«Friedensstiftende Neutralität sieht anders aus.»

Leserbrief von Christian J. Haefliger zum Artikel ‹Wird Europa erwachen?› in ‹Goetheanum› 8/2023.


Seit dem Zweiten Weltkrieg, seit über 75 Jahren, hat in Europa kein Land einen einseitigen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland geführt, um es zu unterwerfen und einzuverleiben. Diese lange Nachkriegsepoche gesicherter Landesgrenzen ist durch den imperialen Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine auf bedrohliche Weise beendet worden.

Die Wochenschrift ‹Das Goetheanum› bringt es fertig, hierzu in einem Kommentar ihres Redaktors Louis Defèche eine fatal einseitige Sichtweise zu verbreiten, die den Aggressor praktisch unerwähnt lässt, keine Empathie mit den Angegriffenen zeigt, dafür wort- und zitatreich vom tatsächlichen Geschehen ablenkt, um den Fokus auf die USA als vermeintlich Schuldige zu richten. Dabei wird die Vision eines «eurasischen Herzlands» Russland bemüht, das von dunklen angloamerikanischen Weltbeherrschungskräften bedroht werde. Und schon haben wir die Schuldumkehr, wie sie stets von der Kremlpropaganda verbreitet wird.

Welche Missetaten auch immer der westlichen Vormacht zugewiesen werden können und müssen – sie rechtfertigen nie den grausamen Krieg Moskaus gegen die Ukraine. Denn es bleibt bittere Tatsache: Wenn Russland aufhört zu kämpfen, ist der Krieg vorbei. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, hört sie auf zu existieren.

Angesichts einer solch schwierigen Ausgangslage einfach nach Verhandlungen statt Waffenlieferungen zu rufen, ist billig. Aber Defèche würdigt kritiklos das fragwürdige Schwarzer-Wagenknecht-Manifest samt der Berliner Großdemonstration, wo sich die politischen Extremparteien (AFD und Die Linke) so einig zeigten.

Was ist denn da anthroposophisch? Russland unter politischem Denkmalschutz? Weil Rudolf Steiner von der zukünftigen slawischen Kulturepoche (in mehr als 1500 Jahren) kündet, die wir Anthroposophen «vorzubereiten» hätten? Da lob ich mir in der Wochenschrift vom 2. März letzten Jahres das Interview von Wolfgang Held mit der ukrainischen Christengemeinschaftspfarrerin Yaroslava Black-Terletska, in dem diese über diesen Krieg ganz gegenwärtig sagt: «Es fühlt sich an, als würde das letzte, das vorletzte Jahrhundert auferstehen.» Und weiter: «Russland müsse die Ukraine von einem Regime befreien, so lautet das Lügennarrativ. Wir wollen nicht befreit werden, wir sind frei.»

[Wir überspringen einen Teil des Briefes, der sich auf das Interview mit Friedrich Glasl bezieht].

Von ‹uns›, also vom Westen, wird verlangt, die Waffenlieferungen an das malträtierte Land einzustellen und diplomatische Initiativen für Verhandlungen zu lancieren. Frage: Soll das mit oder ohne die Ukrainer geschehen? Im März vor einem Jahr wurden die Verhandlungsangebote Selenskis (Neutralität, Krim-Verzicht) von Putin in den Wind geschlagen, weil Russland die Ukraine, der sie die Eigenstaatlichkeit abspricht, einverleiben will: Verhandlungen wer mit wem also?

Man kann es drehen, wie man will: In beiden Beiträgen der Wochenschrift vom 24. Februar sehe ich tendenziell einen Argumentationsaufbau nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Dabei spielt mit: eine unterschwellige Russophilie (Russland muss verteidigt werden), gepaart mit unterschwelligem Antiamerikanismus (die USA sind stets die wahren Schuldigen). Eine friedensstiftende Neutralität sieht anders aus.

Rohre für Nord Stream 2 in Mukran. Foto: Gerd Fahrenhorst (CC 4.0)

Antwort von Louis Defèche

In meinem Text handelte es sich um einen Kommentar zu einem aktuellen Ereignis: die Aussagen des Journalisten Seymour Hersh. Mir ging es darum, einige kontextuelle Elemente einzubringen, die mir wichtig erscheinen. Es handelte sich nicht um eine einseitige Beschuldigung. Mit dieser Analyse wollte ich nur veranschaulichen, dass es möglicherweise auch besondere geopolitische Interessen der USA in diesem Konflikt gibt. Ich empfinde täglich tiefe Trauer und grenzenloses Mitgefühl für die Opfer dieses Krieges. Und genau diese Empathie ist es, die mich zum Schreiben bringt.

Ich bin in der Nähe von Verdun aufgewachsen, in der französischen Landschaft, die Schauplatz schrecklicher Schlachten war. Diese Erde hat das gemischte Blut junger deutscher und französischer Soldaten aufgenommen, die sich auf grausame Weise gegenseitig umbrachten. Wenn wir als Kinder auf dem Land spielten, fanden wir noch immer Bomben und Waffen in den Flüssen und Feldern. Dieses sehr konkrete Kindheitserlebnis hat mich geprägt und mich zu einem überzeugten Pazifisten gemacht. Schon in jungen Jahren wurde mir klar, dass ein Krieg nur vermieden werden kann, wenn man die Logik des absoluten Feindbildes überwindet. Als ich älter wurde, entdeckte ich auch, dass die Ursprünge von Kriegen immer sehr komplex sind.

In diesem kurzen Text wollte ich nur die Hypothese skizzieren, dass Europa in dieser schrecklichen Katastrophe vielleicht nicht nur einer angreifenden Macht gegenübersteht, sondern wahrscheinlich zwischen den Machtinteressen zweier Großmächte, Russland und den USA, eingeklemmt ist. Europa stünde somit vor der existenziellen Aufgabe, eine ausgleichende Kraft für die Welt zu werden. Dies ist das Bild, das mir vorschwebt, um aus dem Binärdenken auszubrechen, das so viel Zerstörung und Not verursacht. Auch wenn ich mich in meinen Analysen irren kann, ist die einzige Partei, die ich ergreifen möchte, die der Opfer dieses Krieges, damit ihr Leiden so schnell wie möglich aufhört.

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