Als ich vor 25 Jahren mit der Anthroposophie in Berührung kam, befremdete mich vor allem der Personenkult um Rudolf Steiner.
Ich hörte Anekdoten von Damen in lila Gewändern, die beim ‹Eingeweihten› um Rat vorsprachen für ihre innere Entwicklung. Ich besuchte mit einem ehrfürchtigen Freund den Gedenkhain in Dornach und wusste nicht so recht, wie ich das Ganze aufnehmen sollte. Unvoreingenommenheit schien gepaart mit dem Verbot von Widerspruch, gedeckelt mit der Begründung, man verstehe es eben noch nicht. In dieser Zeit träumte ich, ich hätte ebenfalls eine Audienz beim ‹Doktor›. In gespannt beobachtender Haltung, was ich nun zu sehen bekommen würde, öffnete ich die Tür zu einem Zimmer, in dem Rudolf Steiner hinter einem schweren Schreibtisch saß. Sachlich, nüchtern, jedoch ohne kalt zu wirken, aber auch ohne Gefälligkeitsabsicht, blickte er mich an und fragte ganz direkt: «Was ist Ihre Frage?» Meine Beobachterposition war radikal aufgehoben. Ich fühlte mich gemeint in einer Sphäre, die mit 21 Jahren noch zu umfassend für mich war. Ich hatte mich noch nicht einmal gesetzt, und schon wachte ich wieder auf, in großem Schrecken, denn: Ich hatte keine Frage.
Die nächsten fast 20 Jahre war ich auf der Suche nach ‹meiner› Frage. Fragen gab es immer, aber welche Frage würde ich Rudolf Steiner stellen? Dort zu tasten, ermöglicht mir heute noch, dem Geheimnis der Anthroposophie näherzukommen. ‹Meine› Frage ist eine, die mein konkretes Menschsein in seiner spezifischen Form und Entwicklung fasst. Zugleich schließt sie das Menschsein allgemein ein, aber so wie es sich durch mich offenbart. ‹Meine› Frage ist wie eine Signatur, mit der ich mich durchs Leben bewege, die meine Wege gar bestimmt. Vielleicht bestimmt sie ‹meine› menschlichen Tätigkeitsfelder, die Bühne, auf der ich zu spielen habe und spielen will.
Meine Frage blitzte mir im Zusammenhang mit meiner Arbeit in der ‹Wochenschrift› vor drei, vier Jahren das erste Mal deutlich wahrnehmbar auf: Es gibt so viele unterschiedliche Auffassungen, Ansprüche, Wertungen, Meinungen, Herangehensweisen an die Aufgabe der ‹Wochenschrift›, an die Aufgabe des ‹anthroposophischen Menschen› und an das Goetheanum, an das Verstehen der Welt. Wie schaffe ich es, alle Menschen darin gelten zu lassen, niemanden abzuwerten, alle als ernst zu nehmende individuell Suchende und Versuchende liebevoll wahrzunehmen? Welches Wesen in mir ist dazu in der Lage?
Lassen Sie mich gern Ihre Frage wissen, liebe Lesende. Ich wäre daran interessiert, wie es Ihnen ergehen würde in der gleichen unerwartet unverhofften Situation. Wüssten Sie sofort, was zu fragen sei? Vielleicht entsteht 100 Jahre nach Steiners Tod ein Sammelsurium an guten Fragen für die Welt.
Vielen Dank für das wunderbare Bild. Ich wüsste sofort, welche Frage ich stellen würde:
„Was in und an mir hält mich in meiner Entwicklung zurück, dass ich nicht tiefer eingeweiht werde? Was an und in mir muss ich verändern und weiterentwickeln oder weglassen?“
Gleichzeitig weiss ich aus meiner Erfahrung, dass wenn ich eine Frage ein Weilchen ernsthaft in meinem Herzen herumtrage, ich die Antwort sehr bald bekomme. Und da habe ich die Frage trotzdem nicht gestellt. Ich gebe mir noch Zeit, ich bin in meinem Leben und mit mir maximal gefordert, das gefällt und genügt mir. So bleibe ich beim Konjunktiv und geniesse dieses Bild mit Herrn Doktoribus hinter dem Schreibtisch, der freundlich zurücklacht über meinen Konjunktiv.
„Als ich vor 25 Jahren mit der Anthroposophie in Berührung kam, befremdete mich vor allem der Personenkult um Rudolf Steiner.“ Das unterschreibe ich auch heute noch, obwohl es mittlerweile 66 Jahre her sind. Die Auflösung dieses Problems fand ich immer wieder im Studium der Vorträge und Publikationen und besonders in den Klassenstunden und im Versuch eines Transfers in die Wirklichkeit des Alltags, denn „seid nicht nur Hörer des Wortes sondern Täter“, wie es im Jakobusbrief z.B. heißt. Und wenn es einmal ganz heftig wurde, las ich die Ausführung von Rudolf Steiner bezüglich seines Lebenslaufes:“…im übrigen gehören Privatverhältnisse nicht in die Öffentlichkeit. Sie gehen sie nichts an.“ (R.Steiner : GA 28, S. 373) Danke, Rudolf Steiner, du wolltest keine Hagiographie.