Es war einst ein Garten …

Das Goetheanum ist von den jetzigen Gesundheitsmaßnahmen betroffen. Mitglieder der Goetheanum-Leitung formulieren in einer Reihe von Artikeln ihre Einschätzung der gegenwärtigen Lage. Philipp Reubke stellt im folgenden Text die Frage nach der menschlichen Seele inmitten der heutigen Krisen.


«Il y avait un jardin, qu’on appelait la Terre …»1 Als Georges Moustaki mit diesem Lied 1971 auftrat, rührte er die Herzen der damaligen Jugendlichen. Für die Kinder, die in einer Umgebung aufwachsen, die von Stahl, Beton und Asphalt beherrscht wird, besingt Moustaki den jungfräulichen Planeten Erde, der zu allen Jahreszeiten herrliche Sinneserfahrungen geboten hat, der aber verschwunden ist:

Es war einst ein Garten, der ‹Erde› genannt wurde,
Wo ist dieser Garten, in dem wir hätten geboren werden können,
in dem wir sorglos hätten leben können,
wo ist das Haus, dessen Türen alle geöffnet sind,
das ich überall suche und nirgends finde?2

Als 1972 das Massachusetts Institute of Technology im Auftrag des Club of Rome die Studie ‹Die Grenzen des Wachstums› veröffentlichte, stieß diese auf reges Interesse. Bis heute sind über 30 Millionen Exemplare in 30 Sprachen verkauft worden.3 Auch als ein deutscher Politiker 1975 ein Buch mit dem Titel ‹Ein Planet wird geplündert› auf den Markt brachte, war es wochenlang auf den Bestsellerlisten.4

Die Lieder, die Studien, die Bücher haben 50 Jahre gewirkt. Ernährung, Landwirtschaft, Architektur, Energie und Abfallwirtschaft, Verkehr – auf den allermeisten Lebens- und Technikgebieten haben große Teile der Bevölkerung neue Gewohnheiten entwickelt, für die man Anfang der 70er-Jahre milde belächelt wurde. Was können wir tun, um die Plünderungswut aufzuhalten oder ihr etwas entgegenzusetzen? Und dennoch hat sich die Lage nicht grundlegend geändert. Der IPCC -Bericht von August 2021 liest sich bedrohlicher als je zuvor: «Klimawandel verläuft schneller und folgenschwerer.»5

Wir haben uns daran gewöhnt …

Im Chor der Antworten und Initiativen hört man auch folgende Stimme: Um wirklich das Klima zu schützen, müsse man die individuellen Freiheiten einschränken. Die Lage sei so dramatisch, dass die Menschen dazu gezwungen werden müssten, sich nicht mehr umweltschädigend zu verhalten.6 Angesagt ist: Um das für die Gemeinschaft Gute und Vernünftige zu erreichen, muss Freiheit eingeschränkt werden. Was aus Herz und Kopf des Menschen spontan entspringt, kann gefährlich sein. ‹Social Rating›, auf Deutsch: Sozialkreditsystem – der Versuch, durch die Vergabe von ‹Punkten› für wünschenswertes Verhalten beziehungsweise durch deren Entzug für negatives Verhalten Menschen zu steuern–, wird nicht nur in China eingesetzt, sondern auch von der Mehrheit der Amerikaner gutgeheißen.7

Viel lauter ist diese Musik zurzeit beim Thema Gesundheit. Mit der Einführung des ‹green pass›, des ‹passe sanitaire› oder von ‹3 oder 2 G› wird durch die Tatsache, dass die Tests gleichzeitig kostenpflichtig werden, überall eine quasi Impfpflicht eingeführt. Moralisch hochstehend wird derjenige betrachtet, der seine individuelle Freiheit zugunsten dessen opfert, was als gut für die Kollektivität betrachtet wird. Aber das Thema hat nicht bei Covid-19 begonnen: Zurückblickend auf die beiden ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts, das mit ‹9/11› begann, schrieb der französische Staatsrechtler François Sureau schon im September 2019: «Wir haben uns daran gewöhnt, ohne Freiheit zu leben. Es ist nicht neu, dass Freiheit die Regierenden stört. Neu ist, dass die Bürger dies hinnehmen, weil sie ängstlich sind.»8

Einige akzeptieren die Kontrolle, weil sie das Unberechenbare zu beherrschen, das Böse, das Verbrechen, die Krankheit, den Tod zu verhindern verspricht. Warum haben andere ein schales Gefühl? Weil sie fühlen, dass zugleich mit der Freiheit auch Verantwortungsbewusstsein, seelisch-geistige Entwicklung und Kultur weggespült werden.

