Gemeinschaft suchen heißt Unterschiedlichkeit wollen

Gespräch mit dem Vorbereitungskreis der Goetheanum-Weltkonferenz über die Erfahrungen und Perspektiven der Konferenz ‹Gesellschaft neu gestalten›. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Wann hat sich das Gefühl eingestellt: ‹Jetzt sind wir unterwegs›?

Ueli Hurter Bald nach der Eröffnung, als sich der Wandteppich von Claudy Jongstra senkte und wir gemeinsam auf der Bühne standen – da war mit dem Publikum zusammen eine besondere Energie zu spüren.

Christiane Haid Ja, die Energie hat mich auch überrascht. Im Laufe der Konferenz habe ich mich gefragt, wann sich die Atmosphäre wieder löst, aber sie steigerte sich vielmehr bis zum Ende der Konferenz.

Hurter Ich glaube, bei der Zusammenfassung aus den Foren ging uns die Dichte etwas verloren. Es war vermutlich schwierig, in wenigen Sätzen zu sagen, was in fünf Stunden entstanden ist.

Ueli Hurter, Andrea Valdinoci, Foto: W. Held

Was habt ihr als Höhepunkt erlebt?

Hurter Das Konzert! Da ist, glaube ich, ein großes Herz entstanden, das gemeinsam schlug.

Andrea Valdinoci Die Herzensebene, dieser gemeinsame Schlag, war für mich so eindrücklich, dass es gar nicht leichtfiel, in die Denkebene zu kommen. Das bedaure ich nicht, denn ich glaube, dass wir uns so auf seelischer Ebene treffen konnten. Das war notwendig. Und deshalb habe ich manchmal mehr Feier als Konferenz erlebt! Als ich so im Saal saß, da dachte ich, ja, so könnte die Weltbewegung aussehen, in solch gemeinsamer Stimmung, da gelingt uns viel. Das hörte ich auch in Einzelgesprächen: Da ging es oft um diese Herzebene und die Beobachtung, dass dort Kraft und Inspiration entsteht.

Johannes Kronenberg Am Anfang hatten wir zwei Bewegungen: in die Substanz der Anthroposophie verwurzeln und mit den Flügeln in die offene Höhe der Welt schlagen. Christine Gruwez brachte eine dritte, horizontale Ebene der Begegnung hinzu. Immer wenn diese drei Dimensionen zusammen im Raum wirksam wurden, empfand ich das als einen wunderbaren Moment.

Constanza Kaliks Mich hat es sehr berührt, als Gilad Allon sagte: «Hier gibt es lauter erfahrene Menschen, hier sind Menschen, die wissen, was sie tun.» Es sind hierher Menschen gekommen mit ihren Erfahrungen, mit ihrem Können: Das Goetheanum als ein Ort, wo sich Erfahrenheit trifft.

Valdinoci Ja, und diese viele Erfahrung hat sich in den Foren und vielleicht in der gesamten Konferenz geäußert. Ich habe nie «man müsste, man sollte» gehört. So entstand eine Qualität des Zuhörens und gegenseitigen Sich-Wahrnehmens..

Hurter Jemand hat uns als Dank geschrieben, dass es dem Goetheanum gelungen sei, diese sozialen Räume zu bauen, ohne sie selbst zu besetzen, sodass ein Austausch möglich wurde.

Haid Das war bei unserem Kunstpanel auch eindrucksvoll. Wir waren 120 Teilnehmende. Jeden Tag begannen wir mit zwei Kurzbeiträgen. Dann haben wir Fragen gestellt, an denen zu zweit und dann in größeren Runden gearbeitet wurde. Am Schluss sollte man das Ergebnis zusammenfassen. Diese Ernte haben wir dann jeden Tag gesammelt. Das war ein sehr lebendiger Prozess mit schönen Ergebnissen.

Johannes Kronenberg, Foto: W. Held

Was hat überrascht?

Kaliks Dass sich so etwas ereignet hat! Es geschieht ja leicht, dass eine Versammlung in eine kritische Stimmung kippt. Es kamen 1000 Menschen, die sich miteinander verbunden fühlten, ohne einer Meinung zu sein, aber doch mit einer gemeinsamen Frage: Was wird aus dieser anthroposophischen Bewegung in den nächsten Jahren?

