Genies und Menschen mit Begleitungsbedarf haben eines gemeinsam: ihre Unbedingtheit, mit Bedingungen umzugehen.
Bei den einen wirkt das Unbedingte so mächtig in die Bedingungen des Daseins, dass alles Bedingte durchsichtig wird für das Unsichtbare, das alles Sichtbare gestaltet, und bedingt für das Eigentliche. Bei den anderen sind die Bedingtheiten so eng und besonders, dass sie Begleitung brauchen, um sich überhaupt im Dasein halten zu können, und sie bringen auf diese Art und Weise Eigentliches zur Geltung, nicht zuletzt bei den sie Begleitenden.
Als Novalis vor über 200 Jahren dazu aufrief, die Welt und den Menschen zu romantisieren, sah er darin die einzige Möglichkeit, das Unbedingte zu finden, statt immer nur die Dinge. Und jede Zeile seines fragmentarischen Werks spiegelt die tiefe Liebe zu Entwicklung und Bildung des Menschlichen, deren Ziel ein Selbstverständnis ist, das andere verstehen lernt: «Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ich zugleich zu sein. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollständigem Sinn und Verstand für andere. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verstehen lernen.»1
Als Victoria Öttl vor einem knappen Jahr – begleitet beim Schreiben der Sprüche des steinerschen Seelenkalenders – eingeladen wird, genauer zu beobachten, was da während des Schreibens und danach in ihr aufsteigt, macht sie am 10. Oktober 2023 eine geniale Entdeckung: «Es steckt in jedem Spruch das Ich. Selbst wenn das Wort Ich nicht im Spruch steht, steckt das Ich überall drinnen. Mir ist das in den letzten Sprüchen schon aufgefallen, da hab ich mir gedacht, ich muss das mal beobachten, wie sich das in den Sprüchen weiterentwickelt.»2
War die Welt dem Ich bis zum späteren 18. Jahrhundert in Europa so fremd geworden, dass es sich selbst setzen konnte und alles andere als Nicht-Ich, als Welt bezeichnete (Fichte), so ist im frühen 21. Jahrhundert die Entfremdung zwischen Mensch und Welt lebensgefährlich geworden. Heute sind wir zunehmend Zeugen eines menschenverursachten Sterbens der Natur – und wissen, dass sie dringend unsere verstehende, ja liebende Begleitung braucht. Gewiss entsteht diese Begleitung nicht mit dem Blick auf Zahlen und Figuren, vielmehr im Romantisieren. «Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt.»3
Alles Romantisieren zielt als ästhetische Methode auf Weltverwandlung, sie setzt beim Menschen selbst, in seiner eigenen Seele an. In diesem Sinne richtete Rudolf Steiner in seinem ersten großen Versepos4 seine Aufmerksamkeit ganz auf das Verhältnis zwischen der menschlichen Seele und der Natur, genauer: auf die Beziehung zwischen dem weitgehend von Raum und Zeit emanzipierten Wahrnehmungs- und Gedankenrhythmus der Seele und dem ganz im Rhythmus der Jahreszeiten lebenden Naturgeschehen. Die Natur selbst erfährt dadurch zunächst noch keine Veränderung; das poetisierte Anschauen und Empfinden der Natur ermöglicht aber der Seele, sich selbst im Bild des Jahreslaufs zu erkennen – nicht als System oder Maschine, sondern als lebendiges, fühlendes Eigenwesen. Dieses Fühlen erwacht nur allmählich und erscheint zuerst – wie alles fühlende Selbsterkennen – als ein um sein Nichtwissen immer mehr wissendes Fragen.
Victoria Öttl schildert dieses Erwachen in ihrem Leben und Arbeiten mit den 52 Sprüchen an der Schwelle zwischen Sommer und Herbst: «Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, wie das Seelensein sich selbst gewahr werden soll. Ob das mit dem Erschaffen zu tun hat? Ist das so, dass das Seelensein sich selbst erschafft und sich selber im Erschaffen wahrnimmt?»5
Und etwas später, kurz vor der genialen Entdeckung, dass überall Ich ist: «Bin da ich gemeint als Wesen? Die Seele gehört irgendwie zum Wesen, glaub ich. Ich bin das Wesen, das sich selbst betrachtet, oder?»6
Steiners dem Verhältnis von Seele und Natur gewidmetes Versepos richtet sich an ein fühlendes Selbsterkennen und ruft es damit hervor – so wie erst ein Ich zum Ich wird, das als Du angesprochen wird.7 Dieses fühlende Selbsterkennen öffnet den Zugang zu einem Ich, das nicht herrschen will, aber Sinn stiftet, Zugehörigkeiten erkennt und schließlich wahrnimmt, wie alles mit allem zusammenhängt. Dieses Wahrnehmen ist Hervorbringung, Schöpfung.
Fühlende Selbsterkenntnis tritt besonders da an die Stelle der Entfremdung zwischen Welt und Mensch, wo Menschen mit Begleitungsbedarf, Begleitende und geniale Werke zusammenkommen.
Bild Tafel #26, Victoria Öttl (Schrift), Hannes Weigert (Konzept/Farbe), Acryl auf Hartfaserplatte, 50 × 70 cm. Die Malerei, 2021–22
Footnotes
- Novalis, Blüthenstaub, 28. 1798.
- Victoria Öttl zum Seelenkalender-Spruch 28, 2023.
- Novalis, Aphorismen und Fragmente, 1798–1800.
- Steiner schuf zwei große Versepen: 1912/13 schildert das erste ein verstehend-liebendes Verhältnis zwischen Seele und Natur (Anthroposophischer Seelenkalender, GA 40), 1924 erzählt das zweite ein solches zwischen Ich und Geist (Mantrisches Spätwerk zur Begründung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, GA 270).
- Zu Seelenkalender-Spruch 24, 2023.
- Zu Seelenkalender-Spruch 27, 2023.
- Emmanuel Lévinas, Dialog. 1980.