«Ich schaue in die Welt.» Mit diesen Worten beginnen die Oberstufenschüler der Waldorfschule den Tag. Aber was sehen sie da eigentlich? Was ist die Welt? Und wie kommt sie zur Erscheinung? Hans-Christian Zehnters Buch ‹Anschauungen. Vom Vertrauen in die Phänomene› ist eine Einladung, sich der Welt wahrnehmend zuzuwenden.
Die räumlichen Grundkategorien unserer Wirklichkeit oben, Mitte und unten bieten den Einstieg für Zehnters phänomenologische Betrachtungen. In diese Raumesrichtungen finden wir uns hineingestellt, sie konstituieren unsere Welt. Goethe hat in seinem Entwicklungsroman ‹Willhelm Meisters Wanderjahre› die Wahrnehmung dieser Raumesrichtungen ins Bild gebracht. In der pädagogischen Provinz, einem Landstrich, der sich der Erziehung junger Menschen widmet, blickt eine Gruppe von Schülern lächelnd zur Erde hinunter, weitere schauen zum Horizont, andere heben den Blick fröhlich zum Himmel. Was sie da tun? Sie üben Ehrfurcht gegenüber ihrem In-die-Welt-gestellt-Sein. Und das ist nach Goethe die höchste Religion. Das, woran es vielen Menschen fehlt.
Im Schoße dreier Weltbereiche
Was in der Anschauung von oben, Mitte und unten konkret zu erleben ist, erforschen die Lesenden am besten selbst. Besser noch in der Gruppe. Zehnters Begeisterung für das gemeinsame Schauen ist förmlich ansteckend und durch genaue Anregungen und Forschungsfragen ist das Vorhaben für alle Interessierten realisierbar. Die umfassenden Ausführungen zu den drei Raumesrichtungen können vom Lesenden zum Vergleich mit den eigenen Beobachtungen herangezogen werden. Zehnter geht dabei äußerst genau vor, bedenkt sämtliche Eventualitäten, Spielarten – wie etwa den Nähe erzeugenden Einfluss von Föhnwetter auf einen Blick in weite Ferne oder die tiefe Verbindung der Raumesdreiheit zum Denken, Fühlen und Wollen.
Die Erfassung perspektivischer Besonderheiten, die uns unbewusst so vertraut sind, wird in ihrer konkreten Anschauung zu aufschlussreichen Wunderwerken. Eine verblüffende Entlarvung des unbewusst-automatischen Wahrnehmungsapparates. Dabei verknüpft Zehnter seine Ausführungen mit Aspekten der leiblichen Bewegungsmöglichkeiten und dem Einfluss der Zeit. Er zeigt, dass Landschaft nur in Bewegung kommt, wenn der Mensch sich durch sie bewegt. Eine Anregung, das eigene Gehen in der Landschaft bewusst zu betrachten. Auf welchen Pfaden die Lesenden auch wandeln, mit Zehnters Buch finden sie ein komplexes Bild der Weltwirklichkeit an der Kreuzung von Ontologie und Epistemologie wieder.
Die Geburt des Tages
So wie der Mensch nach jeder Nacht einen Inkarnationsprozess durchlebt, so kommt auch die Welt jeden Morgen neu zur Erscheinung. Dabei wird deutlich, wie alles Erscheinen von der Anwesenheit des Lichtes abhängig ist: Die Übergänge von einer stumpfen Dunkelheit zum Morgengrau, dann zum Erscheinen der ersten Farben am Himmel und schließlich das Auftauchen von Rot, Gelb und Blau, das Anheben des Vogelgesangs. Zehnters fein nuancierte Beschreibungen machen Lust, einmal bewusst zu erleben, wie der Tag erwacht. Sich dabei die äußeren Wahrnehmungen mitzuteilen und ebenso nach innen zu spüren, bedeutet zugleich im Selbst- und im Weltbewusstsein zu stehen. Was dann geschieht, ist ein Frühjahrsputz für die Sinne. Sehen zu lernen, heißt nicht nur, die Vorstellung der Dinge zu sehen, sondern die tatsächliche Gestalt erscheinen zu lassen.
Nach den Betrachtungen zum Sehen und zum Auge, als Ort des Hervortretens, widmet sich der Autor weiteren Sinnesbereichen wie etwa dem Hören. Er zeigt, wie in der Anhörung ein gemeinsames Erleben entsteht, wohingegen beim Sehen ein jeder einen individuellen Ausschnitt fokussiert.
Wenn wir die Welt schauen, sie also nicht nur sinnlich, sondern vielmehr seelisch-geistig empfinden, können wir zu einer Einkehr kommen, die uns mit tiefem Vertrauen erfüllt. Wir erleben dann die Grundfesten der Wirklichkeit, die uns sinnlich von ihrem übersinnlichen Wesen berichten. Einen Stein nicht materialistisch zu sehen, sondern das Geistige in ihm zu erspüren, dahin mag Zehnters phänomenologischer Übungsweg führen. In diesem Sinne wird Phänomenologie zur Wesensbestimmung. Erst in dieser Wahrnehmung kommt die Welt wirklich zur Erscheinung. Zehnter geht so weit, dass die Welt ohne unsere Wahrnehmung nicht existieren würde. So wie kleine Kinder sich die Augen zuhalten und denken, sie wären dann weg. Vielleicht ist es so.
Ein Buch, das nicht nur gelesen, sondern praktiziert werden will. Dank der schönen Sprache, dem beschwingten Gestus und der zahlreichen Illustrationen ist die Verständlichkeit weitestgehend gesichert. Dennoch wäre die Anwesenheit des Autors, der als Diplombiologe an der Naturwissenschaftlichen Sektion des Goetheanum tätig war, wünschenswert. Einfach, weil es bestimmt nett wäre. Aber auch, weil die feine Wahrnehmungsgabe und das wissenschaftliche Fundament Hans-Christian Zehnters ein wahres Geschenk sind.
Buch Hans-Christian Zehnter, Anschauungen. Vom Vertrauen in die Phänomene, Verlag am Goetheanum, Dornach 2020