In der Nähe der glänzenden Gebäude der europäischen Institutionen fand vom 23. bis 25. August die zehnte Tagung ‹Die Seele Europas› in Brüssel statt. Nach drei dichten Tagen, vielfältigen Beiträgen und Gesprächen stand fest: Europa steht an der Wegscheide. Alte Werte, Vorstellungen und Ideologien tragen das europäische Projekt nicht mehr. Stattdessen solle etwas Neues ins Zentrum rücken: der Mensch und die Begegnung unter Menschen. Freie Reflexionen, die von dieser Tagung angestoßen worden sind.
Frieden war das ursprüngliche Ziel des europäischen Projektes, das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgerufen wurde. Nach 60 Jahren Bestehen nun die Frage: Ist dieses Ziel erreicht worden? Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951), der erste Impuls, der zur Europäischen Union führte, zielte darauf, Krieg zu vermeiden, indem man den Staat und diese Kriegsindustrien trennte. Hinzu kamen gemeinsame Abkommen und Institutionen sowie eine Währung, um die wirtschaftliche Konkurrenz der europäischen Nationen zu überwinden und Konflikte durch Dialog und Mitverantwortung zu lösen. Die Aufhebung der nationalen Grenzen, Projekte wie die Erasmus-Programme und kulturelle Initiativen zwischen Ländern tragen dazu bei, die kulturellen Unterschiede nicht mehr als Trennung, sondern als Bereicherung zu erleben.
Dennoch droht wieder Konfrontation von verschiedenen Seiten. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten lassen Konkurrenzgefühle und Nationalinteressen wieder wachsen. Politische Institutionen werden oft als technokratischer und undemokratischer Zentralismus wahrgenommen. Es bestehen kulturelle Spannungen und Distanzen, zwischen Nord und Süd, aber insbesondere zwischen West und Ost, wobei unübersehbar ist, dass die jetzigen Institutionen Europas geografisch und historisch im Westen verankert sind. Die Bevölkerungen Osteuropas fühlen sich oft am Rande und die Integration Russlands, das historisch und geografisch zu Europa gehört, rückt in die Ferne. In der Ukraine hat die europäische Frage viele Zivilisten in den Schrecken eines Kriegs geworfen.
Ein Kennzeichen Europas sind seine unklaren Grenzen. Selbst dort, wo Grenzen bestehen, haben sie unterschiedliche Prägung. So haben sich die vielen Länder des europäischen Kontinents sehr unterschiedlich am Schengener Abkommen beteiligt. Auch die kulturellen und geistigen Grenzlinien im Osten bleiben große Fragezeichen. Das gilt insbesondere für Russland, wie Andrej Ziltsov auf der Tagung bemerkte: Dort fühlt man sich als Teil Europas, doch Europa wird auch oft als etwas bezeichnet, das im Westen von Russland liegt. Aber auch im Westen wird manches brüchig. Mit dem möglichen Austritt der britischen Insel löst sich nicht nur ein politischer und wirtschaftlicher Partner, sondern auch ein Kernstück der Kultur und Sprache Europas heraus. Was Europas Seele und Ideale auszeichnet, so sind diese ebenfalls nicht auf den europäischen Kontinent begrenzt. Friede und Dialog, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit führen ins Allgemeinmenschliche und ‹gehören› damit der ganzen Menschheit.
Auch wenn auf europäischem Boden keine Kriege stattfinden, so trägt Europa gleichwohl Verantwortung für Konflikte, die auf anderen Kontinenten toben. Könnte es sein, dass Europa für viele Kriege, auch für die aktuellen Wirtschaftskriege, wie sie zwischen den USA und asiatischen Ländern – Iran, China – bestehen, eine Rolle spielt? Aus historischer Perspektive hat Europa großen Anteil daran, wie die Welt heute ist und nicht ist. «Europa konnte sich nicht begrenzen», so formulierte es Jaap Sijmons in seinem Beitrag bezüglich der Kolonialperiode. Man denke nur an die ungelöste Debatte um Migration und die akute Frage der Menschlichkeit angesichts der vielen Menschen, die vor den Türen Europas gestorben sind und weiter sterben. Junge Menschen und ganze Familien haben nichts mehr zu verlieren und riskieren ihr Leben, um an Europas Tisch sitzen zu können. Und Europa hat immer noch starken Bedarf an Rohstoffen – Rohstoffe, die oft Quelle und im Mittelpunkt vieler Konflikte sind. Rohstoffe, die mit ökologischen Herausforderungen zusammenhängen – Klimakrise, Rückgang der Artenvielfalt, Luftverschmutzung usw. – und die Erde als Ganzes betreffen. In einer globalisierten Welt ragt die Verantwortung Europas weit über seine physischen Grenzen hinaus. Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Friedenszustand Europas eine Illusion und der Weg zu einem tatsächlichen Frieden eine große Aufgabe für die Zukunft.
