Philipp Reubke arbeitet in der Leitung der Pädagogischen Sektion. Das freie Spiel ist für ihn nicht nur ein Entwicklungsraum der Kinder. Auch Pädagoginnen und Pädagogen betreten das Feld der Inspiration und Intuition, auf dem sich unerwartet Dinge ereignen und lösen können. Da lohnt es sich zu forschen und bedeutet, sich zur Eigenständigkeit zu bekennen. Dafür sieht sich die Pädagogische Sektion verantwortlich.
Vor drei Jahren erschien in der Monatsschrift ‹Le Monde diplomatique› ein Artikel mit dem Titel: ‹L’anthroposophie – la multinationale de l’ésoterisme›. Der Artikel suggerierte, dass das Goetheanum, als eine Art ‹Zentrale der Anthroposophie›, ähnlich arbeitet wie Ikea oder Amazon: Jemand hatte eine brillante Idee zur Verbesserung der Praxis bei der Organisation von Dienstleistung, Herstellung, Verpackung und Vertrieb. Merkmale dieser Art von Organisation sind Kontrolle der Filialen durch die zentralen Instanzen des Unternehmens und Gewinnabschöpfung, die umgekehrt von den Filialen zur zentralen Instanz zurückfließt. Dem Autor von ‹Le Monde diplomatique› erschien das Goetheanum als Firmenzentrale, die bestimmte Dienstleistungen (Erziehung, Heilpädagogik …) und Produkte (Lebensmittel, Arzneimittel …) durch eine geschickte Verkaufsmethode (Anthroposophie als Erzeugung von Leichtgläubigkeit) relativ erfolgreich verkauft, einen Teil der Gewinne für sich beanspruchend.
Sein ganzes Leben lang hat Rudolf Steiner geforscht und unterrichtet. Darüber hinaus hat er Methoden entwickelt, um auf geistigem Feld zu forschen, und dargestellt, wie jeder, der es möchte, seine geistig-seelischen Fähigkeiten verstärken kann. Außerdem hat er einzelnen Berufsgruppen ein paar ganz konkrete Vorschläge gemacht, wie sie ihre Praxis verbessern könnten. Dadurch konnten sie im Laufe von 100 Jahren ziemlich erfolgreich arbeiten, in einigen Fällen auch wirtschaftlich erfolgreich. Schließlich hat er mit Ita Wegman die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft begründet. Ist sie nun die Kontrollinstanz? Oder ist sie ein Forschungsinstitut, das weit weg vom Stress der täglichen Erziehungspraxis verschiedene erziehungswissenschaftliche Theorien mit Steiners pädagogischem Ansatz vergleicht? Oder eine Art Zertifizierungsstelle, die einigen Kolleginnen und Kollegen oder Einrichtungen bescheinigt, dass sie auf geistigem Feld schon genug fortgeschritten sind, um als Experten gehört zu werden?
Kunstwerke in Kooperation
Wie gestaltet der Pädagoge oder die Pädagogin das freie Spiel in einem Kindergarten? Es lässt sich nicht durch Vorschriften, Verbote oder Erklärungen steuern. Bestimmte Bedingungen müssen da sein: Vertrauen, Wärme, eine bestimmte Raumgestaltung, ein bestimmtes Material. Weiter ist wichtig, welche seelischen Anregungen das Kind bekommt durch Geschichten, Lieder und Tänze. Die Beziehung der Kinder untereinander und zu den Erwachsenen hat einen großen Einfluss auf Interesse, Offenheit, Heiterkeit und Liebe. Wenn all das da ist, kann von Zeit zu Zeit aus heiterem Himmel – unvorhersehbar – eine Tätigkeit der Kinder auftreten, in der Handlungen, Geschichten, Konstruktionen, Kunstwerke in Kooperation von den Kindern ausgeführt werden. An dieser Tätigkeit der Kinder können Erwachsene Bilder des Entwicklungszustandes der Kinder ablesen: wie sie Einseitigkeiten und Traumata überwinden, was sie lernen möchten. Das noch nicht inkarnierte, über den Kindern schwebende Ich kann sich in solchen Momenten in den Spielsituationen in einem Bild zeigen – in der gleichen Art, wie etwa das Unbewusste sich durchs Träumen in Bildern zeigen kann. Es zeigt sich prophetisch für kurze Augenblicke eine höhere – noch nicht realisierte – Weisheitsinstanz und es gibt den Kindern Wärme, Mut und Kraft für ihren weiteren Entwicklungsweg.
