Frieden ist der Himmel auf der Erde

Noch lange kein Frieden – so lautet das Gutachten von vier deutschen Friedensforschungsinstituten zum russischen Angriffskrieg und zu den weiteren weltweiten Konflikten. 19 Forschende sind an der im Juli 2023 veröffentlichten Studie beteiligt. Acht Schlussfolgerungen enthält das Gutachten (siehe am Fuß des Textes). Ich sprach darüber mit Nikolai Fuchs. Als Vorstand der GLS-Treuhand ist er mit zivilgesellschaftlichen Entwicklungsfragen vertraut. Frieden zu begründen kennt er zudem aus seiner Beschäftigung mit (Ernährungs-)Souveränität auf internationaler Ebene und in seiner aktiven Mitgliedschaft und früheren Beiratstätigkeit in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler VDW, die aus den ‹Göttinger Achtzehn› im Nachgang der Nuklearforschung hervorgegangen ist. Das Gespräch führte Wolfgang Held.


Wir nehmen das Gutachten der vier Friedensinstitute zum Anlass, um darüber zu sprechen, wie der Weg aus dem russischen Angriff auf die Ukraine zum Frieden führen kann. Wie hast du diese Studie gelesen?

Nikolai Fuchs Mit gemischten Gefühlen. Wir an sich Friedensbewegten müssen uns wohl noch daran gewöhnen, dass heute ein Friedensgutachten beinhalten kann, Waffenlieferung zu empfehlen. Ist das nicht ein Widerspruch? Seit Februar 2022 bin ich, und vermutlich sehr viele andere, nachdenklich, wie es sich mit Krieg und Frieden verhält, was Pazifismus heute bedeutet. Ich bin wie du in einer Generation groß geworden, die ‹Krieg und Frieden› von Tolstoi gelesen hat und die tief davon überzeugt war: Nie wieder Krieg! Unzählige Aufkleber mit dieser Losung und ein 80 Jahre lang weitgehend friedliches Europa als Unterlegung gehören zu dieser Gewissheit. Dabei vergessen wir allerdings leicht den Balkankrieg in den 90er-Jahren, wenn wir sagen, in Europa war kein Krieg. Jedoch: Diese Atmosphäre des Friedens hat uns, so meine ich, in dem Glauben, vielleicht auch in der Illusion gehalten, dass wir schon in einer friedlichen Welt leben und nur einige ferne Länder, religiöse Eiferer das noch nicht verstanden haben – heutige Kriege als Echo einer alten Zeit. Doch so ist es angesichts von weltweit aktuell 21 Kriegen – so viel listet das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung auf – leider nicht. Das aktuelle Gutachten drängt dazu, sich diesem vermeintlichen Widerspruch in der Seele von Friedenswillen und Militarisierung zu stellen.

Weil wir dachten, mit dem neuen Jahrhundert lassen wir das Kämpfen und Töten hinter uns.

Ja – weil Krieg barbarisch ist! Während wir uns hier mit Fahrradhelmen ausstatten als Sinnbild dafür, wie wichtig uns jedes einzelne Leben ist, sterben dort drüben Zehntausende auf gewaltsame Weise, mit abgerissenen Gliedmaßen durch Tretminen zum Beispiel. Aber vergegenwärtigen wir uns: Auch hier in Mitteleuropa haben alle Länder eine Armee, auch die Schweiz. Ich bin neulich noch einmal an einem der vielen Schießstände hinter den Orten vorbeigekommen, da lernen die Mitbürgerinnen und Mitbürger am Wochenende Schießen mit dem Ziel, in der Lage zu sein, Menschen zu töten. Wenn man mit offenen Augen durch die Landschaft geht, zum Beispiel im Umkreis des Goetheanum – im Übrigen auf dem ‹Bluthügel› einer Schlacht von vor gut 500 Jahren gelegen –, dann sieht man die mittelalterlichen Burgen auf den Hügelkuppen mit ihren Wehranlagen, und wenn man zur nahen Waldorfschule geht, dann läuft man an den Panzersperranlagen des Zweiten Weltkriegs vorbei. Ich sprach kürzlich mit einer Frau, die in Riehen, an der Grenze zu Deutschland aufwuchs und erzählte, wie sie nicht zur Schule konnten, weil die Rheinbrücken zur Sprengung präpariert wurden. Das sind Bilder, Erzählungen, die uns zeigen, dass kriegerischer Konflikt auch hier nicht lange her und in seinen Zeugnissen präsent ist. Die Umsicht, Fahrradhelme aufzusetzen, diese Sorge um jedes Leben, ist wunderbar, aber in der großen menschlichen Erzählung haben wir diesen inneren Ort, das menschliche Leben unzweifelhaft als das Höchste zu achten, noch nicht erreicht.