Die Begegnung als Religion
Als Menschen leben wir in verschiedenen Zusammenhängen. Wir verschaffen uns individuell und zugleich gemeinsam, durch unsere Arbeit, unsere Lebensgrundlage. Wir sind auch auf der Suche nach der Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens, dem Sinn unseres Lebens. Es gibt aber eine dritte Ebene, die weder Nützlichkeit noch Wahrheit zum Ziel hat: Es ist die Begegnung mit dem anderen. In der Begegnung sind der Sinn und die Begründung des anderen unmittelbar. Egal, was er oder sie produzieren kann oder denkt, er oder sie ist mir in dieser Begegnung gleich. Was diesen Begegnungsraum möglich macht, ist das Prinzip der Gleichheit. Auf dessen Boden können sich die Differenzen entfalten, zutage treten und besprochen werden. Alle politischen Institutionen wurden dafür geschaffen, aus dem Prinzip der Gleichheit einen Gesprächsraum zu schaffen. Heute werden diese Räume von Machtspielen und -strategien infrage gestellt. Dennoch sollten die politischen Organe von einer Art ‹heiligen Substanz› leben: die bedingungslose Begegnung mit dem anderen Menschen als solchem – als sakralem Moment der Begegnung.
Diese Substanz existiert, wie Gerald Häfner es während eines Vortrags auf der Tagung ausdrückte, weder unter Tieren noch unter Engeln: Sie existiert unter den Menschen. Diese Substanz, die nicht in einem Allgemeinen zu finden ist oder in einer äußeren Gottheit, ist individuell, immer neu und fordert daher jedes Mal einen neuen Blick. Als individualisierte Erfahrung scheint sie neu in der Menschheitsgeschichte zu sein: Einer der ersten Ausdrücke ist im 15. Jahrhundert zu finden bei Pico della Mirandolas eindrucksvoller Verteidigung der Menschenwürde. Die politische Geschichte Europas seitdem zeigt, wie anfänglich und noch weitgehend unberücksichtigt diese individuelle Intuition geblieben ist. Weltkriege, totalitäre Regime und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten konnte sie nicht verhindern. Auch Ideologien, die sich auf diese Intuition beriefen, haben sich de facto gegen sie gewendet. Versuche, diese Intuition der Menschenwürde durch Erklärungen oder Grundgesetze zu schützen, haben sie nur wenig gestärkt, denn diese Würde kann nicht dekretiert werden, sie muss immer wieder erlebt werden, um geschützt zu werden. Die Frage heute: Was für Konsequenzen lassen sich aus dieser universellen und zugleich individuellen Erfahrung des Zwischenmenschlichen ziehen? Wie baut man eine Gesellschaft auf dieser neuen Basis auf? In dieser Intuition liegt die Überzeugung, dass Demokratie nicht bedeutet, dass die Mehrheit entscheiden muss und darf, sondern dass gemeinsame Entscheidungen aus einer Begegnung entstehen sollen. Jeder Mensch ist Gesetzgeber, indem er sich mit anderen austauscht und gemeinsame Entscheidungen trifft. Aus dieser Begegnung entsteht das eigentliche Rechtliche.
