Gespräch über den Krieg

Eine Konferenz wollte ich halten, um nach dem 23. Februar 2022 die Sprachlosigkeit zu teilen. So fragte ich Freunde und Kolleginnen, ob wir telefonieren könnten zur Katastrophe in der Ukraine.


Immer kam ein ‹Ja› unkompliziert und nah. Ulrich Meier, Priester der Christengemeinschaft und Coleiter des Priesterseminars in Hamburg, war der erste Gesprächspartner. Da sei die Ohnmacht, die man natürlich fühle, so begann er und erinnerte daran, wie Rudolf Steiner sich in seinen Vorträgen während des Ersten Weltkrieges mit den gefallenen Soldaten verband. Das sei eine spirituelle und zugleich pragmatische Initiative. Ulrich Meier beschrieb mir einen Hinweis von Wolfgang Schad: Wenn man geistig offener und selbstverständlicher miteinander kämpfen würde, dann würden die Auseinandersetzungen nicht in die Sphäre von Gewalt und Tod münden. Schad beobachte, dass man den geistigen Konflikten aus dem Weg gehe, und das nähre den Krieg und hinter solch einem Krieg stehe ja ein Menschenbild. «Treten wir», so fragte Meier, «genug für das Menschenbild ein, das in allen anthroposophischen Kulturschöpfungen dann zum Ausdruck kommt?» Streit sei wichtig, aber er müsse im Geistigen geführt werden.

Mechthild Oltmann, ebenfalls Priesterin der Christengemeinschaft, eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung, dass sie den Zweiten Weltkrieg erlebt habe. «Als Erstes ist in mir Angst aufgetreten. Man fühlt sich so entsetzlich ohnmächtig und weiß nicht, wie man die Seele halten soll.» Dann schilderte sie zwei Reaktionen in sich, eine erste, intime: «Wenn man abends mal nicht einschlafen kann und sich dann klarmacht, wie behütet, warm und geschützt man doch ist, dann ist jetzt diese Sicherheit mit einem Mal gar nicht mehr so selbstverständlich.» Eine zweite Stimmung betraf die öffentlichen Reaktionen und Kommentare. «Ich habe mir gewünscht, dass man jetzt nicht denjenigen, der hier den Marschbefehl gegeben hat, mit Erklärungen zu verstehen versucht, sondern vielmehr sich klar darüber sein sollte, dass es ein Verbrechen ist, durch das jetzt Tausende Menschen sterben. Einen Krieg im 21. Jahrhundert vom Zaun zu brechen, ist ein Wahnsinn.» Sie ergänzte, dass es wie bei der Pandemie, wie bei der Klimakrise auch bei diesem Krieg um die ganze Menschheit gehe. Selbst in Südamerika fühlten die Menschen es als ihre Angelegenheit und würden auf die Straße gehen. War im 20. Jahrhundert viel von der ‹Welt› die Rede, wie Weltwirtschaft, Weltkrieg, ist jetzt die Menschheit im Blick. Das sei der Blick ‹nach unten›. Der Blick ‹nach oben› führe sie auf drei Worte des Friedens im Evangelium. Da sei zuerst die Weihnachtsbotschaft der Engel im Lukasevangelium: «Frieden auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind.» Der Friede setzt den guten Willen voraus! Dann zitierte sie die siebte Seligpreisung der Bergpredigt: «Selig sind die Friedenschaffenden.» Hier seien, schilderte sie, nicht die Fried-‹fertigen› angesprochen, sondern diejenigen, die den Frieden hervorbringen können. Dann kam sie auf die dritte Stufe zu sprechen: In den Abschiedsreden bei Johannes sei davon die Rede, dass Christus seinen Frieden ‹gebe›. Man müsse, so Oltmann, bereit sein, den Frieden auch zu empfangen. Sie erinnerte an die Beobachtung, dass im Streit mit dem oder der Nächsten man darauf angewiesen sei, dass vom anderen ein Friedensbeitrag komme. Den Frieden könne man nicht vollständig alleine erzeugen. Die Engel können mitwirken, wenn wir bereit seien, den Frieden zu schaffen, und ihn auch annehmen können. In der Menschenweihehandlung heiße es deshalb: «Der Friede kann bei euch sein, weil ich ihn euch gebe.» Der Friede hat eine Quelle. So komme die Demut hinzu, während im alleinigen Hervorbringen des Friedens doch der Stolz mitschwingen könne. Zum Frieden gehört auch die Bitte um ihn.

Ein weiteres Gespräch führte ich mit Nikolai Fuchs, Verantwortlicher der Treuhand der gls-Bank. Wir hätten, so schildert er seine aktuellen Empfindungen, uns doch hinter dem Wunsch versammelt, dass so etwas wie dieser russische Einfall in die Ukraine nicht möglich sei. Wir wollten es nicht wahrhaben, obwohl die Zeichen, wie die Aufrüstung der letzten Monate, wie manche Rede oder die Militäraktionen in Syrien, darauf hindeuteten. Das Argument der Einflusssphäre, die Umzingelungsphobie könne er verstehen, und er erinnerte an die Interventionen und CIA-Aktionen der Vereinigten Staaten in Südamerika. Widersprüchlich sei allerdings jetzt, die Nähe der NATO zum Vorwand zu erklären, die Ukraine überfallen zu dürfen, und gleichzeitig zu betonen, dass man von der NATO keine Angst habe. Fuchs verglich die Schwächung natürlicher Landschaften mit denen gesellschaftlicher Landschaften: In der Landwirtschaft gehe es häufig darum, die Natur zu regenerieren und anschließend ihre Resilienz zu verbessern. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gabe es mehrere Regenerationswellen: das deutsche Wirtschaftswunder und der Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten in Osteuropa nach 1989. Von «blühenden Landschaften» zu sprechen, war damals nicht falsch. Während sich in den neuen EU-Ländern des Baltikums das bip verfünffacht habe, sei es in der Ukraine nur auf das Doppelte gewachsen. Um sich zu entwickeln, von Industriewelten in Dienstleistungswelten zu verwandeln, ist die eu der Schlüssel gewesen.