Jetzt sind es ausgewiesene Vertreter des Pazifismus, wie Heinrich Strohm-Bedford, der Vorsitzende des Weltkirchenrates, die sich für militärische Unterstützung der Ukraine aussprechen. Eine Beschwichtigung des Aggressors biete gegenwärtig keinen gangbaren Weg zu einem nachhaltigen Frieden. Das ist Strohm-Bedfords Formulierung.

Ja, weil wir den Frieden gerade mit ‹normalen› Mitteln nicht halten konnten. Wir müssen neu an Zuständen arbeiten, die Frieden sichern. Dabei taucht ein Begriff auf, den man vielleicht überhört, überliest: Das ist das Wort ‹Friedenssicherung›. Frieden ist ähnlich wie Demokratie kein gottgegebener Zustand, sondern ein Zustand der dauernden Bemühung. Für mich ist Frieden ein himmlischer Zustand, den des immer mehr auf die Erde zu holen gilt. Dafür brauchen wir hier auf der Erde im Moment noch ganz offensichtlich weltliche oder irdische Mittel, um den Frieden zu sichern. Die letzten Familienferien verbrachten wir in der Gegend von Avignon, der Stadt Südfrankreichs, wo im Juli das Theaterfestival stattfindet. Da sieht man diese gewaltige halb mittelalterliche und gut erhaltene Stadtbefestigung. Das erinnert daran, in welchem Maß Städte, Gemeinden sich früher sichern mussten, damit Kultur und Frieden innerhalb der Mauern leben konnten. Ich hatte das Gefühl, dass man sich auch heute noch von diesen großen Stadtmauern in der Stadt geschützt fühlt und sich leichter öffnen und in diesem interkulturellen Theaterfestival gegenseitig begegnen kann. Das heißt, man braucht Schutz, damit Frieden leben kann. Die Mauer hat somit auch heute noch eine gewisse Funktion, den Frieden und die Kultur in ihrem Inneren möglich zu machen. Ich glaube, dazu müssen wir neu aufwachen. Schutzlos ist Frieden möglicherweise sehr flüchtig.

Du hast Frieden mit Demokratie verglichen. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, hat es in die viel zitierten Worte gefasst, dass Demokratien die Bedingungen für ihr Überleben und ihren Erfolg nicht selbst hervorbringen können. Demokratie braucht eine Bejahung außerhalb ihrer selbst. Und jetzt sagst du, beim Frieden ist das auch so? Die Mittel, die ihn erhalten, sind jenseits des Friedens, sind nicht Blumen – um das Klischee als Bild zu wählen –, sondern Mauern?

Das ist es, was wir jetzt, wie es aussieht, neu lernen müssen. Noch mal wach dafür zu werden, dass Frieden eben eher ein himmlischer Zustand ist auf der Erde, den es mit irdischen Mitteln zu sichern gilt. Dazu gehören möglicherweise sinnbildliche Mauern und dazu gehört vor allem eine glaubwürdige Abschreckung. Wir haben das ja viel öfter im Leben, als wir denken, wenn wir darüber nachdenken. Wir schließen unsere Häuser ab und zeigen außen die Alarmanlage, wir schließen unsere Autos ab, und wenn wir den großen Bruder die kleine Schwester vom Bahnhof abholen lassen, dann gehen wir davon aus, dass seine große Gestalt andere davon abhält, dem Kind etwas anzutun. Das heißt, wir leben tagtäglich damit, Frieden zu sichern. Ich glaube, das müssen wir neu ins Bewusstsein heben und uns für den heutigen Zivilisationsstand zugestehen. Man stelle sich beispielsweise Israel ohne atomare Abschreckung oder Taiwan unbewaffnet vor.