Erkenntnis erweitern
Nicht nur politisch, auch geistig ist die heutige Welt gespalten. Im Westen wurde aus der empirischen Forschung eine effiziente materialistische Wissenschaft entwickelt, die ihre Macht in allen Gebieten des Lebens zeigt und alle Kontinente erobert hat. Auf der anderen Seite lebt auch die Menschheit aus alten spirituellen Traditionen, die die Zivilisation maßgeblich prägen. In der Konfrontation des westlichen Weltbilds mit dem islamistischen Terrorismus zeigt sich zum Beispiel eine Kulmination der Spaltung zwischen der Macht des modernen Materialismus und jener des traditionellen Spiritualismus. In ihren extremen und karikierten Formen sind beide unmenschlich. Die Philosophin Simone Weil formulierte die geistige Situation Europas in folgender Weise: «Die europäische Zivilisation ist eine Kombination aus dem Geist des Ostens und seinem Gegenteil, in das der Geist des Ostens umfassend eintreten muss. Dieser Anteil ist heute noch lange nicht erreicht. Wir brauchen eine Injektion des östlichen Geistes.»1
Die Entwicklungen der Zivilisation unter dem westlichen Diktat haben zu einem Konflikt zwischen Mensch und Natur geführt. Nicht nur ökologische Probleme stellen die Berechtigung des materialistischen Reduktionismus infrage, sondern auch die durch anthropologische Forschung gestützte postkoloniale Forderung, verschiedene Weltanschauungen und Erkenntnisarten der Menschheit respektieren und anerkennen zu lernen. In allen Kulturen sind berechtigte Weltanschauungen vertreten. Die verschiedenen Erzählungen über die Entstehung der Welt, die verschiedenen Heilkunden und Verständnisse der Beziehung zwischen Mensch und Natur sind wichtige Beiträge auf dem Weg zum Selbstverständnis von uns Menschen.
Wenn auf der einen Seite die Anerkennung des Individuums gefordert werden sollte, sollte auf der anderen Seite ein Gefühl für das Ganze entstehen. Die Denkart, die zur Zerstörung der Natur geführt hat, stammt aus dem wohlhabenden westlichen Europa. Man denke nur an Descartes Idee, der Mensch sei «Herr und Besitzer der Natur» (‹Abhandlung über die Methode›). Was wäre ein anderer Erkenntnisansatz, der ein neues Verhältnis zur Natur und zur Welt begründen könnte? Er müsste an die wissenschaftlichen Voraussetzungen der Aufklärung anknüpfen und die verlorene Idee von ‹Kosmos› ins Spiel bringen, aber auf dem Individuum basieren. Eine Erkenntnishaltung, die lernt, mit verschiedenen Erkenntnisarten umzugehen. Für diese Haltung könnte man von einer Erkenntnisrepublik2 sprechen, in welcher die Dialogfähigkeit und die Relativität der Standpunkte geübt werden, damit nicht nur eine Denkart die Vorherrschaft übernimmt, wie es heute der Fall ist, zum Beispiel durch den Versuch, aus einem spezifischen Standpunkt die Homöopathie zu verbannen.
Wie die Begegnung mit den anderen – und somit die ganze Politik – neu erfahren und gedacht werden kann, so können auch die Beziehung zur Welt im Allgemeinen und die Wissenschaft so erneuert werden, dass man sich bewusst wird, dass jede Erkenntnis und jede Erfahrung eine Begegnung ist, die Subjekt und Objekt betrifft und verändert. Die Zukunft der Natur hängt davon ab, mit welchem Blick, mit welchen Intentionen man sich ihr zuwendet. Wesentlich scheint hier, dass Erkenntnis nicht ein passives Wahrnehmen ist, sondern ein Mitgestalten. Schaue ich auf die Natur als eine bloße Ressource für eigene Ziele – die durchaus auch legitim sind –, dann wird sie auch darin verwandelt, aber kann ihre regenerativen Kräfte verlieren und somit zur Krise führen. Es können auch Erkenntniskräfte entwickelt werden, die uns befähigen, das Werdende in den Blick zu nehmen und dadurch Gesundungskräfte zu unterstützen. Das Gleiche gilt auch für den Blick auf die Mitmenschen oder auf politische Formen wie die der Europäischen Union, als Impuls und Realität: Will ich da etwas bewerten, beurteilen, auseinandersetzen, festlegen oder einen bestimmten Aspekt dieser Wesen unterstützen, damit er sich verbessert, damit werden kann, was werden will? Erkennen ist Gestalten und bedarf einer Vielfalt an Gesichtspunkten. Erkenntnis ist nicht etwas, was ich der Welt aufdrücken kann, sondern etwas, was ich unterstützend aus der Welt hole.
