Der Erziehungswissenschaftler Heiner Barz verfasste für die Bundeszentrale für politische Bildung einen Aufsatz, der Stuttgart in der Geschichte eine besondere Rolle zuweist. Darin erwähnt er als einen Teil der ‹Innovationskraft› der Stadt auch die Waldorfpädagogik und Rudolf Steiner.
Die vermeintliche Besonderheit Stuttgarts könnte im Vergleich zu Leipzig als Ort der Montagsdemonstrationen, zu Weimar und der dort gegründeten Republik, zu Frankfurt und seiner Paulskirchenhistorie auch infrage gestellt werden. Auch Jena als reformpädagogische Heimat oder Berlin als Ausgangspunkt einflussreicher Bildungskonzepte hätten diesen Status erhalten können. Und doch sammelten sich in Stuttgart immer wieder durch die Geschichte hindurch Menschen in gesellschaftlichen Umbruchsituationen und schufen und schaffen neue und kritische Impulse. Heiner Barz führt sehr detailliert aus, wie es zur Dreigliederungsbewegung kam, wie Rudolf Steiner die Waldorfschule begründete und was noch alles aus seinen Gedanken in die Welt getreten ist. Dem folgen weitere Initiativen und Tatsachen, wie Stuttgart 21, der Protest gegen den Bahnhofsneubau, oder Querdenken 711, die «bundesweit auffälligste Protestbewegung gegen freiheitseinschränkende Maßnahmen» in der Coronazeit. Barz scheut sich nicht davor, die Vorwürfe anzuschauen, die sowohl ‹Querdenkern› als auch Anthroposophinnen und Anthroposophen gemacht wurden, mit rechtsextremem Gedankengut zu sympathisieren. Er zieht statistische Werte aus Umfragen heran, um zu zeigen, dass ‹Querdenkende› eher aus linksorientiertem und grünem Millieu stammen.
«Der Anspruch jedenfalls ist, dass sich hier eine Orientierungssuche ohne Scheuklappen Bahn gebrochen habe, die Ost und West, Tradition und Technik, Innenschau und Welterkenntnis zusammenführen will zu einem umfassenden Bild der Welt. Damit ist ein klassischer Ansatz der Freidenker formuliert.» Barz bezieht Stellung für eine vorurteilsfreie, wissenschaftliche Betrachtung sowohl der Anthroposophie als auch anderen Gruppierungen gegenüber – ein eher seltenes Phänomen im öffentlichen Diskurs. «Ob Stuttgart wirklich den Titel einer ‹Hauptstadt des Nonkonformismus› beanspruchen kann, muss offen bleiben. Gleichwohl lohnt sich der Blick auf die dortigen Anfänge der Waldorfpädagogik und der Anthroposophie sowie ihrer Verbindungen zu heutigen Protestbewegungen wie ‹Stuttgart 21› oder ‹Querdenken›. Ob dies nun als Freidenker- oder Querdenkertum verstanden wird, liegt vielfach im Auge des Betrachters.»
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Bild: Sternwarte Uhlandshöhe. Quelle: Wikipedia. Bildautor: Aerial video capture (cc 4.0)
Bei genauer Betrachtung der Wirklichkeit trübt sich allerdings das Bild von der besonderen Stellung von Stuttgart als Innovationsstadt: Die Brutalität, mit der z.B. Stuttgart 21 durch gesetzt wird zusammen mit der Zurückweisung jeglicher vernünftigen Einwände zeigt eher das Denken in Vergangenheiten als an der Zukunft orientiert. Auch ist die Waldorfschule, die einst für die Proletarier einer Zigarettenfabrik gegründet wurde, inzwischen zu einer Anstalt für die besser Gestellten geworden, die es in 100 Jahren nicht geschafft hat, den eigenen Abschluss gleichberechtigt neben dem staatlichen Abitur als Zugang zur Weiterbildung frei zu machen. Immer noch wird der Lehrplan insbesondere der Oberklassen unter der Zielsetzung des Abiturs (extern abzulegen!) geknebelt. Statt sich an den Ideen der pädagogischen Provinz aus Goethes Wilhelm Meister zu orientieren und eine handwerkliche Lehre an allen Schulen zu verwirklichen, wird der Frontalunterricht in überfüllten Klassen ausgeübt und neuen Ideen nur wenig Offenheit entgegen gebracht. Auch im medizinischen Bereich wird an der Filderklinik nur eine anthroposophische Ergänzungstherapie ausgeübt, indem die so genannte Schulmedizin dir absolute Grundlage abgibt, weil man immer noch die so genannte wissenschaftliche Anerkennung erhofft, von Leuten, die im Traum nicht daran denken, sich eine Laus in den Pelz zu setzen.
Als in Stuttgart geboren und Aufgewachsener und in der Nähe lebender anthroposophisch orientierter Nicht-Schwabe, verwundert eine anklingende Paradoxie in dem Artikel.
Zum Einen das zugewiesene Attribut eines Stuttgarter Freidenkertums, dem eine vonn Zugereisten oft beklagte Hartleibigkeit, ein unwilliger Skeptizismus in Bezug auf Veränderungen gegenübersteht. Man liebt in Schwaben das gesicherte Funktionieren im Rahmen dessen, was man glaubt und haben will.
Zum Anderen ist da die durchaus zwiespältige, eitle Selbstbespiegelung im Artikel, das Überzeugtsein vom eigenen Genius, der hier anklingt als peinliche und zweifelhafte Nähe von Querdenkertum und Anthroposophen.
Fragwürdig und zwiespältig erscheint mir beides.
Aber doch reflektiert der kleine Artikel auch den zugenommenhabenden Anpassungsdruck in Bezug auf Dinge, deren Funktionieren doch erkennbar zweifelhaft ist. Dazu gehört nicht nur Stuttgart 21. Es betrifft auch die herbeizwingen wollende Art, wie wir über Dinge denken und miteinander reden, die eines jeden eigene Lebensweise und zugleich alle gemeinsam betreffen.