Ich wage nämlich zu behaupten: daß nichts gefährlicher sei als irgend einen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen, und daß die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, daß man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen.
Eine jede Erfahrung, die wir machen, ein jeder Versuch, durch den wir sie wiederholen ist eigentlich ein isolierter Teil unserer Erkenntnis, durch öftere Wiederholung bringen wir diese isolierte Kenntnis zur Gewißheit. Es ist dieses der Natur des Menschen gemäß, die Geschichte des menschlichen Verstandes zeigt uns tausend Beispiele und ich habe an mir selbst bemerkt, daß ich diesen Fehler fast täglich begehe. Der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache. Der Mensch erfreut sich nur einer Sache, in so fern er sich dieselbe vorstellt, sie muß in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine erheben, noch so sehr reinigen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur eine Vorstellungsart.
Wenn von einer Seite eine jede Erfahrung, ein jeder Versuch ihrer Natur nach als isoliert anzusehen sind, von der andern Seite die Kraft des menschlichen Geistes alles was außer ihr ist und was ihr bekannt wird mit einer Ungeheuern Gewalt zu verbinden strebt, so sieht man die Gefahr leicht ein, welche man läuft, wenn man mit einer gefaßten Idee eine einzelne Erfahrung verbinden oder irgend ein Verhältnis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne Versuche beweisen wollen.
Es entstehen durch eine solche Bemühung meistenteils Theorien und Systeme, die dem Fortschritte des menschlichen Geistes, den sie im gewissen Sinne befördern sogleich wieder hemmen und schädlich werden.
Gekürzt aus: Johann Wolfgang von Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, Naturwissenschaftliche Schriften 1792–1797.