In seiner Amtsantrittsrede am 8. November 2020 ging der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca auf die Weisheit der indigenen Kulturen ein und sprach sich für eine Zukunft des Gleichgewichts und Gemeinwohls aus.
Es ist wie ein Bekenntnis zum Selbstwert und Selbstvertrauen der eigenen alten Kultur, wenn Choquehuanca alle anwesenden Staatsmänner und -frauen und zugleich alle Geister und Wesenheiten der andinen Mythenwelt begrüßt, bevor er zu sprechen beginnt. Von der Pachamama bis zum Regenbogen, von der ‹Kultur des Lebens› bis zum Prinzip des Helfens und Teilens, das bei den Indigenas Boliviens gang und gäbe war: Choquehuanca will deutlich machen, «dass alles miteinander verbunden ist, dass nichts getrennt ist und dass nichts außerhalb ist. Und dass das Wohlergehen aller das Wohlergehen von einem selbst ist. Dass Helfen ein Weg ist, zu wachsen und glücklich zu sein. Dass uns der Verzicht zum Wohle des anderen stärkt, dass uns zu vereinen und uns im Ganzen zu erkennen der Weg von gestern, heute, morgen und immer ist, von dem wir nie abgewichen sind.»1
Es kommt darauf an, mit allen komplementären Energien umzugehen, mit der kosmischen, die vom Himmel kommt, mit der, die aus der Erde kommt.
Choquehuanca ist von Haus aus Philosoph und hat sein politisches Engagement bei der indigenen Landwirtschaftsgewerkschaft begonnen, bevor er bei der Bäuerinnen- und Bauern-Bewegung aktiv wurde und in den letzten Jahren unter Ex-Präsident Evo Morales Außenminister war. Die Rechte der Indigenen sind schon lange sein Themenschwerpunkt. Und da mag es nicht verwundern, wie sehr er in seiner Antrittsrede darauf drängt, sich das alte Wissen, den alten Gemeinschaftsbegriff und das Gleichgewicht von Mutter Erde wieder zu Bewusstsein zu führen. Bolivien wurde vor allem durch Spanien kolonisiert und ausgebeutet. Die kompletten Silbervorkommen hatten sich die Eroberer über Jahrhunderte einverleibt und hätten daraus eine Silberbrücke bauen können, die bis nach Europa gereicht hätte. «Jahrhundertelang wurden die zivilisatorischen Regeln Lateinamerikas in ihren Strukturen zerstört und viele von ihnen ausgerottet, das ursprüngliche Denken wurde systematisch dem kolonialen Denken unterworfen […] Aber wir sind Aymara, wir sind Quechua, wir sind Joki und wir, die wir gleich, rebellisch, mit Weisheit erwacht sind, sind alle Menschen der Kultur des Lebens.» Choquehuanca spricht von einem neuen Zeitalter, einem neuen Patchakuti, was einer neuen Morgendämmerung gleichkommt und in der indianischen Mythologie alle 2000 Jahre geschieht. Er gibt den Menschen in seinem Land ein Bild dafür, eine Sprache, eine Idee, nämlich dass eine neue Sonne und ein neuer Ausdruck in der Sprache des Lebens beginnen werden, «wo die Empathie für den anderen oder das kollektive Wohl den egoistischen Individualismus ersetzt». Er gibt seinen Zuhörenden einen neuen Wir-Begriff, welcher der Tod der Egozentrik, des Anthropozentrismus und des Theozentrismus ist.
Technologische Zukunft
Kurz bevor die alte Regierung unter Morales 2019 gestürzt wurde, hatten deutsche mittelständische Unternehmen an einem Vertrag mit dem bolivianischen Staat getüftelt, um Anteilseigner am Lithiumabbau im größten Salzsee der Erde, dem Salar de Uyuni, in den bolivianischen Anden zu werden. Allerdings protestierten lokale Komitees von Bürgern und Bürgerinnen bereits im Herbst 2019 dagegen, weil sie erhebliche Umweltschäden etwa mit Auswirkungen auf das Grundwasser befürchteten und sich von dem deutsch-bolivianischen Joint Venture finanziell benachteiligt sahen. Der im November 2020 neu gewählte Präsident Luis Arce, dessen Vize Choquehuanca ist, will das Vorhaben fortsetzen, aber zu besseren Bedingungen für die bolivianische Bevölkerung. Die lokalen Organisationen im Departement Potosí, wo der Salzsee liegt, wollen einen größeren Anteil am Ertrag und eine kürzere Vertragsdauer. Arce weiß auch, dass es andere Länder gibt, die mit Bolivien gemeinsam das ‹Silber der Zukunft› fördern wollen. Lithium ist für die Produktion von Batterien, wie sie etwa in Elektroautos verwendet werden, unverzichtbar und von speziellem Wert für die Kfz-Industrie, auch die deutsche. Man könnte aber auch eine Batterieproduktion im Land selbst aufbauen, anstatt den Rohstoff nur unverarbeitet weiterzugeben, und somit den größtmöglichen Teil der Wertschöpfungskette vor Ort belassen.