Haid Am Nachmittag gab es die Gesprächskreise zur anthroposophischen Weltbewegung. Da tauschten wir uns darüber aus, wie man der Anthroposophie begegnet ist. Da ist sichtbar geworden, dass sich bei jeder Biografie schon viele Jahre vor der äußeren Begegnung mit Anthroposophie im Untergrund ein Faden bildet, der dann irgendwann das Goetheanum am Horizont erscheinen lässt. Da kommen Menschen aus allen Himmelsrichtungen und es entsteht ein gemeinsames Moment! Ein Teilnehmer, der ein Therapeutikum gegründet und sich als Vater in einer Waldorfschule eingesetzt hat, bemerkte, er sei aber kein ‹Anthroposoph›. Da fragte ein anderer zurück: «Was meinen Sie denn mit ‹Anthroposoph›?» Er antwortete: «So wie Sie hier im Kreis sitzen.» «Aber Sie sitzen ja auch hier!», sagte jemand aus der Gruppe. Dann erzählte er, dass er geweint habe, als er ans Goetheanum kam, weil er gefühlt habe, er komme nach Hause. Nicht dazuzugehören und nach Hause zu kommen, das seien die widersprechenden Gefühle. Es gab keine Person in der Runde, die das nicht mitempfinden konnte.

Hurter Ich glaube, das ist ein paradigmatisches Erlebnis. Das kennen wir ja alle und vermutlich kannte es Rudolf Steiner ebenso. Die Anthroposophie kann ich nicht ‹haben›, sondern muss sie immer wieder erringen. Das hat Christine Gruwez in ihrem Vortrag zur Verletzlichkeit eindrucksvoll beschrieben.

Kronenberg In die Vorbereitung der Konferenz fielen ja die Corona-Krise und Russlands Krieg gegen die Ukraine – bei solch dramatischen Weltereignissen kann es bei einer derartigen Konferenz ja nicht nur um schöne Konzepte gehen. Diese Ereignisse haben uns noch deutlicher in die Realität der Gegenwart geholt.

Constanza Kaliks, Foto: W. Held

Spielte dabei Englisch als Konferenzsprache eine neue Rolle?

Kronenberg Es war eine Entscheidung von uns, Englisch und Deutsch im Rahmen einer Weltkonferenz als gleichberechtigte Sprachen zu wählen. Englisch wurde dann ungeplant zur Hauptsprache. Gleichwohl gab es mit den Vorträgen von Peter Selg, Christine Gruwez, Christiane Haid und Wolfgang Tomaschitz auch deutschsprachige Beiträge. So wurde ein Gleichgewicht geschaffen.

Kaliks Die Geste in die Mehrsprachichkeit, ins Kosmopolitische zu gehen, finde ich sehr wichtig, dafür auch wurde das Goetheanum gegründet. Marie Steiner hat bei den eurythmischen Aufführungen auf Tournee Dichtungen in den Sprachen der Gastländer hinzugenommen. Der Auftrag zum Kosmopolitischen ist in den Auftrag dieses Hauses eingeschrieben.

Wie weit haben sich jüngere Teilnehmende an der Konferenz engagiert?

Kronenberg Dieses Wochenende war ich bei einer Veranstaltung in Deutschland, an der ein paar junge Menschen teilnahmen, die auch die Weltkonferenz besucht hatten. Sie haben enthusiastisch von der Konferenz berichtet. Ich vermute, es waren ungefähr 200 Teilnehmende unter 40 Jahren.

Haid Ich hatte aus der Arbeitsgruppe wie auch aus der Stimmung der Konferenz das Gefühl: Das ist die Anthroposophische Gesellschaft der Zukunft. Denn da war diese Schicksalsverbundenheit. Da dachte ich: Wir dürfen nicht noch sieben Jahre warten, bis wir die nächste Konferenz dieser Art machen.

Was lernen wir aus solch einer Veranstaltung?

