Im Herbst 2018 trafen sich zur Tagung der Naturwissenschaftlichen Sektion ‹Evolving Science› goetheanistische Forschende, um sich über Wege zum Geistigen in der Natur auszutauschen. Was Rudolf Steiner in seinem ‹Grundsteinspruch› als die Fähigkeiten von Geisterinnern, Geistbesinnen und Geisterschauen fordert, das spiegle sich, so im Tagungstext zu lesen, in der tieferen Naturerfahrung im ideellen Zugang, im hier beschriebenen Symbolisieren der Naturerfahrung und schließlich in der Grenzerfahrung, in der das Sinnliche zugunsten eines Höheren verschwindet. Hier geben wir einen breiten Einblick in die Werkstatt der Forschenden.
Goetheanistisch arbeitende Forscherinnen und Forscher betonen, dass ihre Beobachtungen mehr über das Wesen und ‹Sein› von Phänomenen enthüllen als die analytischen Methoden der modernen Wissenschaft. Denn die goetheanistische Forschung anerkennt beide Wege als gültige Wissensquellen: sowohl analytische als auch ganzheitliche Erkenntnismethoden. Werden sie in ihrer gegenseitigen Ergänzung auf Naturphänomene wie Tiere, Pflanzen oder Landschaften oder ganze Ökosysteme angewendet, darf man annehmen, dass die dabei erreichte Bedeutungsvielfalt mit einem umfassenderen Wissen verbunden ist. Die fortgesetzte Verbindung mit dem Forschungsgegenstand leite dabei, so berichten die goetheanistisch arbeitenden Wissenschaftler, zu Gefühlen der Ehrfurcht und Werthaltung gegenüber den untersuchten Phänomenen.
Analytisches Denken eignet sich gut, um zu kategorisieren, wenn man Differenzierung, Vereinzelung und Quantifizierung von Phänomenen im Auge hat. Wenn man sie als Konglomerat von Teilen auffasst, zielt dagegen eine ganzheitliche Betrachtungsweise auf Beziehungen und ihre Bedeutung und nimmt das komplexe ‹Ganze› in den Blick. Goetheanistische Beobachtung verfolgt die Entstehung von Phänomenen, wobei ‹Gesten› sichtbar werden. Sie können sich im Denken des Forschers zu Symbolen verdichten. Genaue Beobachtung für die Vorstellungsbildung schützt dabei vor selbstgenügsamem Fantasieren. So sollen die Symbole den Phänomenen getreu im Kopf des Beobachters entstehen, um als Quelle sinnvollen Wissens über den Forschungsgegenstand zu dienen.
In der hier präsentierten Arbeit verfolge ich die Frage, ob solche Gesten sinnvoll als der Natur inhärente ‹Zeichensprache› (Semiose) verstanden werden können, indem ich untersuche, ob es eine Ähnlichkeit gibt zwischen den Wahrnehmungen vorwissenschaftlicher Denkweisen, wie sie in alten Walmythen und -geschichten zum Ausdruck kommen, und den Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Methode Goethes, wenn sie auf das Studium lebender Wale (1) angewandt wird.
In Goethes wissenschaftlichen Arbeiten gibt es drei Prinzipien, die immer wieder als aktive Naturkräfte erscheinen: Polarität, Steigerung (Intensivierung) und Kompensation. Die Polarität ist die grundlegendste, denn das gesamte Universum scheint auf polaren Kräften zu beruhen, die in einem Zustand des Fließens sich vereinen. Goethe sieht die Polaritäten als primäre Quellen der Kreativität und der wahrnehmbaren Bedeutung. Polaritäten in der Natur werden auf vielfältige Weise konkret. Einige Beispiele:
Kontraktion Erweiterung
Innen Außen
Erstarrung Auflösung
Spannung Entspannung
Zentripetal Zentrifugal
Zentrisch Peripherisch
Introspektion Anteilnahme
Einsamkeit Geselligkeit
Autonomie Abhängigkeit (z. B.v. der Umgebung)
Stoffwechselsystem Nervensinnessystem (in der Physiologie) (2)
Die Begriffe der linken und der rechten Seite verbindet jeweils eine gemeinsame Geste. So erscheint es intuitiv als falsch, ein Begriffspaar wie zum Beispiel ‹innen› und ‹außen› umzudrehen. Es gibt kein Wort in der deutschen Sprache, das die ‹innere› Qualität der Begriffe auf der linken und die ‹äußere› Qualität der Begriffe auf der rechten Seite ausdrückt. Was die Begriffe in jeder vertikalen Spalte vereint, wird intuitiv wahrgenommen. Meine Hypothese ist, dass diese wahrnehmbare Qualität, die es ermöglicht, die Begriffe links als ‹mehr nach innen› und die rechts als ‹mehr nach außen› wahrzunehmen, eine ‹grundlegende semiotische Geste› in der Natur ist. Diese semiotische Geste scheint es zu sein, die die Bildung von Symbolen im Kopf des Betrachters inspiriert.
