Freiheit, der Ort der Zukunft

Freiheit ist, wenn wir durch bewusste Denktätigkeit eine Idee erfassen und zum Motiv unseres Handelns erheben. Dabei geht es darum, sich seines willentlich-geistigen Eigenlebens bewusst zu werden.


Ideen sind an sich lebendige, kraftende Entitäten, aber sie werden aufgrund ihrer Spiegelung am physischen Gehirn herabgelähmt zu etwas Abstraktem, Totem. Deshalb ermöglichen sie uns die Freiheit. Sie zwingen uns nicht, weil sie keine eigene Kraft mehr in sich haben. Im Gegenteil: Wir müssen im Denken tätig sein, damit die Gesetzmäßigkeiten, die Erkenntnisideen der Naturwissenschaft und der Mathematik erscheinen. Sie treten nicht von selbst auf, wie unsere Gefühle, Triebe, Gewissensbisse oder unsere Erinnerung. So ist es auch für die Ideen, die wir unseren freien Handlungen als Motive zugrunde legen. Deshalb sagt Steiner schon in den ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goethe’schen Weltanschauung›: «Der Weltenlenker hat sich jedes Eigenwillens begeben [entsagt], um alles von des Menschen Willen abhängig zu machen». Historisch wurde das veranlagt im Zeitraum des Mysteriums von Golgatha. Das Vermögen, die lebendigen Ideen bloß zu empfangen, versiegte. Zurück blieb das Erleben von Gedanken, die nicht mehr von selbst auftraten, sondern durch Eigentätigkeit hervorgebracht werden mussten. Die Ergebnisse der Naturwissenschaft sind Leistungen des menschlichen Geistes, der die Ideen am Gehirn spiegelt und dadurch zu toten Gedanken kommt. Hegels Diktum am Ende der ‹Phänomenologie des Geistes›, das Denken sei die ‹Schädelstätte des absoluten Geistes›, ist wörtlich zu nehmen. Im Kleinen bringt und brachte der Weltgeist sein Leben an der Schädelstätte des menschlichen Geistes, im Großen an der historischen Schädelstätte (Golgatha) zum Opfer, damit der Mensch sein geistiges Leben entfalten kann. Gemäß Rudolf Steiner fand das Opfer Christi deshalb statt, «damit wir selbst Geistwesen werden».

Denkinhalt und Denktätigkeit

Im Ganzen waren es hundert Arbeitsgruppen, in denen die Therapeuten und Ärztinnen sich austauschten oder gemeinsam auf die Suche gingen. Foto: Xue Li.

Die Erkenntniswissenschaft zeigt, dass der (geistige) Denkinhalt nicht uns, sondern der Welt gehört bzw. dass die Welt mit ihrer Materie nur der Erscheinung nach sinnlich ist, dem Wesen nach aber geistig. Diese Erkenntnis führt zu einer neuen, geistgemäßen Naturwissenschaft. Vor 100 Jahren sprach Steiner bei den Ärzten aus, dass die Erneuerung der Medizin vor allem eine Richtungsänderung des naturwissenschaftlichen Denkens nötig mache, und bei den Pädagogen, dass zur Rettung der Zivilisation die gesamte physikalische, chemische, biologische Vorstellungswelt neu aufzubauen sei. Diese Neubildung der Wissenschaften setzt aber eine Schulung der sich selbst bewussten Denktätigkeit voraus, wozu Steiner ausdrücklich die ‹Philosophie der Freiheit› geschrieben hat. Es entstehe durch deren Übung eine kraftvolle, lebendige denkerische Seelenverfassung, die Steiner eine künstlerische nennt und die auch den Kern eines neuen Ausbildungswesens bilde. Das gilt selbstverständlich auch für die Medizin. So wird gemäß Rudolf Steiner Michael der Weg in die moderne Zivilisation bereitet.