Haid Wir sind ja nicht als Folge der letzten Konferenz von 2016 zu dieser Gestalt gekommen, sondern wir haben uns gefragt: Was ist jetzt an der Reihe? Und das wird, glaube ich, nie dasselbe sein. Das werden bei einer nächsten Konferenz ja andere Menschen sein, mit ihrem eigenen Blick. Wenn ich zurückblicke, würde ich mehr Gewicht auf Berichte wie jenen von Nana Göbel zur Weltschulbewegung legen, wo wir auch uns selbst kritisch anschauen.

Kaliks Wenn die Konferenz heute beginnen würde, würde sie wohl schon anders sein. Wir haben heute zum Beispiel in Bezug auf den Krieg in Palästina eine andere Lage. Ich glaube, es ist ein grosses Potential – was hier schon im Ansatz da war – diese Realität der anthroposophischen Bewegung als Teil einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, ganz frei in Assoziation verbunden.

Hurter Das Event Goetheanum-Weltkonferenz ist nicht der Abschluss des Prozesses. Wir hatten die Vorbereitung, die Durchführung und jetzt kommt noch ein wichtiges Drittel. Wir wollen jetzt herausfinden: Welche Orientierungsrichtungen, Kristallisationspunkte, Arbeitslinien haben wir für die nächsten sieben Jahre gewonnen? Was heißt ‹Reshaping the movement›?

Christiane Haid, Foto: W. Held

Valdinoci Mich hat überrascht, wie partizipativ die Konferenz geworden ist. Wir erhielten 600 Zuschriften im Voraus, die in die Konzeption der Konferenz eingeflossen sind, und jetzt kommen vielleicht noch mal 200 Rückmeldungen. Ich glaube, dass wir in der Zusammenarbeit aller, die Interesse haben, weitere Schritte gehen können und sollten.

Haid Dabei geht es jetzt darum, dass wir die Ergebnisse der zwölf Foren zusammentragen und schauen, welche Gruppen weiterarbeiten wollen.

Kronenberg Dabei sind die Themen der Foren ja schon ein Resultat von der Weltbewegung. Sie zeigen uns unsere Arbeitsrichtung und was relevant ist in dieser Zeit. Diese Themen wurden aus den 600 Einsendungen extrahiert.

Haid Was wir als Dreiheit aus Goetheanum, Hochschule und Gesellschaft seit 2011 formulieren, das ist jetzt mehr in die konkrete Lebensebene gekommen. Ich glaube, dass die Zukunft der Anthroposophischen Gesellschaft damit zu tun hat, dass man diese Einheit als ineinandergreifend realisiert.

Hurter Wenn wir Gemeinsamkeit wollen, geht es darum, Unterschiedlichkeit auszuhalten und sogar weiter auszuprägen. Das ist nichts Neues, aber es hat sich in der Konferenz bestätigt. Ich sehe im Moment drei Felder des Neugestaltens. Im Innern scheint es mir das zu sein, was Christine Gruwez und auch Constanza Kaliks als das Unfertige, das Verletzliche bezeichnet haben. Ich glaube, diese Kultur ist für die nächsten Jahre wichtig. Da sollten wir hinlauschen. Als äußeres Gestalten könnte ich mir vorstellen, dass wir einen World Council bilden, wo die anthroposophische Bewegung, vertreten durch ihre Repräsentanten und Repräsentantinnen der Anthroposophischen Gesellschaft, zusammenkommt mit den Verantwortlichen der großen anthroposophischen Verbände und Unternehmen. Dann gibt es einen mittleren Bereich, wo es um die Haltung geht. Was manchmal als ‹verwässern› oder ‹sich an die Welt verlieren› bedauert wird, ist das nicht vielmehr ein Verschenken in und an die Welt? Also ein Bereich, wo unsere Arbeit in der Welt aufgeht? Das scheint mir die Spannweite von innerer Gestimmtheit, von einer Haltung und von sozialer Organisation zu sein. In diese Richtung sind wir jetzt, wie ich meine, unterwegs.


Titelbild Ueli Hurter, Foto: W. Held

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