Deshalb sollen Kinder nicht ab drei Jahren in die Schule gehen. Kontrolle, Vorschriften und Erklärungen verhindern dieses Ereignis. Natürlich können kleine Kinder auch durch schulische Aktivitäten ohne freies Spiel lernen. Aber dieses schulisches Lernen kann die schlummernde Initiativkraft, die über den Kindern schwebende Weisheitskraft, die für Momente hereinstrahlen kann, nicht wecken.
Auch hier sei daran erinnert, wie die erste Waldorfschule gegründet wurde. Keine Implementierung des staatlichen Lehrplans, keine Vorschrift, was einzelne Lehrpersonen zu machen haben. Nur gewisse Rahmen: Einmal pro Woche Teamsitzung, eine Art Fortbildungsveranstaltung, wo Menschenkunde, kindliche Entwicklung im Allgemeinen studiert werden soll, wo man sich gemeinsam bestimmten Kindern zuwendet. Schwierigkeiten und Erfolge der Pädagogen werden besprochen. Man gibt einander Ratschläge. Auch hier entstehen aus heiterem Himmel Situationen in den Klassen oder zwischen Pädagoginnen und einzelnen Kindern, in denen die Erziehenden über sich hinauswachsen. Egal, wie weit fortgeschritten auf dem ‹Feld der geistigen Forschung› der Pädagoge ist, er kann Momente pädagogischer Intuition erleben, die den Kindern Hilfestellung und Stütze für den ganzen weiteren Lebensweg geben können. Hier wie dort sind bestimmte Bedingungen wichtig: Beziehung, Interesse, seelische Wärme, geistig-seelische Nahrung – Geschichten, Lieder und Tänze für die Kinder im Kindergarten, Forschung und Studium kindlicher Entwicklung, starkes Interesse für das Wesen des Menschen seitens der Pädagoginnen. Und für beide: Freiheit der Initiative, schöpferische Fantasie. Was daraus gemacht wird, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Ziel ist die innere und äußere Aktivität jedes Einzelnen.
Die Pädagogische Sektion
Auch in der Pädagogischen Sektion gibt es keine Kontrolle, keine Umsetzung eines abstrakten Programms, sondern Forschung und Kommunikation darüber, welche Bedingungen für eine Erziehung notwendig sind, die die geistige-seelische und leibliche Eigenaktivität, die Ich-Aktivität, am meisten fördern. Zu diesen Bedingungen gehören:
1. Eine freie Schule, die kein Programm umsetzt, sondern in der die Pädagogen und Pädagoginnen Anthropologie, Psychologie studieren, Kinderbetrachtung machen, einander helfen und dann in pädagogischer Kreativität die Ich-Aktivität fördern, die eigene und die der Kinder. 2. Bewegliche, realitätsbezogene Begriffsbildung, die dadurch geschult ist, dass man sich intensiv mit Steiners Begriffsbildungen auf diesen Gebieten auseinandergesetzt und sie studiert hat und dadurch fähig geworden ist, herauszufinden, was methodisch-didaktisch und inhaltlich dem Kind in welchem Lebensalter am meisten förderlich ist. 3. Bewegliche zeitbezogene Begriffsbildung, die sich auf die zeitgenössische erziehungswissenschaftliche Diskussion bezieht, die die jeweils aktuellen Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Kinder berücksichtigt. 4. Eine Schulkultur, die in Zusammenhang steht mit der lokalen und regionalen Kultur und die auf die unterschiedlichen kulturellen, weltanschaulichen religiösen Hintergründe der Eltern eingehen kann. 5. Eine soziale Struktur, die die Eigeninitiative der Lehrpersonen fördert, die gegenseitige Wertschätzung, die gegenseitige Wahrnehmung, das Voneinander-Lernen. 6. Eine Schuladministration, die die politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten bestens kennt und Kompromisse findet, wie das Ziel – Stärkung der Ich-Aktivität durch Erziehung – so gut wie möglich erreicht werden kann.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Forschungs- und Studienkultur in den Einrichtungen wächst. Wir möchten Antworten finden zu der Frage, was Kinder brauchen, die in einer mehr und mehr von der Technik bestimmten Kultur aufwachsen, in der das Bewusstsein vom Unterschied zwischen Mensch und Maschine schwindet. Wie kann Gesundheit durch Erziehung gefördert werden? Wie entwickeln sich Schule und Erziehung in einer multikulturellen Gesellschaft kindgerecht? Dazu möchten wir einen Forschungsbeitrag leisten.