Der Topos der ‹einen Menschheit› bleibt ein Wunschtraum?

Ich meine nicht, wenn wir Ja dazu sagen, dass es für die Verwirklichung dieses Ideals Haltungen und Maßnahmen braucht. Der Glaube, dass es irgendwann keine Aggression und damit einhergehend keine Gewalt mehr gibt, das wäre wie ein Paradies ohne Schlange, wie Christus ohne Luzifer und Ahriman. Nein, zur Freiheit gehören die Abgründe. Damit Aggression und Gewalt, diese Urkräfte der Seele, in der Seele sich verwandeln können, braucht es Maßnahmen, Haltungen und Einsichten, um ein Leben in gegenseitigem Respekt führen zu können. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde als eine solche Maßnahme der Völkerbund gegründet, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die uno verwandelt hat. Auch die Bretton-Woods-Institutionen wie die Weltbank, der Währungsfonds, gatt bzw. die wto: Letztlich sind das ja alles Instrumente gewesen aus den Lehren der zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts, wo wir als Menschheit begriffen hatten, dass Frieden kein selbstverständliches Momentum ist, sondern dass man sich fortwährend darum bemühen muss. Dabei wissen wir gut, dass diese Institutionen zum Teil noch weit davon entfernt sind, das zu leisten, wofür sie gegründet wurden.

Ein Frieden, der nichts kostet, den gab es in der Antike als ‹Pax Romana› oder ‹Pax Augustus›, den ewigen Frieden Roms. Der war aber dann das Diktat der einen dominierenden Nation und Kultur.

Genau. Du kannst andere unterwerfen und ihnen die Mittel, sich zu wehren, rauben. Das ist aber im Grunde ein Waffenstillstand und kein Frieden, wie hier die Zeit nach Rom eindrücklich belegt. Was wir als zivilisatorische demokratische Errungenschaften haben, ist ja gerade die Mitbestimmung. Viele, viele Menschen haben in der Geschichte der Menschheit für dieses Gut ihr Leben geopfert. Dieses Gut gilt es meiner Ansicht nach zu verteidigen. Diese Freiheit ist ein hoher Wert, den wir da erreicht haben. Mir scheint es manchmal so, dass manche, die jetzt in dieser Überfall-Situation für klassische Friedensgespräche werben, zu einem allzu günstigen Preis bereit sind, diese hohen Werte Demokratie, Mitbestimmung und Freiheit als Pfand anzubieten. Aber dann verliert man diese, wie ich finde, herausragenden zivilisatorischen Errungenschaften. Ich will nicht in einem autoritären oder gar diktatorischen Staat leben, wo Frieden Unterdrückung bedeutet. Freiheit, so bin ich überzeugt – auch wenn mir selber als Kriegsdienstverweigerer dabei die Knie weich werden –, dafür lohnt sich zu kämpfen. Der Erzengel Michael, heute Zeitgeist, hat neben der Waage in der einen auch das Schwert in der anderen Hand. Das heißt, es geht auch um Durchsetzung des Rechts.

Das meint der zweite Punkt des Friedensgutachtens: «Verhandlungen in den Blick nehmen, aber nicht um jeden Preis». Sie verweisen darauf, dass es vor dem Überfall eine Reihe von Verabredungen gab. Das war das Minsker Abkommen, zuvor das Budapester Abkommen, die alle gebrochen wurden. Zum Gesetz gehört die Sanktion, die es durchsetzt.