Denkwille und Meditation

Das Prinzip der Meditation auf dem anthroposophisch-michaeli­schen Schulungswege ist, so Rudolf Steiner und Ita Wegman in ihrem Buch für die Heilkunst, die ‹Erkraftung›, ‹Verstärkung› des Denkens durch aktive Konzentration ‹aller Kraft der Seele› auf einen geistigen Inhalt. Durch diese Erkraftung des Denkwillens werde das Kraftelement, aus dem das Denken geschöpft ist, ohne dass es dem Menschen zunächst bewusst wird, nämlich das Ätherische, allmählich zum Bewusstsein gebracht. Steiner führt dazu aus: «Im Verfolgen dieses Übens kommt man zu einer Verstärkung der Denkkraft, von der man vorher keine Ahnung hatte. Man fühlt die waltende Denkkraft in sich wie einen neuen Inhalt des Menschenwesens. Und zugleich mit diesem Inhalt seines eigenen Menschenwesens offenbart sich ein Welteninhalt, den man vielleicht geahnt, aber nicht durch Erfahrung gekannt hat», also das Ätherische innerhalb und außerhalb des eigenen Leibes. Michael lehrt den Menschen, sich des Lebens des Geistes in sich und der Welt bewusst zu werden. Dazu hat Rudolf Steiner seine Grundschriften als Übungsbücher geschrieben. Es steht in unserer Freiheit, ob wir den Denkwillen in ihrem Sinn in uns aktivieren wollen. Aber das Fortkommen der Anthroposophischen Medizin in den nächsten 100 Jahren wird u. a. davon abhängen, ob wir diese Freiheit ergreifen oder nicht.

Peter Heusser


In der Heilpädagogik ist Freiheit die Quelle zu neuen Ideen und Handlungen – für alle

Die anthroposophische Heilpädagogik feiert in vier Jahren ihren 100. Geburtstag und die Heilpädagogen und Sozialpädagoginnen feiern gern. Wir feiern Geburtstage, Erzengel, Heilige, Sonnenwende, Natur, in stiller eigener Weise verstorbene Kinder, Mitarbeitende, Betreute, die uns inspiriert und begleitet haben in unserem Üben. Feiern heißt würdigen, danken, heißt loslassen und etwas Neues anfangen. Wie können wir in der täglichen Arbeit, zum Beispiel in unserer kleinen Tagesstätte der Heilpädagogik in Belgien, einen Freiheitsraum schaffen, die Begeisterung pflegen und üben? Im Flämischen heißt Begeisterung ‹Bevlogenheid›. Das hat etwas mit Flügeln und Fliegen zu tun. Wie komme ich in einen Arbeitsmodus, sodass ich Flügel fühle, dass ich begeistert diese Flügelqualität mitbringe? Wir stehen morgens miteinander im Kreis und haben einen Spruch, mit dem wir anfangen: «Pflege deine Gedanken, denn sie werden deine Worte sein. Pflege deine Worte, denn sie werden deine Taten sein. Pflege deine Taten, denn sie werden deine Gewohnheiten sein. Pflege deine Gewohnheiten, denn sie werden deine Werte sein. Pflege deine Werte, denn sie werden dein Leben erfüllen.»

Wie können wir also frei werden von unserem kleinen Selbst? Die Kinder kommen mit einer Diagnose. Diese ist determiniert und unfrei. Wer nur die Diagnose sieht, sieht nicht das Kind. Damit entspricht sie der Vergangenheit. Wie schaffen wir dann Zukunftsmöglichkeiten?