Europa als Teilhabe
Soziale und ökologische Herausforderungen lassen keine Wahl: Wir müssen unser Verständnis erneuern unter uns Menschen und zur Natur. «Es gibt keinen geeigneteren Ort in der Welt, um das zu üben: die Freiheit des Geisteslebens, die Gleichheit des Rechtslebens und die Brüderlichkeit des Wirtschaftslebens», so formulierte es Gerald Häfner auf der Tagung. Dass man sich die Frage Europas überhaupt stellt, ist dabei ein Zeichen dafür, dass es nie ein fertiges, abgeschlossenes Projekt sein kann. Christiane Haid machte darauf aufmerksam, dass der moderne Mensch die Selbstverständlichkeit seiner Heimat verloren hat: Er muss seine Heimat verlassen. Dass er etwas dabei verliert, ermöglicht ihm, neue Fähigkeiten zu erlangen. Dann ist Europa kein Kontinent ‹an sich›, sondern, wie Christine Gruwez es sagte, ein Ort für Übende. Man ist nicht Europäer durch die Geburt. Man kann es werden, indem man daran teilnimmt, an diesem Wesen ‹Europa›, das entstehen will.
Verantwortung wird oft als die Fähigkeit verstanden, etwas zu bewahren, zu verwalten und zu sichern. Die Verantwortung, von der heute die Rede ist, ruft nach Kreativität und neuem Wagnis. Nicht eine konservative Verantwortung, sondern eine schöpferische, die auch Risiken angehen kann, eine Veranwortung, die aus Mut wächst. Wenn Europa eine Verantwortung hat, dann ist es die Verantwortung, die in jedem Individuum lebt.
Ein Vorteil Europas ist, dass es weniger an vergangene Traditionen und Institutionen gefesselt ist. Europa erscheint vielmehr als Möglichkeitsraum. Eigentlich ist Europa eine postapokalyptische Angelegenheit. Der Verlust der Idee eines Kosmos in der Weltanschauung und die Verwüstung durch die Weltkriege haben gezeigt, dass die Zukunft ganz von den Menschen abhängt. Und wenn das Herz des europäischen Ideals für den Frieden schlägt, dann soll anerkannt werden, dass Friede nie passiv ist. Passivität ist die Quelle des Krieges. Aktive Kreativität ist die Quelle des Friedens. Wenn die Frage um den Frieden realistisch formuliert werden soll, so muss sie lauten: Wie kann auf dem alten Kontinent – in der Erziehung, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Erkenntnis und in allen Gebieten der sozialen Gestaltung – menschliche Kreativität aus menschlicher Einsicht gefördert werden?
Eine umfangreiche Dokumentation zur Tagung und zu den Beiträgen kann auf der Website der Tagung gefunden werden: www.soulofeurope2019.eu
(1) Simone Weil, Über die Kolonialfrage in Verbindung mit dem Schicksal des französischen Volkes (À propos de la question coloniale dans ses rapports avec le destin du peuple français) (1943), in Écrits historiques et politiques, 1960
(2) In einem vor kurzem erschienenen Artikel auf französisch, entwickelt Xavier Fourt den Begriff der Erkenntnisrepublik (république de la connaissance) als Raum wo Erkenntnisansätze sich begegnen und im Dialog sein können. Er stellt es einem «epistemologischen Totalitarismus» gegenüber. Xavier Four, Totalitarisme épistémologique et république de la connaissance, Æther, 15. November 2019, www.aether.news/totalitarisme-epistemologique/
Titelbild: Bild: Beppe Assenza, Figura Euritmica, Mischtechnik, Leinwand, 33 × 24,5 cm, undatiert
Die in diesem Artikel gezeigten Werke sind Teil der 2. Kunstauktion am Goetheanum am 30. November 2019. Diese findet während der 2. Verkaufsausstellung der Sektion für Bildende Künste vom 28.11. – 1.12.2019 statt. Neben den hier gezeigten, werden weitere Werke von G. Wagner, W. Besteher, A. Steffen, W. Roggenkamp, D. Nash, H. Siber, St. Stückgold, N. Sombart und E. Oling-Jellinek versteigert. Diese wird von Schindler Art & Kunst durchgeführt. Weitere Information und den Auktionskatalog: www.sbk.goetheanum.org