Ja, wenn wir alle gemeinsam ein Völkerrecht vereinbaren, dann müssen sich alle daran halten, oder sie haben Sanktionen zu gewärtigen. Sanktionen sind ja nichts anderes als Konsequenz. Im Fall Russlands war das ja auch der Ausspruch von Präsident Biden in den Monaten November 2021 bis Februar 2022. Der Preis für einen etwaigen Überfall muss hoch sein. Diese Worte hat dann auch Annalena Baerbock benutzt. Der Preis muss so hoch sein, dass Russland nicht angreift. Aber man hat unterschätzt, welchen Preis Putin – ich nenne ihn jetzt stellvertretend für viele im Kreml – zu zahlen bereit ist. Zehntausende, Hunderttausende Menschen, vor allem aus Bevölkerungsgruppen aus dem entfernteren eurasischen Raum, die ihm nicht nahestehen, in den Krieg, ins Verderben zu schicken, scheint ihm keine schlaflosen Nächte zu bereiten. Als Weltgemeinschaft haben wir unterschätzt, welchen Blutzoll er zu bezahlen bereit ist, um seine Visionen durchzusetzen. Rückblickend ist vielen klar geworden, dass man ihm die völkerrechtswidrige Annexion der Krim nicht hätte durchgehen lassen dürfen. Das hat ihn nur aufgebaut. Damals wäre der Blutzoll absehbar deutlich niedriger gewesen. Je länger man wartet, Konsequenzen spürbar zu machen, umso schlimmer.

Sehnsucht nach Geltung. Die Schweiz zeigt ja, wie man sich durch politische Kultur Respekt erwirbt. Könnte sich Russland nicht auch anders Geltung verschaffen?

Ich meine auf jeden Fall – indem es zum Beispiel Antworten auf die großen Fragen der heutigen Zeit anbieten würde: Wo liegen die Herausforderungen und wie kann ich Lösungen bieten? Ich meine, es ist doch offensichtlich, dass die Bodenschätze wie Erdöl der Vergangenheit angehören, dass die Zukunftsaufgaben woanders liegen, zum Beispiel darin, co₂ einzulagern. Russland hat so viele Moore, es könnte so viel Land wieder vernässen, das zuvor trockengelegt war, und so die Nummer eins werden im co₂-Speichern. Russische Verantwortliche würden dann in allen Talkshows und an allen Konferenztischen der Welt sitzen, weil der Klimawandel alle bedroht, und Russland hätte die Lösung und könnte den weniger reformwilligen Demokratien zeigen, was möglich ist. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass manche Geschichtsbücher über Macht nicht über die Seite eins hinaus gelesen werden. Genauso, wie wir aus geschichtlich leidvoller Erfahrung wissen, dass Inseln immer nach Autonomie streben – siehe England, Sri Lanka, Taiwan, um nur einige zu nennen, und dass Bombardierung der Zivilbevölkerung die Unterstützung für die kriegsführende Elite nicht bricht.

Dann fordern die Forschenden, dass der Topos der ‹feministischen Außenpolitik› glaubwürdig sein müsse. Wo man, wie beim Iran, Kompromisse schließen müsse, solle man diese auch erklären. Ist unsere Gesellschaft dafür bereit?

Ich glaube, dass wir diesen Weg beschreiten müssen. Wir müssen uns glaubwürdiger machen. Da braucht es vor allem jedoch Konsequenz, auch wenn die ihren Preis hat. Das ist wiederum eine Herausforderung für unsere Demokratie. Trägt die das mit? Heute sitzen Wirtschaftskapitäne im Kanzleramt zu häufig mit am Tisch und werfen ihre Interessen in die Waagschale, zum Beispiel in der Chinapolitik. Da sehen wir, dass unsere gesellschaftliche Urteilsbildung heute stark von Wirtschaftsinteressen dominiert wird. Gerade in der repräsentativen Demokratie sind sie erstaunlich stark, diese Wirtschaftsinteressen. Deswegen braucht es aus meiner Sicht, und dafür stehe ich schon lange ein, als dritte Säule im Sinne einer neu gedachten gesellschaftlichen Dreigliederung eine starke Zivilgesellschaft.

So könnte Europa auch in Afrika wieder Respekt gewinnen. Gegenwärtig scheint der verspielt zu sein.