Foto: Xue Li

Ein Blick in die Pädagogik

Das kleine Kind lernt, sich aufzurichten und zu gehen, zu sprechen, zu denken, die Welt zu entdecken – aber nicht durch Gebote, Verbote, gezieltes Training und Erklärungen. Es lernt nicht, weil es gehorcht, sondern weil es will: Es will dies alles tun aus Liebe zu den Menschen in der Umgebung. Ganz radikal äußert sich Emmi Pikler über die Konsequenzen der ständigen Assistenz von kleinen Kindern: «Wesentlich ist, dass das Kind möglichst viele Dinge selbst entdeckt. Wenn wir ihm bei der Lösung aller Aufgaben behilflich sind, berauben wir es gerade dessen, was für seine geistige Entwicklung das Wichtigste ist.»9 Und der Musikpädagoge Heinrich Jacoby: «Durch Vorschriften, ungeeignete Fragestellungen und voreilige Hilfestellungen wird die Entfaltung des Kindes gestört, es verliert die Fähigkeit und den Mut, selber auszuprobieren, zu improvisieren und spontan eigene Äußerungen zuzulassen.»10

Und Rudolf Steiner: «Das Kind wehrt sich unwillkürlich gegen dasjenige, was bewusst auf es einwirken soll, besonders in den ersten zweieinhalb Lebensjahren.»11 Er meint sogar, dass die Erziehung durch Vorschriften in diesem Alter nicht nur seelisch, sondern auch physisch destruktiv wirke: «Wenn wir viel zu früh [mit] so etwas wie Steh- und Gehversuchen anfangen, dass wir dann das Kind in seinem Nervenprozess für das ganze Leben hindurch ruinieren.»12

Beim kleinen Kind ist es einleuchtend: Wenn das Kind wie eine Marionette dauernd von außen geführt wird, verkümmert sein Eigenwille, seine Liebe zur Welt, seine Lust auf Lernen und Entwicklung. Die ganze Waldorfpädagogik ist darauf angelegt, dass im Denken, Fühlen und Wollen Kraft und Subtilität durch Eigentätigkeit angeregt werden. Weder durch Belohnung noch durch Angst vor Bestrafung soll Tätigkeit und Lernen motiviert sein, sondern durch Freude und Interesse.13 Und diese fortwährende Anregung zu seelischer Eigenaktivität soll dem Kind und Jugendlichen helfen, selbständig mit Interesse ins Leben zu finden und aus Eigenmotivation in der Gesellschaft verantwortlich zu handeln.

Wenn der Erwachsene wie eine Marionette subtil durch Manipulation, kräftiger durch Belohnung und Bestrafung, tyrannisch durch Verbot ideeller und praktischer Alternativen zur Einhaltung des Guten geführt wird, scheint es nicht so tragisch zu sein. Ziel ist ja Gesundheit und Über-Leben. Diskutiert wird vor allen Dingen, ob die Maßnahmen tatsächlich zum Guten führen. Doch ist nicht die Frage viel wichtiger, ob für den Erwachsenen nicht eine ähnliche Gefahr drohen, wie für das kleine Kind: Verkümmern nicht auch wir seelisch-geistig, wenn wir an allen möglichen Gängelbändern automatisch zum Guten und Vernünftigen gezwungen werden, wenn wir keine Chance mehr haben, es als das Gute zu erkennen und uns aus Eigenmotivation dafür einzusetzen?