Esoterische Praxis
Die Art der Zusammenarbeit, wie sie im freien Spiel im Waldorfkindergarten angelegt ist, wie sie in der Zusammenarbeit der Pädagoginnen und Pädagogen in der Waldorfschule angelegt ist, ist esoterischer Natur. Sie baut nicht auf einem vorher festgelegten Organigramm, auf Anweisung und Qualitätskontrolle auf, sondern auf Qualitäten wie gegenseitigem Interesse, Aufmerksamkeit, beweglichem Denken, seelischer Wärme und anderen geschilderten Bedingungen. Sie alle hängen davon ab, wie unsere geistig-seelische Aktivität in unser Verhalten, in unsere Taten eingreift. Die Art und die Stärke der Strömung bildet das Flussbett, nicht die Kanalarbeiten. Im Kapitel ‹Bedingungen der Geheimschulung› im Buch ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› kann man Vorschläge lesen wie: Man könne das Bewusstsein dafür entwickeln, dass Gedanken und Gefühle Konsequenzen in der Welt haben, die ebenso stark sind wie äußere Aktionen. Oder dass wir versuchen könnten, bei sogenannten ‹schwierigen Kindern› oder Kollegen, die man als Gegner empfindet, nicht in Aktionismus zu verfallen, wie man diese ändern oder verbessern kann, sondern zu fragen, was man bei sich selbst ändern könne, inwieweit man selbst für diese Situation der Gegnerschaft verantwortlich ist.
Jeder und jede von uns hat auf diesem Weg mit zahllosen spezifischen inneren und äußeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Wir haben nicht alle dieselbe Motivation und Begabung hierfür. Soll es nun etwa eine Instanz geben, die entscheidet, bis zu welchem Grad diese Fähigkeiten gediehen sein sollen, bis man als Waldorfpädagoge arbeiten kann? Sollen die schon weiter Fortgeschrittenen unter sich in einem parallelen Fortbildungsverein bleiben und Schulen besonderer Qualität aufmachen?
Arbeiten wir lieber alle gemeinsam daran, das Bewusstsein für die Bedingungen zu schärfen, und versuchen wir, sie zu realisieren – von der Pädagogischen Sektion über die Dachverbände bis zu den Einrichtungen. Wie jeder und jede Einzelne sich unter diesen Bedingungen entwickelt, das ist sein oder ihr ‹freies Spiel›, eine Form, eine Kraft, die nur jeder selbst entwickeln kann. Von denjenigen, die dort im freien Spiel schon einiges entwickelt haben, von denen wünschen wir uns, dass sie nicht nur abseits unter sich besonders reine Formen und Kräfte entwickeln, sondern in den Verbänden, Einrichtungen, in der Gesellschaft die anstehenden Aufgaben gemeinsam anpacken. Es ist wie beim Brotbacken: Auch da macht es keinen Sinn, dass das Backferment nur isoliert bleibt. Es wird da unter viel Mehl und Wasser gemischt, dann geht der Teig und kann gebacken werden.
Illustration von Ella Lapointe