Weisheitsvolle Zukunft
Mit dem wieder erwachenden Bewusstsein, wie es der Vizepräsident Choquehuanca anregt, und den Möglichkeiten des Lithiums, mit dem noch lange in die Zukunft hinein Technologieentwicklung und Lebensunterhalt gesichert werden können, könnte ein interessanter Spagat bevorstehen, der für die ganze Welt zukunftsweisend sein kann. Umso wichtiger scheint es, sich der Weisheit wieder anzunähern und zu einer Mitte, zu einem Gleichgewicht zurückzukehren. «Einer der unerschütterlichen Stützpfeiler unserer Zivilisation ist, das geerbte Wissen um die Pacha, das Gleichgewicht in Zeit und Raum zu gewährleisten. Die beiden kosmischen, aus der Welt hervorgehende Kräfte wirken zusammen und schaffen das, was wir Leben nennen, als sichtbares (Pachamama) und als spirituelles (Pachakama) Ganzes. Indem wir das Leben in Begriffen der Energie verstehen, haben wir die Möglichkeit, unsere Geschichte, die Materie und unser Leben als Zusammenwirken der Chachawarmi-Kraft umzugestalten, wenn wir uns auf die Komplementarität der Gegensätze beziehen. Die neue Zeit, die wir beginnen, wird getragen sein von der Energie der Gemeinschaft, der Konsense, der Horizontalität, der komplementären Gleichgewichte und des Gemeinwohls.»
David Choquehuanca unterlässt es auch nicht, konkret zu werden. «Es ist nicht gelungen, das Wesen der Macht zu verändern; die Macht hat es geschafft, den Verstand der Politiker zu verzerren. Die Macht kann korrumpieren und es ist sehr schwierig, an der Gewalt der Macht und ihrer Institutionen etwas zu ändern. Aber das ist eine Herausforderung, der wir uns mit der Weisheit unserer Völker stellen. Unsere Revolution ist die Revolution der Ideen, sie ist die Revolution der Ausgewogenheiten, denn wir sind überzeugt, dass wir uns, um die Gesellschaft, die Regierung, die Verwaltung, die Gesetze und das politische System zu verändern, als Individuen verändern müssen.» Er träumt davon, sein multiethnisches Land zu vereinen und Polaritäten, Spaltungen zu überwinden, weil er eine Dringlichkeit sieht. «Die Idee des Zusammentreffens zwischen Geist und Materie, Himmel und Erde, Pachamama und Pachakama ermöglicht es uns zu denken, dass eine neue Frau und ein neuer Mann die Menschheit, den Planeten und das schöne Leben auf ihm werden heilen können und unserer Mutter Erde ihre Schönheit zurückgeben.» Dafür müssen Macht und Wirtschaft umverteilt werden, zirkulieren, fließen wie das Blut in unserem Organismus.
Ein weiterer Aspekt, für den Bolivien ein Bild werden kann, ist die Überwindung der Polarität von Technologie und Ökologie. Wie könnte eine dritte Perspektive aussehen? Wie könnten diese zwei Aspekte zusammen kommen und sich vereinen? Oder wird das eine ‹kranke Hochzeit› werden? Das Spannungsfeld von alter (ökologischer) Weisheit und moderner Technologie begleitet uns schon längst und fragt nach einer zukunftsfähigen und menschlichen Lösung.
Footnotes
- Die Zitate stammen aus der Rede Choquehuancas, s. Rede des bolivianischen Vizepräsidenten David Choquehuanca zum Amtsantritt am 8. November 2020