz hätte Küng so wenig zufriedengestellt, wie es sein Besuch bei Papst Benedikt 2005 in dessen Sommerresidenz Castel Gandolfo tat. Wie Fischerkönig Amfortas wartete Küng auf die erlösende Frage nach seiner Wunde und ihrer Heilung. Dies blieb ihm zu Lebzeiten ebenso versagt wie Uta Ranke-Heinemann. Der dritte im insgeheimen Bund der Lebensläufe war Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt. Man kann sich mit aller gebotenen Vorsicht und ohne Spekulation doch darauf einlassen, imaginativ der Vorstellung nachzugehen, was diese drei im Verbund hätten bewirken können. Hans Küng als Weltmann, Uta Ranke-Heinemann im Innerseelischen und Ratzinger als der Gesetzeskundige der Kirche – auch eine mögliche Kulmination. Doch bekanntlich kam es anders.
Hans Küng studierte 1948 zunächst Philosophie und später Theologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Mit 26 Jahren zum Priester geweiht, als Seelsorger an der Luzerner Hofkirche tätig, entschied er sich dann für eine akademische Laufbahn. Nach seiner Assistenzzeit in Münster wurde er 1960 mit 32 Jahren Professor für Fundamentaltheologie in Tübingen. Doch schon beim Erscheinen seiner Dissertation 1957 legte das Heilige Offizium – der Vorläufer der Glaubenskongregation, der später Ratzinger vorstand – in der sogenannten häresiologischen Kartei ein Dossier über ihn an. ‹Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung›, so lautete der Titel der Doktorschrift. Was diese angeblich häretisch machte – zu zeigen, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre keinen Widerspruch zur Lehre der katholischen Kirche bildet –, wurde 1999 offiziell bestätigt in einer gemeinsamen Erklärung von Vatikan und Lutherischem Weltbund, ohne Hans Küng zu rehabilitieren.
Die entscheidende Wende für die kirchliche Entwicklung der Neuzeit war das berühmte zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). In dieser Reformversammlung der römisch-katholischen Bischöfe lernte Küng Ratzinger kennen, da der damalige Papst Johannes XXIII. beide zu Beratern ernannte. Von dieser Reformbewegung wurde weltweit ein Aufbruch erhofft im Sinne des 68er-Zeitgeistes. In der Folge war es Hans Küng, der Ratzinger nach Tübingen holte als Professor für katholische Dogmatik. 1969 kam es zum Bruch zwischen beiden, ab hier schieden sich die Geister. Ratzinger ging nach Regensburg, stieg auf in der Kirchenhierarchie und wurde in seiner Haltung zunehmend reaktionär, während Küng sich radikalisierte. 1979, als ihm durch die Deutsche Bischofskonferenz die katholische Lehrerlaubnis entzogen wurde, war Küng jedoch längst als Bestsellerautor weltberühmt, und so kam es zu einem einmaligen Vorgang. Die Uni Tübingen schuf für ihn einen neuen Lehrstuhl als ‹fakultätsunabhängiger Professor für Ökumenische Theologie›. Neben unzähligen Publikationen veranstaltete er gemeinsam mit Walter Jens das Studium generale der großen Gestalten der Weltliteratur von Gotthold Ephraim Lessing bis Heinrich Böll und hatte dazu zahlreiche Gastprofessuren in den USA. Seine vielfältigen Weltkontakte und Menschenbegegnungen von Kennedy bis Kofi Annan boten ihm jederzeit konkrete politische Wirkensfelder.
Hans Küng war überzeugt, dass in jeder Religion ein ethisches Grundverständnis vorliegt, worin sich Übereinstimmung sämtlicher Religionen finden lässt.
Lange vor 9/11 und dem, was wir als Religionskriege der Moderne kennen, war Hans Küng überzeugt von der Idee, dass es keinen weltlichen Frieden geben kann ohne den Frieden zwischen den Religionen. Die von ihm mitgegründete Stiftung Weltethos, deren Präsident er von 1995 bis 2013 war, widmet sich der interkulturellen und interreligiösen Forschung, Bildung und Begegnung. Hans Küng war überzeugt, dass in jeder Religion ein ethisches Grundverständnis vorliegt, worin sich Übereinstimmung sämtlicher Religionen finden lässt. Neuerdings wird kritisch hinterfragt, inwiefern es sich darin nicht um eine westlich dominante Lesart handelt. Auch Friedensforschung wird in Zukunft immer stärker eine Sprachfrage werden.
Küng hat seinen persönlichen Frieden gemacht mit der Tatsache, dass ihm in der Entwicklung einer liberalen Theologie der Gottessohn verloren ging und nur der Mensch Jesus mit besonderer Bewusstseinsverfasstheit übrig blieb. So lehnte er für sein eigenes Begräbnis aus ökumenischen Gründen die Eucharistiefeier ab und ließ sich, zwar im Priestergewand, aber ohne Messopfer, bestatten. Das, was er selbst als Nachruf formuliert hat, ist so gehalten, dass ihm viele Menschen werden zustimmen können.
«Ich habe zwar keine Beweise, aber sehr wohl gute Gründe, warum ich der Überzeugung bin, dass mein Leben nicht einfach ins Nichts geht, wie auch der Kosmos nicht aus dem Nichts kommen kann. Sondern, dass ich in eine erste-letzte Wirklichkeit hineinsterbe, die wir Gott nennen.»