Europa hat gewählt und wird von Protesten erschüttert. Ein Gespräch mit Gerald Häfner zu den Perspektiven, die sich im Parlament und noch mehr im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger zeigen. Die Fragen stellte Wolfgang Held.
Diesmal haben mehr Bürger sich an der Europawahl beteiligt. Warum – und wie kann die Teilnahme Substanz bekommen?
Gerald Häfner Es stand plötzlich viel auf dem Spiel. Nicht mehr die alten Parteien-Auseinandersetzungen, sondern tiefere, grundsätzliche Fragen. Man spürte: Wir stehen vor entscheidenden Weichenstellungen. Die gestiegene Wahlbeteiligung ist gut. Aber es muss mehr möglich werden. Nicht nur bei, sondern auch zwischen den Wahlen. Ein wichtiges Instrument dafür ist die ECI, die Europäische Bürgerinitiative. Mit ihr können Bürger die Europäische Kommission zwingen, sich mit einem Thema, das den Bürgern wichtig ist, zu befassen. Ich bin froh, dass es mir im Parlament 2012 gelang, diese Form der Bürgerbeteiligung durchzusetzen. Mit Wasser ist ein Menschenrecht, Stop Vivisection oder dem Glyphosat-Verbot gab es mehrere erfolgreiche Initiativen. Die ECI erlaubt, Themen anzustoßen, aber nicht sie zu entscheiden. Für den Ausbau einer funktionierenden demokratischen Kultur sind deshalb weitere Schritte notwendig: So brauchen wir auch in Europa verbindliche und wirksame Bürgerbeteiligung, u. a. durch Volksbegehren und Volksentscheid.
Zur Vorletzten EU-Wahl hast Du mit drei Kollegen das Buch «Europa: nicht ohne uns! vorgelegt». Was war der Kern darin?
Wir beschrieben einen Weg zu einem anderen, demokratischeren Europa der Bürger. Ein zentraler Vorschlag war der Prozess einer offenen europäischen Verfassungsdiskussion. Was für ein Europa wollen wir? So eine Diskussion kann gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger das als offenen Prozess erleben. So bauen wir Europa neu und anders. Der ganze Prozess läuft anders, wenn am Schluss nicht, wie jetzt, die Beamten und Regierungschefs das Ergebnis gutheissen müssen, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Drei Jahre – so der Vorschlag – soll von einem gewählten Konvent aus Politik, Kultur und öffentlichem Leben ein Entwurf entwickelt werden. Dann wird er veröffentlicht diskutiert. Danach überarbeitet der Konvent nochmal seinen Entwurf im Lichte dieser Erörterung und stellt ihn europaweit zur Abstimmung. Was in Frankreich jetzt als ‹Grand debat› versucht wird, geht in diese Richtung. Da werden die Bürger angehört, nur leider dürfen sie gar nichts entscheiden. Das kann nur der Präsident. Erfreulich aber ist, dass unsere Idee Gehör findet – und beim letzten EU-Gipfel bereits mehrere Regierungen einen solchen Verfassungsprozess gefordert haben.
Was bedeuten die neuen Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament?
Viele empfinden sie als unübersichtlich. Sie sehnen sich nach der Mehrheit der faktischen Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativer Volkspartei. Diese konstante Mehrheit konnte jahrzehntelang bestimmen, was im Parlament läuft. Das ist nun vorbei. Viele neue Gruppierungen und sogar Einzelkämpfer wurden gewählt. Darin drückt sich ein tiefgreifender Wandel aus. Solange Parteien die entscheidenden Akteure in der Politik und im Parlament sind, muss diese Entwicklung als Schwächung und Gefährdung des Parlaments erscheinen. Wenn wir aber Partei- und Gruppeninteressen hinter uns lassen und Demokratie als das Ringen aller um die bestmögliche Lösung verstehen, dann liegt in der neuen Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Zusammensetzung des Parlaments eine Chance für Europa.