Wir haben Entwicklungshilfe in der Vergangenheit gerne so verstanden, dass wir den Afrikanern Geld geben, damit sie unsere Maschinen kaufen, sage ich verkürzt. Das ist natürlich nicht glaubwürdig. Die afrikanischen Länder, die deshalb sich mit China verbanden, merken jetzt aber, in welche neue Abhängigkeit sie geraten sind. Sie suchen nach einer Alternative, und sie wollen sich angesichts der historischen Last nicht Amerika andienen. Europa wäre der eigentliche Partner, ich meine, wenn es ‹mea culpa› signalisieren würde im Sinne von: Wir haben Fehler gemacht und wir wollen es korrigieren. Das traue ich Macron und Scholz durchaus zu, dass sie diesen Schritt machen. Lasst uns einen Neuanfang der Zusammenarbeit machen, wie wir euch so stärken, dass ihr euch gleichzeitig in den gesellschaftlichen Institutionen stärkt, und auch die Zivilgesellschaft. Und dass wir auf Augenhöhe in wirtschaftliche Partnerschaften eintreten. Die Zivilgesellschaft wäre da aus meiner Überzeugung ein wesentlicher Transformationstreiber.

Militärhistoriker und Friedensforscherinnen sagen, dass Kriege, die nicht nach wenigen Wochen beendet werden, durchschnittlich zehn Jahre wüten. Solch ein Szenario will man sich ja gar nicht ausmalen.

Durchaus, denn der Krieg Russland-Ukraine besteht ja bereits seit 2014 mit der Annexion der Krim bzw. den östlichen Bezirke Luhansk und Donezk! Wir schreiben bereits das zehnte Jahr des Krieges! Wir westlichen Länder waren damals über den Protest und einige Sanktionen hinaus nicht konsequent, nicht glaubwürdig genug, den Bruch des Völkerrechtes zu ahnden, und das hat Putin Mut gegeben, sich auf diese Art und Weise scheibchenweise Territorien anzueignen, wie auch im Kaukasuskrieg 2008 usw. Die Drohkulisse seitens der internationalen Staatengemeinschaft war nicht glaubwürdig, das haben ja Politiker und Politikerinnen aus Deutschland heute eingeräumt. Daraus gilt es, die historische Lehre zu ziehen.

Welche ziehst du?

Unsere Welt ist mit Stand heute offenbar so, dass wir nur mit einer gewissen Stärke den Frieden bewahren können. Wir dürfen nicht schläfrig werden, da es noch immer viele vermeintliche Gründe gibt, Kriege vom Zaun zu brechen. Wird es so noch lange gehen? Ich glaube ja, und wir werden mit dem Momentum Krieg, ohne den übrigens der Begriff Frieden keinen Sinn macht, meiner Vermutung nach noch lange leben müssen. Das heißt, wir müssen schauen, wie wir ihn einhegen, ihn so gering und so klein wie möglich halten. Menschheitlich wird der Krieg erst vorbei sein, wenn wir die Regungen in uns, die zum Krieg führen, beherrschen können, erst, wenn wir nicht andere, sondern uns selbst beherrschen können.

Im Friedensgutachten wird von einer zweigleisigen Strategie gesprochen. Man solle die Ukraine mit Waffenlieferungen darin unterstützen, sich gegen den Rechtsbruch und den Terror zu wehren, und parallel eine Kontaktgruppe für die Zeit nach dem Krieg aufbauen. Was kann das heißen?

Mir scheint, wir müssen vor allem von den Kriegsgründen wegführen. Frieden kann ja auch dadurch entstehen, dass man neue Aufgaben gemeinsam angeht, wie kürzlich die Regenwaldkonferenz der südamerikanischen Staaten. Also am besten die naheliegenden großen Aufgaben wie den Klimawandel angehen. Können wir da nicht tatsächlich mit Russland an einer gemeinsamen Strategie arbeiten? Können wir neue Felder der Zusammenarbeit öffnen, wie die erwähnten co₂-Senken, jenseits der so verhakten Felder wie Gaslieferungen etc. Indem wir so Szenarien einer kooperativen gemeinsamen Zukunft entwerfen würden, könnte der Kriegsgrund kleiner werden. Insofern fände ich eine gegebenenfalls gemeinsame Visionsgruppe jetzt wichtiger als eine Kontaktgruppe, die ja momentan ohne Konzessionen an den Aggressor gar keinen Kontakt aufbauen kann.

Der Krieg flimmert täglich auf die Bildschirme und bestimmt die Titelseiten der Zeitungen. Gleichzeitig ist er, wenn wir den unveränderten Wohlstand nehmen, doch weit weg. Es gehört zur Anthroposophie, das, was außen geschieht, als Spiegelung innerer Prozesse zu verstehen. Was ‹spiegelt› der Krieg?