Eine selbstlose Tat

Wie unterstützen wir die Kinder, sodass sie eine erfüllte Biografie leben können? Sie kommen aus der Vergangenheit und sind mit uns unterwegs zur Zukunft. In der Mitte ist ein Augenblick, rätselhaft, wo es auch möglich ist, Unendlichkeit zu erleben. Wie komme ich an diesen Punkt: in voller Geistesgegenwart dort sein, ‹beflügelt› sein? Kennen Sie noch das Gefühl, Flügel zu haben? Erinnern Sie sich, dass jemand zu Ihnen sagte, Sie seien ein Engel? Haben Sie etwas getan, was von diesem Menschen als frei und selbstlos erlebt wurde? Das erleben unsere Eltern, die uns sagen, dass wir Mut haben und eine Engelsgeduld. Wie können wir also frei werden von unserem kleinen Selbst? Die Kinder kommen mit einer Diagnose. Diese ist determiniert und unfrei. Auch unsere Mitarbeitenden werden mit dieser Diagnose unfrei. Wer nur die Diagnose sieht, sieht nicht das Kind. Damit entspricht sie der Vergangenheit. Wie schaffen wir dann Zukunftsmöglichkeiten? Wie lerne ich diesen jungen Menschen kennen, sodass ich weiß, was für ihn die bestmögliche Variante von allen möglichen Therapien, Aktivitäten, Übungen ist, die wir anbieten können. Ich muss mich erst engagieren, erst in der Begegnung leben, zuhören, mich einleben. Das bringt dann jahrelange Inspiration. Wir als Heilpädagogen und Heilpädagoginnen bringen ein Bild als Brücke zur übersinnlichen Wahrheit mit – das viergliedrige Menschenbild. Es ist ein Tor für uns. Wir suchen aktiv die Entwicklungsdynamiken hinter den Symptomen. «Derjenige, der Erzieher werden will für diese Kinder, wird nie fertig. Für den ist jedes Kind wieder ein neues Rätsel. Aber er kommt nur darauf, wenn er geführt wird, durch die Wesenheit im Kinde, wie er es im einzelnen Kind machen muss. Es ist eine unbequeme Arbeit, aber die einzig reale», sagt Steiner im ‹Heilpädagogischen Kurs› und meint auch: «Das Krankheitssymptom ist eigentlich etwas Wunderbares. Wenn ein abnormes Symptom auftritt, so ist etwas da, das geistig angesehen näher dem Geistigen steht als dasjenige, was der Mensch in einem gesunden Organismus tut. Dieses Näher-dem-Geistigen-Stehen kann nur nicht in der entsprechenden Weise im gesunden Organismus sich betätigen.»

Meditation

Wo bauen wir also eine Brücke? Ich muss vorbereiten, was jetzt das Richtige ist, was ich machen muss im Dienste der Entwicklung des Kindes. Da sagt Steiner: «Liebevolle Hingabe, mit Andacht zum Kleinen, nicht in Abstraktionen schwelgen, aber durchschauen, mit esoterischem Mut, innerlichem Mut, mit Opferwilligkeit, mit Überwindung seines kleinen Selbst diesen Stern im Herzen aktiv scheinen zu lassen, leuchten zu lassen, dass durchdringt, mit innerem Verständnis, worauf es ankommt.» Wie die Sonne die äußere Welt beleuchtet, so muss ich das innere Licht mit meinem Herzen entzünden. Ich muss die innere esoterische Wahrheit, die das Kind braucht, herausfinden und sie in das exoterische Leben hinausstrahlen lassen. Eine esoterische Wahrheit sollte man am Abend in die Seele legen, nach der Rückschau, wenn ich meinen Tag überblicke und schaue, wo ich das geschafft habe. Wo hat das Licht geleuchtet? Da schaffe ich die Freiheit zu lernen, neue Fragen können aufleuchten. Das nehme ich mit in die Nacht, auch mit dem Satz ‹In mir ist Gott›. Das führt zum Erlebnis dieser inneren Kraft und es wachsen der Seele Flügel. Dann gehe ich in den Morgen mit der Meditation ‹Ich bin in Gott› (Punkt-Umkreis-Meditation). Das ermutigt eine offene Haltung für den Tag. Darin werde ich frei und empfänglich. Ich kann das alles nicht allein. Diese Arbeit für die Kinder braucht multidisziplinäre Zusammenarbeit, mit Fachleuten, Krankenhäusern, Eltern, Großeltern, Geschwistern und uns. Wir bilden eine Schicksalsgemeinschaft, im Sinne des Zitates von Steiner: «Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft sich bildet der Einzelseele Kraft.» Oder wie Jörgen Smit es benennt: «Wir sind unserer Aufgabe nicht gewachsen, aber wir wachsen an unserer Aufgabe.»

Bart Vanmechelen

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