Individualisierte Ethik

Sind nicht freie Initiative, Experimentierfreude und ‹Lernen durch Irrtum› Lebensbedingungen von Kultur und Wissenschaft? Ist die Möglichkeit, auch das Falsche zu tun, nicht die Voraussetzung für moralischen Fortschritt? Rudolf Steiner war ganz dezidiert dieser Auffassung: «Es bedeutet einen sittlichen Fortschritt, wenn der Mensch zum Motiv seines Handelns nicht einfach das Gebot einer äußeren oder der inneren Autorität macht, sondern wenn er den Grund einzusehen bestrebt ist, aus dem irgendeine Maxime des Handelns als Motiv in ihm wirken soll.»14 Der ethische Individualismus, für den er sich sein ganzes Leben eingesetzt hat, zielt darauf ab, dass wir lernen, uns weder durch persönliche Vorlieben noch durch normative Vorschriften leiten zu lassen: «Die Handlung ist also keine schablonenmäßige, die nach irgendwelchen Regeln ausgeführt wird, und auch keine solche, die der Mensch auf äußeren Anstoß automatenhaft vollzieht, sondern eine schlechthin durch ihren idealen Gehalt bestimmte.»15

Soziale Verantwortung muss dann nicht mehr das Gegenteil von individueller Freiheit sein. Ich will aus freien Stücken für andere verantwortlich sein, gerade das ermöglicht mir, mich zu entwickeln. Genau wie die Eigenmotivation des Kleinkinds durch angeleitetes Lernen zerstört wird, so der persönliche Entwicklungswille durch allgemeingültige ethische Vorschriften. Rudolf Steiner: «Handle so, dass die Grundsätze deines Handelns für alle Menschen gelten können: Dieser Satz ist der Tod aller individuellen Antriebe des Handelns.»16

Liegt nicht hier der Grund, dass die Umweltkrise auch nach 50 Jahren ohne Eingriff in individuelle Freiheit immer stärker geworden ist, dass wir einander nicht zutrauen, die Gesundheitskrise anders als durch massive Freiheitsbeschränkung zu lösen? Die ‹individuellen Antriebe› sind schon halb tot, wenige glauben noch daran, dass in ihnen der Keim zur Heilung des Erdorganismus und des sozialen Organismus liegen könnte.

Was würde der 2013 verstorbene Georges Moustaki heute singen? Würde er ein Lied singen, den Menschen gewidmet, die in einer Umgebung aufwachsen, die von Verboten, Strafen und Kontrollen beherrscht wird?

Es war einst ein Garten, der menschliche Seele genannt wurde,
in der herrliche Gefühle, Gedanken und Impulse frei emporwuchsen.
Wo ist dieser Garten, in dem der freie Geist hätte geboren werden können,
wo ist das Herz, dessen Türen für alle Wesen und Dimensionen weit geöffnet ist,
ich suche ihn, und kann ihn noch nicht finden!

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Footnotes

  1. Es war einmal ein Garten, der Erde genannt wurde
  2. Où est-il ce jardin où nous aurions pu naître / Où nous aurions pu vivre insouciants et nus / Où est cette maison toutes portes ouvertes / Que je cherche encore et que je ne trouve plus?
  3. Die Grenzen des Wachstums
  4. Herbert Gruhl.- Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik.- Frankfurt, S. Fischer 1975
  5. IPCC-Bericht: Klimawandel verläuft schneller und folgenschwerer
  6. « Décarboner vraiment, c’est rompre avec les libertés individuelles, voire avec le pacte démocratique »
  7. «Nevertheless, many generally agree with the underlying idea of social ratings: 70% say it is fair and right to limit access to public resources (transport, education, housing, etc.) based on people’s behavior.”
  8. «Il n’est pas nouveau que les gouvernants s’impatientent de la liberté. Il est plus étonnant que le citoyen y consente, parce qu’il est inquiet bien sûr… »
  9. Zitiert in Erzieherauge
  10. Zitiert in Heinrich Jacoby
  11. Rudolf Steiner.- Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens.- GA 303. S. 127f
  12. ibid., S. 131
  13. Es gibt nur drei Erziehungsmittel: Furcht, Ehrgeiz und Liebe. Wir verzichten auf die beiden ersten … «vgl. den Martin Carle, „Furcht, Ehrgeiz und Liebe im Klassenzimmer“, in: Erziehungskunst Oktober 2019
  14. Rudolf Steiner.- Philosophie der Freiheit.- GA 4, S. 156
  15. ibid., S. 158
  16. ibid., S. 159

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