Was Delfin und Wal erzählen und erzählt haben
Nun habe ich Wale in Bezug auf Anatomie, Physiologie und Verhalten untersucht. Dabei ging es um Beobachtungen an lebenden Walen, an Bildern und Filmen sowie um Museumsexemplare und sezierte Wale. Gemäß der goetheanistischen Methode wurden analytische und ganzheitliche Kognitionsformen einbezogen. Darüber hinaus untersuchte ich die Symbolik alter, vorwissenschaftlicher Walmythen und -geschichten. Dabei war wichtig, dass die Symbole mythischer Überlieferungen aus einem vorwissenschaftlichen Bewusstsein rührten, das aus einer ganzheitlichen Denkweise schöpfte. Ziel der Untersuchung war, zu sehen, ob es eine Ähnlichkeit zwischen Themen und Symbolen gibt, die in mythischen Geschichten auftauchen, und dem Wissen, das sich aus den goetheanistischen Studien von heutigen Walen ergibt. Ich wollte untersuchen, ob der grundlegende semiotische oder symbolische Charakter von Walen aus diesen beiden verschiedenen Richtungen zugänglich ist.
Die wichtigsten Ergebnisse waren folgende: Mythen und Geschichten über die Begegnung mit Walen scheinen wiederkehrende Symbole und Themen zu haben. Wale werden als bewusste, autonome Kreaturen mit einer fast übernatürlichen Fähigkeit dargestellt, in einer für den Menschen unwirtlichen Umgebung zu leben. Walmythen bauen auf Geschichten über die Rettung vor den Gefahren der Tiefe auf und haben immer wiederkehrende Themen wie Prophezeiung und Selbstbeobachtung. Homers ‹Hymne an Apollo› ist zum Beispiel eine frühe Delfingeschichte, die die Gründung des Tempels in Delphi beschreibt. In der bekannten biblischen Geschichte, die im Buch Jona erzählt wird, finden sich ebenfalls Elemente wie Prophetie, Innerlichkeit und Selbstreflexion. Das goetheanistische Studium der Walbiologie umfasste die genaue Beobachtung, die meditative Praxis der ‹exakten sensorischen Vorstellungskraft›, die Anerkennung symbolischer Bilder, wenn sie entstanden, und die ständige Erprobung von Symbolen an den Phänomenen, die sie hervorbrachten, sodass der Einfluss der persönlichen Vorstellungskraft begrenzt wurde.
Die gesamte Studie blieb immer nahe an den beobachteten Phänomenen. In diesem Prozess konnte ich Wale als stark abgekapselte, metabolisch aktive und nach innen gerichtete Tiere mit einem hohen Maß an Autonomie identifizieren.(3) Im Dreigliederungssystem nach Schad (4) wurden Wale primär als Stoffwechseltiere dargestellt, was auch durch ihre evolutionäre Verbindung zu den metabolisch akzentuierten, weitgehend terrestrischen Zwei-Zehen-Huftieren (Artiodactyla) bestätigt wird.(5) Die metabolische Akzentuierung von Walen zeigt sich durch großflächige, dicke, mit Fett ausgekleidete Körpergrenzen und hohe selbstgesteuerte autonome Aktivitäten wie die bewusste Atmung, intensives Spiel und Problemlösen, emotionale Intelligenz, Wärmeregulation, plazentare Reproduktion. Während die evolutionäre Reduktion und der Verlust von Gliedmaßen auch als Abnahme der Autonomie angesehen werden können, wird dies bei den Walen durch eine vollständige Reorganisation der Wirbelsäule kompensiert, die ihrerseits die Funktion eines Gliedes übernimmt und eine konstant hohe Aktivität über evolutionäre Zeiträume ermöglicht. So muss eine Reduktion der Gliedmaßen nicht zu einer Verringerung der Autonomie führen.
In der gesamten Walgruppe finden sich als allgemeine Gesten Innerlichkeit und Autonomie, und beide Gesten sind auch in den alten Mythen und Geschichten über Wale zu finden. Ich schließe daraus, dass das vorwissenschaftliche Bewusstsein und die wissenschaftliche Methode Goethes auf die gleiche grundlegende Zeichensprache des Wals zurückgreifen. Diese Arbeit zeigt die Angemessenheit der goetheanistischen Methode als wissenschaftliches Werkzeug für die Zukunft, weil sie unterschiedliche Denkweisen anerkennt und anwendet. Sie führt zu einem tieferen Verständnis der Phänomene, indem erweiterte kognitive Dimensionen des Betrachters anerkannt und genutzt werden.
Aus dem Englischen von Ruth Richter
(1) ‹Cetacea› ist eine taxonomische Ordnung, die sowohl Wale als auch Delfine umfasst. Hier wird ‹Wale› synonym mit ‹Cetacea› verwendet, um sowohl Wale als auch Delfine zu bezeichnen.
(2) Siehe Schad, 1971.
(3) Im Sinne von Rosslenbroich, 2009.
(4) Schad, 1971.
(5) Gingerich, 2001.
Titelbild: Wandmalerei Minospalast in Knossos, Griechenland
Textredaktion von Ruth Richter und Wolfgang Held