Aus der Angst, dass man bei wirtschaftlichem Erfolg okkupiert wird, wuchs der Wille, auch Mitglied der NATO zu werden. Als Georgien und die Ukraine dies in Aussicht gestellt wurde, da war die Zündschnur gezündet. Fuchs sieht hier die schwer zu kalkulierende Gefahr, dass die russische Regierung tatsächlich sich nicht von dem Traum befreien kann, die Grenzen der 90er-Jahre wiederherzustellen. Diese entzündliche Lage zeige das Dilemma des Pazifismus auf: Dieser habe sich hinter der Abschreckung versteckt und sei deshalb nicht wirklich glaubwürdig. Mit dem Patt der Waffensysteme ist der Pazifismus nur scheinbar eine Absage an Gewalt. Jetzt seien wir in unserer Identität gefordert, seien als Menschheit gefordert, das, was wir im 20. Jahrhundert nicht gelernt haben und nun als Gespenster noch älterer Zeit hereinbricht, zu lernen. In der gls-Bank hätten sie kürzlich Dostojewskis ‹Großinquisitor› gelesen. Dort vertritt der Fürst die Auffassung, dass die Menschen nicht reif für die Freiheit seien. So handelt jetzt Russland. Der Freiheitsmensch und der souveräne Staat zählen nicht. Mit Autokraten an der Spitze in Ländern wir Brasilien, Türkei oder Ungarn zeigt sich das Phänomen des Großinquisitors als Zeitphänomen. Selbst der Blick in aufgeklärte Demokratien zeige, so Fuchs: Die Volksabstimmungen in der Schweiz, dem demokratisch am weitesten entwickelten Land mit hohen Bildungsstandards und freister Presse, fallen regelmäßig konservativ aus. Die eigene friedliebende Identität wird erschüttert und aufgerufen, sich neu zu ordnen, neu einzurichten. Das rufe nach einem umfassenden Gesprächsprozess.

Bild: Lasha Malashkhia mit Eurythmie-Kolleginnen in Kiew z. V. g.

Ingo Krampen, Rechtsanwalt und Mediator, betonte, dass solch eine Machtfülle bei einem Menschen schon den Kriegsfunken in sich trage. Das passe nicht mehr in unsere Zeit. Was hat denn Putin hinter den Kulissen gefordert in den Spitzengesprächen? War wirklich alles unerfüllbar? Natürlich ist es menschenverachtend und völkerrechtswidrig, dass Putin einen Angriffskrieg führt. Aber ist die Haltung des Westens, der ja Gorbatschow zumindest verbal versprochen hat, keine Ost­erweiterung der NATO zu vollziehen, wirklich alternativlos? Nur Aufrüstung und Bestrafung? Könnte es nicht auch noch eine Verständigung, wenn schon nicht mit Putin, aber mit Russland, geben?

Michaela Glöckler nimmt im Gespräch den aktuellen Titel des Spiegel-Magazins ‹Putins Krieg› zum Anlass, mögliche Bedingungen für Deeskalationsprozesse auszuloten. Einseitige Forderungen und Schuldzuweisungen nähren Konflikte, nicht den Frieden.

Andreas Heertsch, Physiker aus Arlesheim, schickte mir die Zeilen von Ita Wegman ‹An die Freunde›. Sie schildert darin, dass es nach Rudolf Steiner Dämonen gebe, deren Geheimnisse nur von Menschen erfahren werden könnten, um dann von Göttern entschlüsselt zu werden. In solch einer menschlich-göttlichen Zusammenarbeit könne, «wo Finsternis waltet, das Licht wieder aufleuchten».

Nach Mitternacht erreiche ich Lasha Malashkhia, den Leiter der Eurythmieschule in Kiew. Seine Familie ist schon in Tiflis. Jetzt fährt er eine weitere Familie die lange Strecke nach Polen in endlosen Staus. Ich frage über das Mobiltelefon, wie es ihm geht. «Ich versuche, mit diesem wunderschönen Menschen Tatjana (seiner Frau) Tropfen für Tropfen, Minute für Minute Gemeinschaft zu bauen. Da brechen plötzlich archaische Formen von Problemlösungen aus der Vergangenheit herein und werfen alles ins Unglück. Dann frage ich mich, was mache ich in diesem leeren Raum? Steiner sagt, in den Kindern bis drei Jahre lebe der Christus. Ich habe hier vier Christusaugen im Auto. Es ist die dritte Nacht, die wir fahren. Ich bin unermesslich müde.»

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