Wir sprachen vorhin über die Konsequenz, die wir als Weltgemeinschaft vor neun Jahren bei der Annexion der Krim vermissen ließen. Für mich bildet sich derzeit, wenn wir als GLS-Treuhand beispielsweise die Russische Menschenrechtsorganisation Memorial unterstützen, aber auch wenn ich mit meinen Freunden von der Sophia-Stiftung in der Ukraine spreche, der Begriff ‹Konsistenz› heraus. Ich merke, dass auch im Gespräch ganz wichtig ist, dass man konsistent vorgeht und wirklich fragt: Was ist jetzt der Bedarf? Wer stellt welchen Antrag? Was braucht es da noch zusätzlich? Was ist der nächste Schritt, wie können wir Wiederaufbau ins Auge fassen, um schon nach vorne zu denken? Das braucht, was ich konsistentes Vorgehen nenne. Es braucht meiner momentanen Empfindung nach innere Stabilität, Ruhe, Besonnenheit, um Schritt für Schritt, mit Visionskraft, den Weg in die Zukunft zu bauen. Da merke ich, dass diese Konsistenz eine starke, konzentrierte Ichqualität beschreibt, die die Zukunft ergreift, die Zukunft hereinholt. So vorzugehen kann die Kriegsgründe in Zukunft vielleicht kleiner machen und damit letztlich mehr Frieden entstehen lassen.


Empfehlungen der Friedensinstitute

1. Fortdauernde Unterstützung der Ukraine sicherstellen: Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe bleiben notwendig, um die Selbstverteidigung der Ukraine zu ermöglichen und das Völkerrecht wiederherzustellen. Eine Beschwichtigung des Aggressors bietet gegenwärtig keinen Weg zu nachhaltigem Frieden.

2. Verhandlungen in den Blick nehmen, aber nicht um jeden Preis: Verhandlungen müssen jetzt vorbereitet werden. Eine zukünftige Verhandlungsinitiative muss vom gescheiterten Minsk-Prozess lernen und mit substanziellen Sicherheitsgarantien für die Ukraine verbunden werden.

3. Feministische Außenpolitik muss in konkreten Fällen glaubwürdig bleiben: Solidarität mit den Protestierenden im Iran muss sich bei konsequenter Werteorientierung in härteren Sanktionen gegenüber dem Regime in Teheran niederschlagen. Sollte dies nicht erfolgen, müssen die Gründe transparent gemacht werden.

4. Wagner-Gruppe sanktionieren: Die Wagner-Gruppe ist nicht nur in Russland aktiv, sondern übt eine destabilisierende Wirkung auf die Friedensbemühungen in der Sahel-Region aus. Die Bundesregierung sollte die Wagner-Gruppe als kriminelle Gruppierung einstufen.

5. Zivile Hilfe nicht durch militärische Logik bestimmen lassen: Humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung gehören zusammen. Dies darf aber nicht zur sicherheitspolitischen Vereinnahmung oder zur Kopplung von humanitärer Hilfe an politische Erwägungen führen.

6. Fokus auf Rüstungskontrolle aufrechterhalten: Substanzielle Abrüstung ist gegenwärtig unwahrscheinlich. Dennoch müssen Rüstungskontrollanstrengungen aufrechterhalten werden. Krisenkommunikation und die Sicherheit von Kommando- und Kontrollstrukturen benötigen Aufmerksamkeit, um Eskalation durch Fehlwahrnehmung zu verhindern.

7. Verflechtung sichert nicht den Frieden, kann ihn aber unterstützen. Umfassende Entflechtung zwischen westlichen Staaten und China ist friedenspolitisch kontraproduktiv und minimiert die Möglichkeiten politischer Einflussnahme.

8. Politischen Protest nicht kriminalisieren: Politische Proteste sind Ausdruck demokratischer Vitalität, solange sie nicht für extremistische Botschaften genutzt werden und gewaltfrei sind. Eine Verschärfung des Strafrechts, präventive Ingewahrsamnahmen und Diffamierungen sind keine angemessene Antwort auf zivilen Ungehorsam.

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Illustration Fabian Roschka, Ohne Titel, 2023

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