Für das Parlament könnte das heißen: Es kommen mehr Gesichtspunkte und Anschauungen zur Sprache. Und es gibt keine feste Mehrheit, sondern diese muss je neu durch gute Argumente gesucht und gefunden werden. Das sollte dem EU-Parlament leichter fallen als den nationalen Parlamenten, weil die Vielfalt auf EU-Ebene immer schon größer ist und damit die Macht und Einheitlichkeit der Ideologien geringer. Dazu müsste allerdings die Geschäftsordnung des Parlaments sich grundlegend ändern. Sie lässt oft gar keinen wirklichen Austausch von Ideen zu.
Wie ist die höhere Wahlbeteiligung zu erklären?
Neu war, dass nicht der spin der Parteien im Vordergrund stand, sondern große Themen der Gestaltung unserer Zukunft. Die hatten die Bürger auf die Tagesordnung gesetzt. Ich finde interessant, zu beobachten, wie sich Geschichte immer wieder in Ereignissen und Menschen verdichtet und sich so Bewusstsein bildet. Ich möchte 3 Ereignisse nennen, die bewusstseinsmäßig auf dem Weg zu diesen Wahlen eine entscheidende Rolle spielten:
Zuerst der Brexit. Durch ihn wurde spürbar: Ein plattes Nein zu Europa führt zu nichts, führt ins Nichts. Wir gehören zusammen. Man kann sich nicht einfach umdrehen und gehen. Aber wie? Die Frage, wofür wir Europa brauchen und wie wir es bauen wollen, ist ganz neu aufgebrochen. An die Stelle der simplen Ja-Nein-Debatte trat eine Sorge, ein Bemühen um Europa. Wie können wir es verstehen und entwickeln?
Dann folgte die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich. Hier zeigte sich: die Eliten können nicht mehr über die Bürger hinweg Entscheidungen treffen, selbst wenn diese Entscheidungen sinnvoll und begründet sind, wie im Fall einer Erhöhung der Mineralölsteuer und Abgaben für den CO₂-Ausstoß. Es führt kein Weg daran vorbei, die Lebensrealität der Menschen und diese selbst umfassend mit einzubeziehen. Wie oft sind große Weichenstellungen über die Köpfe der einfachen Menschen hinweggegangen und diese mussten die Zeche zahlen? Der Widerstand dagegen hat Europa erschüttert und führt zu einer neuen Achtsamkeit für soziale Gerechtigkeit.
Und schließlich Greta Thunberg. In dieser kleinen, großen Schülerin verdichtet sich das tiefe Empfinden der Verantwortung für die Zukunft unserer Erde, das heute immer mehr Menschen teilen. Dazu gehört die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen und gegenüber unserer Mit-, Um- und Nachwelt. Ich sehe hier schon eine Bereitschaft zur Überwindung egoistischen, materialistischen und kapitalistischem Denkens und eine neue Kraft des Willens, denn den Protest treibt die Frage an, wie man das eigene Verhalten ändert, damit es anderen besser geht, selbst solchen, die sich erst inkarnieren wollen. Dieses Weltgewissen lebt und beginnt sich zu regen. In der friedlichen Beharrlichkeit von Greta Thunberg, nicht mehr zu tun, was die Gesellschaft von ihr erwartet, sondern stehen zu bleiben, bis sich etwas ändert, zeigt sich seine enorme Kraft.
Hier zeigt sich ein Dreischritt: Der Brexit ist ausgelöst worden durch David Cameron, der im alten Sinne mit Macht gespielt hat. Ihm ging es gar nicht um die Sache, sondern darum, die politischen Instrumente für seinen Machterhalt zu nutzen. Die ‹Gelbwesten›-Bewegung kam von unten und dreht sich um soziale Fragen – aber immer noch mit dem Fokus auf mich, meine Gruppe, meine Interessen, Kollegen oder Familie. Auch die fridays for future kommen von unten und haben ein soziales Ziel. Aber hier geht es um das Ganze der Erde, um die Zukunft, sogar um die noch Ungeborenen.
Drei Schritte, drei Qualitäten: Cameron: die Macht von oben, ironisch mit Kalkül – Gelbwesten: laut, schrill und gewalttätig – Thunberg leise, ja fast stumm, die Gewalt des Gewissens, die Kraft der Verantwortung.
Titelbild: Gelbwesten